Gastautor / 23.06.2012 / 12:59 / 0 / Seite ausdrucken

Das Jerusalem-Syndrom der Linken

Eran Yardeni

Es widerfährt ihnen oft.  Von dem endlosen Wandern durch das Labyrinth des Geistes, dessen Engpässe und himmelhohe Wände das Finden jedes Orientierungspunkts unmöglich machen, werden ihre Glieder allmählich bleischwer und ihre sonst scharfen Sinne stumpf. Anstatt sich dem Ausgang zu nähern, rücken sie, hartnäckig und hochmütig, immer weiter ins Zentrum des Labyrinths. „Philotyrannen“ nannte der amerikanische Politikwissenschaftler Mark Lilla die vielleicht berühmteste Abspaltung dieser mysteriösen Wandersekte, die im Laufe des 20. Jahrhunderts in der Mitte Europas ein beispielloses verwickeltes Labyrinth errichtet hatte, in dessen engen Gassen sie nicht nur ihres Menschenverstands sondern vor allem ihres moralischen Kompasses beraubt wurden. Ihre Motive sind bis heute geheimnisvoll geblieben, ihre Namen hingegen sind uns alle wohl bekannt. In diesem Milieu verkehrten Denker wie Carl Schmitt, Martin Heidegger, Michel Foucault und Jacques Derrida. Nur im Zentrum des Labyrinths, in der dunkelsten Ecke des menschlichen Daseins, wo Himmelrichtungen an Bedeutung und Sinn verlieren, kann ein Existenzialist zum Nationalsozialist und ein Humanist zum Befürworter der islamischen Revolution in Iran werden.

Aber warum? Welche Gefahren lauern da auf sie, in der Dämmerzone des Verstands? Von welchen Kräften fühlten sie sich angezogen? Warum fügten sie sich ihrem Schicksal widerstandlos? Die Lösung des Rätsels sieht Mark Lilla im platonischen Eros. Seine Hauptidee fasst Manfred B. Steger folgendes zusammen: „Philotyrannische Intellektuelle wie Heidegger und Foucault litten unter einer Überfülle von Eros - der Kraft, die sie von vornherein zur Philosophie zog. Unfähig die exzessive erotische Sehnsucht ihrer Seelen zu beherrschen, fanden sich diese unglücklichen Lebewesen im Bann einer “glückseligen Art von Wahnsinn”, der sich in ihrer “rücksichtslosen Leidenschaft” manifestiert, “das öffentliche Leben als Lehrer, Oratoren und Berater für Herrscher zu beeinflussen“ (Logos, Winter 2002).

Dass Intellektuelle die niederträchtigsten Missetaten nur aus den erhabensten Motiven begehen, ist wohl bekannt. Dass für den Durchschnittsmenschen kein Motiv erhaben genug sein kann, um seine irdischen Verbrechen zu rechtfertigen, ist auch nicht neu. Nicht wegen der Romantisierung einer moralischen Dekadenz oder wegen seiner umstrittenen Neigung zur Psychologisierung soll Lilla kritisiert werden, sondern vor allem, weil er Intellektuelle aus der politischen Rechten und Intellektuelle aus der politischen Linken in einen Topf geworfen hatte. Die wichtigste und meiner Meinung nach auch die interessanteste Frage hat er dadurch außer Acht gelassen und zwar: Warum fühlen sich die Linksintellektuelle, damals wie heute, von bestimmter Art von Tyrannen angezogen während Rechtsintellektuelle zu einer anderen Art von Tyrannei neigen?

Allein durch politische Überlegungen ist diese Frage nicht zu beantworten, vor allem, weil jede politische Weltanschauung ihre Wurzeln in bestimmten ethischen Voraussetzungen hat, die wiederum aus Prämissen über die Natur des Menschen entspringen. Deshalb muss man die Antwort auf die oben genannte Frage nicht auf der politischen Ebene suchen, sondern viel tiefer, in den Grundsteinen der Ethik der jeweiligen Gruppen. Weil das Thema Rechtsextremismus so oft erörtert wurde, beschränkt sich dieser Text auf die Ethik der politischen Linken und auf auf Intellektuelle, die unverkennbar in die politische Szene eingriffen. Diese Ethik, wie später gezeigt wird, basiert auf einem ziemlich unzuverlässigen Erkenntnisinstrument, welches ein entstelltes, aber gleichzeitig auch konsistentes und leicht verständliches ethisches Weltbild liefert.

