Manfred Haferburg / 20.05.2020 / 06:06 / Foto: Remi Jouan / 84 / Seite ausdrucken

Corona: Wie der Staat die Franzosen gegen sich aufbringt

Wenn man in die Pariser Metro steigt, dauert es nur wenige Minuten, bis man die Ansage in fünf Sprachen hören kann: „Im Zug befinden sich Taschendiebe, seien Sie auf der Hut“. Das geht seit vielen Jahren so. Es handelt sich bei den „Pick-Pockets“ um „osteuropäische Banden“. Eine kleine Menschengruppe, derer der Staat nicht Herr werden kann, so hört man gelegentlich in den Medien.

Ich habe sie schon oft agieren sehen. Es sind meist sehr junge Mädchen, die professionell im Team arbeiten. Zwei, drei, lenken das Opfer durch Drängeln und Anrempeln ab, eine greift in die Tasche und gibt das gestohlene Portemonnaie sofort an eine Andere weiter, die sich damit aus dem Staub macht. An der nächsten Station steigt die ganze Gruppe aus, um auf den nächsten Zug zu warten. Es handelt sich um organisierte Kriminalität.

Ich habe auch schon gesehen, wie die Polizei, zusammen mit dem Metrosicherheitsdienst, so eine ganze Bande festnahm, weil sie auf frischer Tat ertappt wurden. Grinsend standen die Mädchen, von den Sicherheitskräften umringt, und warteten auf den Abtransport ins Revier. Sie wissen genau, dass sie nach ein paar Stunden wieder frei sind. Sie sind nämlich nach eigenen Angaben alle minderjährig. Ausweispapiere haben sie nicht. Und so muss die Polizei sie wieder laufen lassen. 

Die Opfer sind meist Touristen. Die haben keinerlei Chance gegen die Profidiebe. Aber auch vieler meiner französischen Freunde wurden schon beklaut. Die Diebe sind so geschickt, dass sie einzelne Geldscheine aus Hosentaschen stehlen können. Einem deutschen Besucher, der nicht auf meine Warnung gehört hatte, haben sie einen 500-Euro-Schein aus der hinteren Jeanstasche gezogen, ohne dass er das merkte. Aber wer nimmt schon einen 500-Euro-Schein in Paris mit – den wird man noch nicht mal in einer Bank los. Aber in der Metro schon.

Ein freundlicher Wachmann mit Maschinenpistole

Ich passte immer sehr auf, und es ging lange, lange gut. Nichts ist gefährlicher für die Sicherheit, als lange gehabter Erfolg. Zwei Wochen vor dem Corona-Lockdown erwischte es mich. Wir fuhren mit Freunden im 43er Bus und unterhielten uns, als die „Gruppe“ einstieg. Ich hatte sie im Auge, witterte aber keine Gefahr für mich. Ein paar Leute drängelten sich an mir vorbei und schon war mein Portemonnaie weg. Mit allen Papieren: Personalausweis, Gesundheitskarte, Führerschein, Kreditkarte und ein Geldbetrag. 

Was jetzt begann, wünscht man nicht mal seinem ärgsten Feind. Kreditkarte im Internet sperren, geht ja noch leicht. Eine Anzeige bei der Polizei ist die Voraussetzung für den Neuerwerb der gestohlenen Dokumente. Also pilgerte ich zum Kommissariat im Grand Palais auf der Champs-Elysées. Dort stand schon eine Schlange Gleichgesinnter. Ein freundlicher Wachmann mit Maschinenpistole erläuterte mir, dass ich mit vier Stunden Wartezeit rechnen müsse. Doch dann wäre die Dienststelle längst geschlossen. Also – morgen früh ganz zeitig, dann gibt es eine Chance. Natürlich war ich als Deutscher am nächsten Morgen lange vor Dienstbeginn der Erste und konnte mich freuen, wie sich erneut eine erhebliche Schlange formierte. Die Leute unterhielten sich – alle hatten das gleiche Problem wie ich. Das Kommissariat ist nur eines von ganz vielen in Paris.

Als ich dann von einem sehr freundlichen Beamten bedient wurde, verfluchte ich im Geiste die französische Regierung. Der winzige, total abgeranzte Büroverschlag war nur ein paar hundert Meter weit weg von der dekadenten Pracht des Regierungssitzes im Elysée-Palast. Wie behandelt der Staat eigentlich seine treuesten Diener? Als der Polizist nach dem Tatort fragte, konnte er die „Verdächtigen“ ganz von selbst benennen – Routine. Eine halbe Stunde später hatte ich mein Polizei-Papier, das den Diebstahl bestätigte – eine reine Formsache. 

Eine Woche später begann die Virologen-Panik. 

Corona erwischte mich kalt in Nizza. Am Abend war noch alles normal. Dann hielt Macron seine Ansprache: „Wir sind im Krieg“. Am nächsten Morgen waren wir im Krieg. Aber es war ein Krieg eines Virus gegen Recht und Freiheit, gegen die Normalität. Alles war geschlossen, und fast alles war plötzlich verboten. Der Rückflug nach Paris – zum Glück hatte ich noch meinen Pass – war gespenstisch. Und das war erst der Beginn einer noch gespenstischeren Zeit. 

