Gastautor / 24.01.2016 / 06:30 / 2 / Seite ausdrucken

Das Antidepressivum zum Sonntag (7)

Archi W. Bechlenberg über atmosphärischen Klang, das Vibraphon und seine Virtuosen

Ich werde 13 oder 14 Jahre alt gewesen sein, da schenkte mir ein Onkel aus Stuttgart eine Langspielplatte, die „Von New Orleans bis New York hieß“, oder so ähnlich. Der Onkel wusste, dass ich ganz entgegengesetzt der zu dieser Zeit bei Jugendlichen beliebten Musik von Hendrix, Santana oder Dylan gerne Jazz hörte. Und da sich meine Kenntnisse über diese Musikrichtung kaum weiter als auf Louis Armstrong oder Oscar Peterson erstreckten, war diese Platte eine wahre Offenbarung, kam ich doch durch sie mit weiteren Musikern wie Bix Beiderbecke, Coleman Hawkins, Duke Ellington und Benny Goodman in nähere Bekanntschaft.

Das letzte Stück der LP  fiel völlig aus dem Rahmen der ansonsten recht zahmen Stücke. Es war das „52nd Street Theme“, komponiert von dem damals 23jährigen Pianogenie Thelonius Monk und 1946  eingespielt von einer Band rund um den Trompeter Dizzie Gillespie. Etwas derartiges hatte ich noch nie gehört, und es brauchte einige Male des Abspielens, bis ich in das Stück und seinen Stil – es war der Bebop – eintauchen konnte. Seither bin ich nie mehr daraus aufgetaucht.

Neben dem für meine damaligen Ohren bizarren Thema des 32 Takte umfassenden Stücks faszinierte mich vor allem die Virtousität der Musiker in ihren jeweiligen, leider nur kurzen Soli; mehr als knapp 3 Minuten passten nun einmal nicht auf eine Plattenseite. Eine Trompete wie die von Dizzy war mir noch nie zu Ohren gekommen, das Saxophon von Don Byas besitzt einen unaufhaltsamen Drive, ebenso sehr wie die Gitarre von Bill De Arango, das außer Rand und Band geratene Schlagzeug von J. C. Heard, der (am Ende gestrichene, wie eine betrunkene Hummel klingende) Bass des großen Ray Brown sowie die perkussive, sparsame Unterstützung am Piano durch Al Haig, der als einziger nicht mit einem Solo vertreten ist.

Am meisten beeindruckte mich allerdings der das Septett vervollständigende Vibraphonist Milt Jackson, und ich konnte seine nur wenige Sekunden dauernde Solopassage gar nicht oft genug wiederholen. Für  meinen in den 1960er Jahren  sehr angesagten Cassettenrekorder kopierte ich Jacksons Solo so oft hintereinander, dass es eine ganze Bandseite füllte. Und natürlich sah ich mich im Plattenladen nach 30 cm Platten Jacksons um. Von diesem Musiker und seinem Instrument konnte ich nicht genug bekommen. Bis heute lege ich immer wieder meine damals erschienen Alben auf, darunter Platten mit John Coltrane, Miles Davis, Quincy Jones und natürlich dem Modern Jazz Quintett, also der Combo, mit der Jackson weltweite Erfolge feierte, nicht zuletzt, weil das MJQ Jazz von hohem, künstlerischen Niveau machte, der breitentauglich war und niemandem weh tat (außer vielleicht der Jazzpolizei). Man nennt diese Richtung des Jazz „Third Stream“; er stellt eine (meist, aber nicht immer) gelungene Synthese aus Elementen von Jazz und Klassik dar. Das MJQ war der wohl wichtigste Wegbereiter dieser Spielart.

Die Zahl der Vibraphonisten im Jazz ist überschaubar, das Instrument ist zwar in der Musikwelt durchaus populär, aber eher im Easy Listening Bereich zu finden. Vor Milt Jackson wurden im Jazz insbesondere Red Norvo sowie Lionel Hampton bekannt. Mike Mainieri, Gary Burton, Cal Tjader und Bobby Hutcherson sind weitere international renommierte Größen; später traten Dave Pike und in heutiger Zeit der großartige, vielseitige und höchst virtuose Joe Locke in Erscheinung. Und auch Deutschland hat einen Viberaphonisten von Weltrang zu bieten, den Augsburger Wolfgang  Lackerschmid (*1956). Der spielte bereits Ende der 1970er Jahre einige sehr schöne Duo-Aufnahmen mit dem Trompeter Chet Baker ein. Seitdem hat er sich einen untadeligen Ruf als Instrumentalist, Band- und Co-Leader, mit seinem Ensemble Lebende Kammermusik und nicht zuletzt als Komponist für unter anderem Theater, Film und Fernsehen erworben. Auch Ballettmusiken und Chorwerke entstammen Lackerschmids musikalischer Vielseitigkeit, die sich sehr schön beim Hören seiner Platten als Leader oder Sideman erschließt. Darunter findet man Alben mit afrikanischen Musikern, mit internationalen Jazzgrößen wie Slide Hampton, Lynne Arriale und Attila Zoller sowie - auf einer der aktuellsten CDs - vertonte Gedichte des Malerfürsten Markus Lüpertz, die Lackerschmid zusammen mit seiner Frau, der Sängerin Stefanie Schlesinger produziert und eingespielt hat. Gut möglich, dass Sie schon des öfteren, auch ohne es zu wissen, Musik von Wolfgang Lackerschmid gehört haben – selbst für die Augsburger Puppenkiste hat er bereits komponiert.

 

Dizzy Gillespie Septett: 52nd Street Theme

Lucky Thompson - Milt Jackson Quintet 1956 - Fred's Mood

Chet Baker with Wolfgang Lackerschmid - Blue Bossa

Stefanie Schlesinger / Wolfgang Lackerschmid – Herzschmerz (Gedichte von Markus Lüpertz)

Website von Wolfgang Lackerschmid: http://www.lackerschmid.de/

 

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peter luetgendorf / 25.01.2016

Sehr geehrter Herr Bechlenberg, was war daran falsch? “Der Onkel wusste, dass ich ganz entgegengesetzt der zu dieser Zeit bei Jugendlichen beliebten Musik von Hendrix, Santana oder Dylan gerne Jazz hörte.” Was für eine furchtbare Arroganz. Klingt wie die “Reichsmusikkammer”. Aber gut, alle, die wir seit 50 Jahren die falsche Musik hören (schon mal was von Chick Corea gehört?) müssen jetzt in dumpfer Verblödung darauf hoffen, irgendwann erleuchtet zu werden. Was sagen Sie denn so zu Charlie Parker? Ist wahrscheinlich zu aufregend und ungeregelt und der kann auch noch so schnell spielen. Und wie konnte ich mir jemals “Weather Report” anhören? Abartiges jazz und artfremdes Gedudele. Vielen Dank für Ihren erhellenden Beitrag. Gruß Peter Lütgendorf für Sie. Kann zu Synapsenabrissen .

Christoph Behrends / 24.01.2016

Ein Antidepressivum, in der Tat. Vielen Dank! Vielleicht mögen Sie einmal in folgenden Titel hineinhören, der dem angesprochenen Titel von T. Monk ein musikalisches Denkmal setzt: Michael Franks, Monk’s New Tune auf dem Album Dragonfly Summer (etwa bei iTunes).

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