a) Sartre als Beispiel
Um Missverständnisse bezüglich seiner Philosophie zu klären, veröffentlichte 1946 der Ritter des Existentialismus, Jean-Paul Sartre, einEs seiner populärsten Werke: „Der Existentialismus ist ein Humanismus“. Vor dem Hintergrund der Gräueltaten des Zweiten Weltkriegs stieß die neue Strömung der Philosophie auf eine Menge Kritik, die dem Existentialismus, neben anderen Faktoren, den moralischen Bankrott Europas unterstellte. Interessanterweise stammte diese Kritik von den Federn unterschiedlicher Gruppen und Parteien, unter anderem von Marxisten und Katholiken, die sonst keinen gemeinsamen Nenner hatten.

Liest man diesen klar geschriebenen und mit zahlreichen Beispielen dekorierten Text, kann man kaum verstehen, wie es dazu kam, dass der Autor eines solchen Freiheitsmanifests gleichzeitig auch ein kommunistischer Sympathisant war. Wie wir aber später sehen, bildet diese Kluft zwischen philosophischen Ideen und den daraus abzuleitenden politischen KonsequenZen, einEs der deutlichen Merkmale der politischen Linken.

Das Leitmotiv in Sartres Essay ist die existentiale Freiheit des Menschen. Diese Art von Freiheit unterscheidet sich von dem uns bekannten Begriff dadurch, dass man der Ersteren nicht entgehen kann, auch wenn man will. Der Mensch, nach Sartre, „ist dazu verurteilt, frei zu sein“. Die Freiheit wird so zum permanenten Zustand. Jede Entscheidung, die wir treffen, entspringt diesem existentialen Freiheitszustand. Sogar in der äußersten Situationen der angeblichen Freiheitsberaubung, wie z.B. am Galgen Sekunden vor dem unvermeidbaren Tod, ist der Mensch frei oder besser gesagt frei genug, um durch sein Handeln sein Dasein zu gestalten. Dem Tod kann man schweigsam oder protestierend, mit diesen oder jenen Gedanken entgegentreten.

Diese radikale Auffassung des Freiheitsbegriffs leitet sich aus ein paar metaphysischen Prämissen ab, die vielleicht kein Existentialist als metaphysisch bezeichnen würde.

Insbesondere die Frage nach der Existenz Gottes und die logischen Folgen einer atheistischen Einstellung spielen hier eine zentrale Rolle: „Der atheistische Existentialismus, für den ich stehe“, schreibt Sartre, „ist zusammenhängender. Er erklärt, dass, wenn Gott nicht existiert, es mindestens ein Wesen gibt, bei dem die Existenz der Essenz vorausgeht, ein Wesen, das existiert, bevor es durch irgendeinen Begriff definiert werden kann, und dass dieses Wesen der Mensch oder, wie Heidegger sagt, die menschliche Wirklichkeit ist. Was bedeutet hier, dass die Existenz der Essenz vorausgeht? Es bedeutet, dass der Mensch zuerst existiert, sich begegnet, in der Welt auftaucht und sich danach definiert“. 

Sartre ist klug und erfahren genug, um die Beweisführung des Atheismus zu vermeiden. Er setzt ihn einfach als Prämisse voraus. Eigentlich richtete Sartre seine Worte nicht nur gegen die religiöse Auslegung des Gottesbegriffs sondern gegen jedes metaphysische Wesen und gegen jede metaphysische Form, wie z.B. die Natur des Menschen, die das Wesen des Menschen a priori definiert. Nur das Individuum kann durch Handeln seiner eigenen Existenz eine Bedeutung verleihen.

Auf dieser Basis baut Sartre seinen Freiheitsbegriff auf. Wenn Gott nicht mehr existiert, wenn keine andere metaphysische Autorität das Wesen des Menschen a priori bestimmen oder definieren kann, wird der Mensch selbst, besser gesagt – jedes Individuum, zu der höchsten und letzten moralischen Instanz. Das ist Freiheit im vollen Sinn des Worts, indem der Mensch selbst zu dem alleinigen und einzigen Gesetzgeber wird. Dieser permanente Freiheitszustand, behauptet Sartre, bringt mit sich auch permanente Furcht und permanente Angst. Ohne Gott verliert der Mensch seinen moralischen und erkenntnistheoretischen Kompass. Er weiß nicht mehr, wer er ist und wie er handeln soll.

Von nun an kann nur er die grundsätzlichsten Fragen der menschlichen Existenz beantworten. Unter solchen Umständen kann man Fehlentscheidungen nicht mehr mit Begriffen wie „Schicksal“ oder Gottes Willen“ rechtfertigen. Deshalb ist es kein Wunder, dass das menschliche Handeln vom permanenten Angstgefühl begleitet ist. Diese Angst aber, genau wie vorher die Freiheit, ist nicht mit der gebräuchlichen und alltäglichen Nutzung des Wortes zu verwechseln. Die Sartresche Angst hat seine Wurzeln in der Verschwundenheit Gottes, die der Mensch zum Herrn seines Schicksals machte. 
 
Die Folgen eines solchen Zustands sind für den Menschen natürlich verheerend, vor allem weil er die Verantwortung für seine Lebenssituation keinem anderen zuschieben kann. Gravierender sind aber die Konsequenten dieses Zustands für die Terminologie der politischen Linken und vor allem, um ein Beispiel zu nennen, für die verbale Tradition eines ihrer modernen Propheten, Rudi Dutschke: Wenn der Mensch zur Freiheit verurteilt ist, so dass er sich von dieser Freiheit und von der damit verknüpften Verantwortung nicht abwenden kann, werden dadurch die politischen Linken ihres so beliebten „Objekt“-Begriffs beraubt. Das folgende Beispiel kann vielleicht zeigen, was ein solcher philosophischer Wandel für ihr Weltbild bedeuten könnte:

Bei einem Symposium in der Universität Hamburg (1967) thematisierte Rudi Dutschke die gesellschaftliche Rolle der Wissenschaftler: „Als Wissenschaftler haben wir die Aufgabe, diesen Prozess der Selbstbefreiung des Menschen von den unbegriffenen Mächten zu forcieren und uns nicht zu Objekten anderer Mächte der Gesellschaft zu machen“. Versucht man dieses Zitat durch die existentialistische Brille Sartres zu verstehen, stoßt man auf ein paar konzeptuelle Schwierigkeiten. Warum, z.B., soll sich der Mensch befreien, wenn er von vornherein zur Freiheit verurteilt ist? Wie kann ein Selbstbefreiungsprozess forciert werden? Darf man unter bestimmten Umständen einen Anderen zwingen sich selbst zu befreien?

Wenn ja, was für einen Wert hat eine solche gezwungene Befreiung? Ist das überhaupt eine Befreiung? Wie kann es sein, dass ein zur Freiheit verurteiltes Wesen zum Objekt werden kann? Und wenn man wirklich zum Objekt wird, welche Verantwortung, wenn überhaupt, sollen wir von ihm, in einem solchen elenden Zustand, verlangen?

Die immer intellektuell klingenden Parolen von Dutschke, vor allem wenn sie mit heiserer Stimme gesungen wurden, entlarven, wie die politische Linke tickt. Trotz der unterschiedlichen Abspaltungen, Strömungen und Schulen kann man doch über eine generelle linke Grundvorstellung des menschlichen Daseins sprechen, die mit dem hier erörterten Text von Sartre nicht in Einklang zu bringen ist.

Der Kosmos der politischen Linken besteht aus drei Gruppen: Manipulierenden, Manipulierten und dem Club der Befreier. Sehr interessant sind vor allem die Beziehungen zwischen den beiden Letzteren. Die Manipulierten wissen meistens nicht, dass sie manipuliert werden. Sie sind Objekte, die von den großen Mächten ausgenutzt und ausgebeutet werden. Der erhabene Club der Befreier ist ihr Gegenbild. Erhabene Geschöpfe wie Dutschke, Castro, Chavez, Tse-Tung und Gudrun Ensslin wussten immer besser als die Manipulierten, was für diese unterdrückte Schicht gut ist. Die Befreier sind die Subjekte. Ob die Ausgebeuteten sich ihre Hilfe überhaupt wünschen, ist ihnen völlig wurscht, weil diese, als Objekte, sowieso nicht kapieren wollen und können, was mit ihnen los ist. Dass sie dadurch, genau wie die Manipulierenden, die Manipulierten als Objekte behandeln, scheint die Mitglieder des erhabenen Clubs der Befreier nicht zu stören.

Dass dieses gesellschaftliche Weltbild ein bisschen entstellt ist, dass vielleicht nicht so viele Menschen in der Bundesrepublik Deutschland von gewissenlosen kapitalistischen Raubtieren gefressen werden, wie man glauben mag, zeigt der elende politische Zustand der Linken. Die politische Linke würde es natürlich anders auslegen und zwar als Beweis für das falsche Bewusstsein der Massen. Aber genau diese Interpretation entlarvt ihren politischen und gesellschaftlichen Patronismus. 
 
Angenommen, dass die oben genannte Beschreibung der linken Weltvorstellung nicht ganz realitätsfremd sei, wenn auch doch ein bisschen karikaturisiert wurde, warum denn fühlte sich der größte und berühmteste Prophet der Freiheit von einer solchen politischen Ideologie angezogen, die bestimmten Schichten der Gesellschaft die Last der Verantwortung für ihren Lebenszustand fast ganz abnimmt? Führen die Ideen des Existentialismus eigentlich nicht eher in die Richtung der zynischsten Version des amerikanischen Traums als in den Schoß der politischen Linke? Ein Rätsel.

Zu seiner Verteidigung muss aber gesagt werden, dass Sartre mit dem Stalinismus ziemlich kritisch umging. Liest man aber sein Interview im Spiegel (19.6.1972), lernt man sehr schnell, wie tief dieser Denker in der Tradition des linken Patronismus verankert war. Als er gefragt wurde, was er mit dem Satz “das Volk muss geschaffen werden” meinte, antwortete der Philosoph: „Volk nenne ich die Gesamtheit der Franzosen, das heißt die große Mehrheit, die 95 Prozent, die nach Freiheit, dem Ende der Unterdrückung, einer anderen Gesellschaft verlangen. Aber bevor wir es mit dieser neuen Gesellschaft, dem Sozialismus, dem Kommunismus—nicht dem UdSSR-Kommunismus—zu tun haben, gibt es die Vereinigung von Aktionsgruppen, die sich erweitern, und das ist dann das Volk. Es gibt heute kein Volk. Aber alle Elemente sind gegeben. um daraus ein Volk zu machen. Es muss also geschaffen werden. Es existiert heute vielleicht in einer Fabrik während eines Streiks: Dort repräsentiert eine Gruppe also das Volk.“

Was lernen wir daraus? Das Volk, nach Sartre, besteht aus denjenigen die nach einer anderen Gesellschaftsordnung streben. Die anderen, die mit ihrem Leben zufrieden sind, die keine starke Neigung zeigten, ihnen nicht gehörende und leer stehende Wohnungen zu besetzen (diese Aktion hat Sartre gerechtfertigt), bleiben draußen vor der Tür. Über die potentiellen Formen der künftigen neuen gesellschaftlichen Ordnung wissen wir, dass das Volk zwischen Sozialismus und Kommunismus entscheiden soll.  Zusätzlich erfahren wir, dass das Volk überhaupt noch nicht existiere und dass die alleinigen authentischen Repräsentanten dieses noch nicht existierten Volks, die streikenden Arbeiter sind. Viva la Revolution!

b) Auf der Internationalen Ebene
Bei ca. 90 Pilgern pro Jahr erweckt der Besuch Jerusalems Wahnvorstellungen. Diese psychische Störung ist weltweit unter dem Namen “Jerusalem-Syndrom” bekannt. In vielen Fällen halten sich die Betroffenen für heilige Figuren und verlieren dabei ihren sonst gesunden Verstand. Bei wie vielen Linksdenkern und Linksaktivisten aber die Namen Israel und USA oder Schlüsselwörter wie „Kuba“ und „Imperialismus“ politische Wahnvorstellungen oder akute moralische Verwirrungen erwecken, das wissen wir nicht. Wie viele von ihnen sich für die alleinigen Vertreter der Moral auf dieser Erde halten, ist leider unbekannt. Ich schätze aber, dass ihre jährliche Anzahl mehr als 90 beträgt. Ein kleiner Vorfall, vor etwa einem Jahr, kann vielleicht besser darstellen, welche bizarre Form das Linken-Syndrom annehmen kann.

Anlässlich seines 85. Geburtstags schickten am 13. August 2011 die Genossin Gesine Lötzsch und der Genosse Klaus Ernst einen Brief an den Genossen Fidel Castro. Und so gratulierte die ehemalige Linke-Führung dem kubanischen Aufklärer:

„Im Namen der Partei DIE LINKE übermitteln wir Dir anlässlich Deines 85. Geburtstages unsere herzlichsten Glückwünsche. Du kannst voller Stolz auf ein kampferfülltes Leben und erfolgreiches Wirken an der Spitze der kubanischen Revolution zurückblicken. Die Errungenschaften des sozialistischen Kuba mit seiner Beispielwirkung für so viele Völker der Welt werden immer und zuerst mit Deinem Namen verbunden sein. Unter deiner Führung hat es Kuba verstanden, für mehr als fünf Jahrzehnte dem Druck und der Blockade der USA zu widerstehen, an seinen Idealen festzuhalten und eine neue gesellschaftliche Entwicklung einzuleiten, die dem kubanischen Volk für Lateinamerika beispiellose soziale Errungenschaften in Bildung, Wissenschaft und Kultur, im Gesundheitswesen und Sport und in vielen weiteren Bereichen gebracht hat. Kuba war und ist auf diese Weise Beispiel und Orientierungspunkt für viele Völker der Welt“.

Na, ja. Würde ein Jerusalempilger behaupten, dass er die Jungfrau Maria selbst sei, würde er höchstwahrscheinlich in die Kfar-Shaul Klinik eingewiesen. In Deutschland hingegen scheint manchmal ein politischer Realitätsverlust eine Vorbedingung für eine politische Führungsrolle zu sein. Wer Castro für die Errungenschaften Kubas „in Bildung, Wissenschaft und Kultur, im Gesundheitswesen und Sport und in vielen weiteren Bereichen“ feiert und seinen Widerstand den USA gegenüber lobt, aber gleichzeitig von Menschenrechtsverletzungen, von einem diktatorischen System und von Zehntausenden Flüchtlingen nichts wisse will, der sollte überlegen, ob es wirklich die Jungfrau Maria war, die mit ihm gesprochen hat, oder vielleicht doch nur die nette Nachbarin aus dem zweiten Stock.

Dieser Brief bildet ein charakteristisches Beispiel für das Linken-Syndrom - vor allem weil er so peinlich, lächerlich und nicht ernst zu nehmen ist, genau wie verwirrte Pilger, die behaupten, die Arche-Noah gebaut zu haben. Dadurch kann man auch erklären, warum sich die relativ an der Wirklichkeit orientierten Linken-Politiker von diesem Glückwunschbrief distanziert haben. In einem Interview am 30. Mai 2012 (n-tv) wurde Katja Kipping gefragt, ob sie auch an Herrn Castro Glückwünsch-Telegramme schreiben würde. Darauf erwiderte die junge Politikerin: „Sprachlich war dieser letzte Brief wirklich eine Katastrophe. Ich werde mich dafür einsetzen, dass solche Peinlichkeiten nicht mehr passieren.“

Um die Blamage aber doch ein bisschen zu relativieren fügte sie hinzu: „Aber ich muss auch sagen, dass diese Debatte eine komische Gewichtung hatte. So war zum Beispiel auch das Schreiben, in dem Frau Merkel dem Premierminister Vietnams im vergangenen Jahr zur gewonnenen Wahl gratuliert hat, nicht frei von Peinlichkeiten. Dort gab es kein kritisches Wort zu Lage der Menschenrechte. Das hat aber öffentlich nie eine Rolle gespielt“. Vollkommen recht Frau Kipping, aber etwas haben Sie doch übersehen. Frau Merkel kann man noch einen gesunden Zynismus unterstellen, vor allem wenn sie im Namen ihrer Realpolitik bestimmte autoritäre Herrscher zu ihrer Wiederwahl herzlich begrüßt. Dieses Privileg aber genießt die politischen Linke nicht, und die Frage ist natürlich warum. Die deutsche Bevölkerung ist vielleicht fest davon überzeugt, dass diese peinliche politische Unklugheit der Linken authentisch und ehrlich war. Eine ehrliche Dummheit, Frau Kipping, ist unbedingt schlimmer als eine kluge Heuchelei.

Diese politische Bauchlandung war nicht die einzige, die man mit dem Linken-Syndrom erklären kann. Ein anders Beispiel liefern uns drei andere Genossen, die im Namen des Humanismus und der Menschenrechte, bewusst oder unbewusst, absichtlich oder nicht, einer der schlimmsten Terrororganisationen im Nahen Osten einen enormen politischen und moralischen Schub gaben.
   
Die Linke Politiker und Denker Norman Paech, Inge Höger und Annette Groth wollten, genau wie die Jerusalempilger, nur Gutes tun, als sie im Mai 2010 eine „Solidaritätsflotte“ bestiegen und, umgeben von Friedensstiftern, die der Islamwissenschaftler Michael Kiefer in einem Interview für „Das Erste“ (7.6.2010) als „keine normalen Friedensaktivisten“ bezeichnete, Richtung Gaza aufbrachen. Der Anlass war nicht der ständige und damals schon etwa 8 Jahre andauernde Raketenangriff der Hamas auf die israelische Zivilbevölkerung und, unter anderem, auch auf das Kraftwerk in Ashkelon, welches Gaza mit Strom besorgt. Auch die Gefangenschaft des israelischen Soldaten Gilad Shalit, dem die Hamas jeden Besuch eines Vertreters des Internationalen Rotkreuzes verwehrte, schien den Baronen der Menschenrechte nicht wichtig genug zu sein, um eine „Solidaritätsflotte“ nach Gaza zu schicken.

In fast jeder Zeitung konnte man auch lesen, wie erbarmungslos die Organisatoren des Konvois die Bitte von Shalits Eltern, über die Flotte einen Brief und Lebensmittel an den gefangenen Sohn zu schicken, ablehnten (Haaretz; Die Welt). Die Beteiligten ließen sich aber von solchen Nebensächlichkeiten nicht beirren.
 
Rückblickend scheint diese Aktion heute genau so peinlich zu sein, wie später das Glückwunsch-Telegramm der GenossInnen Ernst und Lötzsch. Auch in diesem Fall lohnt es sich zu hören, was die relativ vernünftigen Stimmen der Linke darüber zu sagen haben. Unter dem Titel „Keine Bündnisse mit Kriegstreibern“ äußerte sich zu diesem Thema die heutigen Parteivorsitzende Katja Kipping (Neues Deutschland, 25.6.2011): „Israel von der Landkarte streichen – das war das Ziel mehrerer Teilnehmenden der ersten Gaza-Flotille. Eine der treibenden Kräfte der Flottille ist die islamistische Organisation IHH. IHH-Chef Bülent Yildirim sprach offen Israel das Existenzrecht ab: »Wir haben keine Probleme mit Juden, aber wir haben ein Problem mit einem Platz. Unser Problem ist der Zionismus, der wie ein Virus die Menschheit befallen hat.« Bei der Abfahrt wurden von diesen Gruppierungen antisemitische Gesänge angestimmt. Das ist unerträglich. Es darf keine zweite Beteiligung von LINKEN an solchen Bündnissen geben. Das Motto lautet: Augen auf bei der Bündnispolitik!“. Das Linken-Syndrom, wie diese Zeilen zeigen, überfällt nicht alle Linke. Katja Kipping weiß, was auch Paech, Höger und Groth wissen konnten, wenn sie nur wissen wollten.

Wie in einem hollywoodischen Horrorfilm kommt auch hier das Schlimmste erst am Ende. Die Pressekonferenz nach der Heimkehr der aufgeklärten Helden war vielleicht einer der peinlichsten Momente in dem relativ kurzen Leben der Links-Partei. Als Erste betrat die Bühne die Genossin Lötzsch. Seinen Arm fassend schleppte sie hinter sich den Genossen Paech, der auf der Kleidung etwas getragen hatte, das wie ein Handtuch oder ein Bademantel aussah; später aber stellte sich heraus, dass es eine Decke war, die der Menschenrechtler von der israelischen Fluggesellschaft El-Al bekommen hatte, weil „die Navy mir nur T-Shirt und Hose gelassen hat“.

Nach Pech betraten die beiden anderen Heldinnen die Bühne, Inge Höger mit einem schwarzen T-Shirt, auf dem etwas auf Arabisch stand und hinter ihr die Genossin Groth. Während jede vernünftige Parteiführung versuchen würde, die Beteiligung einige ihrer Mitglieder in einer solchen „friedlichen Hilfsflotte“ zu verschweigen oder sich von ihnen wenigstens zu distanzieren, war bei den Linken die Rückkehr der drei Menschenrechtesüchtigen ein Anlass zum Feiern.

Die Genossin Lötzsch setzte eine mitleiderregende Miene auf und erzählte uns, wie stolz die Fraktion auf den mutigen Einsatz der Drei sei. Die Aktion der israelischen Armee hingegen, die vor dem Wanderzirkus angeblicher Friedenaktivisten nicht einknicken wollte, bezeichnete sie als Verbrechen, welches aufgeklärt werden soll. Und ich dachte immer, dass die Reihenfolge umgekehrt sein sollte, dass erstens aufgeklärt werden sollte, eher man einen militärischen Einsatz als Verbrechen brandmarkt. Bei den Linken aber kann auch die Elbe rückwärts strömen.

Danach wurden die Helden mit Blumensträußen begrüßt und ergriffen Wort. Die verbale Odyssee begann mit Inge Höger, die weiterhin darauf bestand, dass „wir alle zum friedlichen Zweck auf diesen Schiffen gewesen waren“ und dass „niemand eine Waffe hatte“. Ich weiß nicht was die Genossin Höger unter Waffe versteht, höchstwahrscheinlich gelten für sie allerlei Arten von Messern, Schleudern, die mit der Schrift Hisbollah dekoriert wurden, Äxten und Eisenstangen nicht als Waffen. Wie gewalttätig Friedenaktivisten sein können, wenn man sie nicht in Frieden lässt, haben viele Filmabschnitte gezeigt.

In diesem Zusammenhang lohnt es sich einen kurzen Blick auf die Internetseite von der Genossin Höger zu werfen. Am 19. Juli 2011 veröffentlichte die tüchtige Politikerin ein lesenswertes Dokument, gekrönt mit dem Titel: „Frieden für Israel und Palästina - Für eine konstruktive Nahostpolitik“. Wenig, wenn überhaupt, ist da über den palästinensischen Beitrag zu dem Konflikt zu lesen, vor allem über die nicht zu übersehende Tatsache, dass in Gaza eine Terrororganisation herrscht, die die Anerkennung Israels kategorisch ablehnt.

Verblüffend aber sind vor allem die folgenden zwei Punkte, die unter dem Titel „abzulehnen sind“ gelistet werden: „Eine religiöse Interpretation von Konflikten. Besonders im Nahostkonflikt wird Religion zur Irreführung und zur Ablenkung von den wirklichen Konfliktursachen – Kolonialismus und Imperialismus – missbraucht. Auch wenn viele oder gar alle Gesellschaften auf die eine oder andere Weise auch religiös geprägt sind, profitieren von einer religiösen Interpretation von Konflikten einzig und allein rechte und reaktionäre Kräfte.”

„Die Bagatellisierung des Antisemitismusvorwurfs durch seine instrumentalisierende Anwendung auf Kritik an der Politik des israelischen Staates, statt der Bekämpfung von Antisemitismus.“

Die Motivation ist ganz klar: Wenn man den Konflikt im Nahen Osten religiös interpretiert, kann man die Verantwortung der streng religiösen Hamas für die elende Situation sowohl der Palästinenser aus auch der Israelis nicht mehr übersehen. Interpretiert man aber den Konflikt nur durch die kolonialistische-imperialistische Brille, ist die Gewalt nur auf die Amerikaner und die Israelis zurückzuführen, die für viele Linke als Synonym für kulturellen Kolonialismus und für westlichen Imperialismus gelten. Dass diese Konfliktauffassung überholt ist, könnte sogar Gregor Gysi bestätigen, der in einem Vortrag auf der Veranstaltung “60 Jahre Israel” am 14. April 2008 diese Theorie kategorisch ablehnte („Der Begriff des Imperialismus trifft auf Israel auf jeden Fall nicht zu“).

Vor diesem Zusammenhang ist es nicht schwer zu verstehen, warum Höger den Antisemitismusvorwurf in dem politischen Kontext des Nahostkonflikts als Instrumentalisierung des Begriffs betrachtet. Die entlarvten Antisemiten können sich nicht mehr mit dem quasi-wissenschaftlichen theoretischen Antiimperialismus-Kostüm verkleiden. Genau dieses Kostüm aber hat sich als die effektivste Waffe gegen Israel bewährt.

Lassen Sie uns jetzt über Norman Paech, den dritten Redner, sprechen. Der kategorische Imperativ des ehemaligen Außenpolitischen Sprechers der Linken ist das Völkerrecht. Wie problematisch diesen moralischen Kompass sein kann, zeigt vor allem die dogmatische Einstellung Paechs gegen fast jede Art von Intervention, die mit der Uno-Charta nicht in Einklang zu bringen ist. Seine Angst, wie er sie in einem Gespräch mit Henryk M. Broder und Hamed Abdel-Samad schilderte („Entweder Broder – Deutschland Safari“), ist vor dem Chaos der Willkürlichkeit. So rechtfertigte er, in jenem Interview, auch seine damalige Position gegen jede Art von Intervention in Jugoslawienkrieg, eine politische Gleichgültigkeit, die Tausende von Menschen mit ihrem Leben bezahlen müssten.

Die Krux daran aber ist nicht nur die Aufopferung der Menschheit auf dem Altar der juristischen Legitimation sondern die selektive Wahrnehmung von rechtwidrigem Handeln. Würde Paech die Verletzung von Menschenrechten systematisch und konsequent bekämpfen, müsste er heute schon eine zweite Flotte ausrüsten, um gegen die menschenrechtwidrige Politik der Hamas zu protestieren, der sowohl Israelis als auch Palästinenser täglich zum Opfer fallen. Dass ausgerechnet diese blutsüchtige Organisation von der „Solidaritätsflotte“ am meisten profitierte, soll nicht als die Ironie des Schicksals betrachtet werden, sondern eher als die Tragödie der Moral.

c) Warum?
Auf seiner Startseite zitiert Norman Paech den französischen Philosophen Jean-Jacques Rousseau: „Zwischen dem Schwachen und dem Starken ist es die Freiheit, die unterdrückt, und das Gesetz, das befreit.“ Möchte man das Linken-Syndrom verstehen, darf man dieses Zitat nicht außer Acht lassen. Die Kategorien „Schwach“ und „Stark“ sind das politische Sehorgan vieler Linken. Sie helfen ihnen in die chaotische Realität Ordnung zu bringen. Von daher würde ich vorschlagen, den Brief an Castro sowie die Beteiligung an der „Solidaritätsflotte“ nicht mit moralischen Kategorien zu bewerten, sondern eher als albern, kindisch und unreif zu sehen.

Das Problem liegt aber nicht in dieser kindischen Neigung, die unter bestimmten Umständen auch harmlos bleiben kann, sondern in der Neigung der Linken. schwach mit gut und stark mit schlecht zu verwechseln. Diese Verwechslung macht das Erkenntnisinstrument der politischen Linke ziemlich unzuverlässig.

Wie kommt es aber dazu? Was könnte eine solche moralische Verwirrung verursachen? Der Prototyp der Identifizierung von schwach mit gut und von stark mit böse findet man in dem Archemythos von David und Goliath. Kinder benötigen solche Mythen, um die vor ihnen liegende Welt zu ordnen und zu klassifizieren. Das ist der Grund, warum fast jeder Kinderfilm, in dem zwei Figuren oder zwei Gruppen gegeneinander kämpfen, genau nach diesem Muster gemacht wird. Die Guten sind fast immer schwach und die Bösen immer stark. Überträgt man aber diese alberne Weltanschauung in die nationale und internationale politische Arena, gerät man in einen moralischen Bankrott.

Wie kann man anders erklären, warum deutsche Sozialisten bessere Beziehungen mit den schlimmsten Despoten im Nahen Osten haben als mit dem einzigen demokratischen Staat, der auch viele sozialistische Merkmale trägt?

Die Krux daran ist die Verantwortungslosigkeit, die dieser albernen Ethik zugrunde liegt. Viele Linksaktivisten haben kein Problem Despoten zu unterstützen, solange sie unter ihrer Herrschaft nicht leben müssen. Das war unter anderem der Grund, warum während der Nazizeit so viele Linksintellektuelle ihr Exil in den USA verbrachten und nicht in der Sowjetunion. Das ist auch der Grund, warum sich Foucault von der iranischen Revolution begeistern ließ. Als Homosexueller musste er die sexuelle Unterdrückung der Ayatollah nicht persönlich erleben.

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