Eine wütende Menschenmenge aus aller Herren Länder

Gegen die Taschendiebe war die französische Polizei viele, viele Jahre ohnmächtig. Doch plötzlich lernte ich, dass die französische Polizei sehr wohl effizient „geltende Regelungen“ durchsetzen kann, nämlich gegen die gesetzestreuen französischen Bürger.

Gegen alte Damen, die sich nicht an die komplizierten Passierscheinregeln halten konnten, wurden rabiate Geldstrafen verhängt. Joggern wurde nachgewiesen, dass sie sich 300 Meter zu weit von ihrem Wohnsitz entfernt hatten. Für einkaufende Hausfrauen wurden „zu viele Colaflaschen“ im Einkaufskorb zum Straftatbestand. Wer einen Wald- oder Feldweg betrat, wurde finanziell gemaßregelt. Millionen Kontrollen durch die Ordnungskräfte wurden plötzlich möglich, hunderttausende von Geldstrafen wurden verhängt. Die Franzosen kamen unter die Knute der Obrigkeit.

Derweil versuchte ich, meine lebenswichtigen Dokumente ersetzt zu bekommen. In Corona-Zeiten ist das jedoch Mission impossible. Keine Behörde außer der Polizei scheint zu funktionieren – auch die deutsche Botschaft nicht. 

In meiner Verzweiflung bin ich vor ein paar Tagen nichtsahnend zur Führerscheinstelle der Pariser Präfektur gepilgert – fünf Kilometer zu Fuß. Ich wusste ja nicht, dass sich im selben Gebäude auch die Pariser Asylantragsstelle befindet. Vor dem fest verschlossenen Gittertor hatte sich eine wütende Menschenmenge aus aller Herren Länder versammelt. Von der Einhaltung irgendwelcher Corona-Regeln konnte hier keine Rede sein. Von den hygienischen Zuständen des provisorischen Dauercamps vor dem staatlichen Gebäude am Boulevard Ney schweigt jedes Sängers Höflichkeit – so etwas hätte ich in Europa nicht für möglich gehalten. Es waren weit und breit keine Ordnungshüter zu sehen. 

Überhaupt, die hochgerüstete französische Staatsmacht konnte ja nicht mal auf die Notre Dame aufpassen. Jetzt jedoch kann sie auf teilweise irrsinnige Corona-Regeln aufpassen.

Ich halte es inzwischen für wahrscheinlich, dass die französische Polizei – wenn sie wegen irgendwelcher Vergehen von Ausländern an französischen Bürgern zu Hilfe gerufen wird – lieber mit Blaulicht und Martinshorn in die entgegengesetzte Richtung davonfährt. Ich komme mir als Citoyen in Paris derzeit vor wie in einem Polizeistaat. Polizei und Armee sind allgegenwärtig – wenn es darum geht, die eigenen Leute zu buserieren. Meist agieren die Polizisten freundlich, aber bestimmt. Es gibt aber auch welche, die sind willkürlich und diktatorisch unterwegs. Noch halten die Franzosen still. Demonstrationen sind bei Strafe verboten. Doch die Friedhofsruhe in Frankreich ist so trügerisch wie die Ruhe vor dem großen Sturm.

Vorige Woche wurde meiner Frau in der Metro das Portemonnaie geklaut.

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Sara Stern / 20.05.2020

Da ist Frankreich etwas weiter als Deutschland. Ich empfehle gelegentlich auf youtube ein paar Videos mit den Titeln “Protesters strike back” zu schauen. Da sind regelmäßig auch Französische Gelbwestendemos zu sehen, die sich die Staatsmacht in der Form nicht mehr gefallen lassen und man fühlt sich auch gleich etwas besser, wenn man sieht, dass nicht nur Demonstranten von der Polizei bedrängt werden, sondern es auch mal anders herum gehen kann.

Nico Schmidt / 20.05.2020

Sehr geehrter Herr Haferburg, ein Freund von mir vertreibt Börsen im Internet. Soll ich Ihnen vielleicht einen 10er Pack schicken? Für Ihre Erfahrungen wäre aber nicht Paris nötig gewesen. Der Kölner Dom hat hier auch eine steile Karriere hinter sich. Bezüglich der Regierung mache ich Ihnen allerdings hier auch keine Hoffnung. Mal ist die Grenze nicht zu kontrollieren, mal wird die Grenze dicht gemacht. Letzte Woche wurde ein Schrebergarten mit sechs Personen von der Polizei ausgehoben. Was Recht ist, muß ja auch Recht bleiben. MfG Nico Schmidt

Heinz Lucht / 20.05.2020

2012 bin ich den Camino de Santiago gepilgert. 5 Wochen mit einem taeglichen Durchschnitt von 26 km und 13 kg Gepaeck auf dem Ruecken. Muede und etwas ausgelaugt kam ich dann auf dem Heimweg am spaeten Abend in Madrid an. In der Metrostation Nuevos Oficinas del Estado wechselte mein Portemonnaie mit allen Dokumenten den Besitzer. Zwei Kindfrauen, ausser mir die einzigen Personen in der Station, waren danach ploetzlich verschwunden. Ich fuhr weiter zum Flughafen und zeigte den Diebstahl an. Es erstaunte mich, dass der spanische Beamte seine Kollegin fragte, wo denn Fuerteventura sei, welches ich als Wohnsitz angegeben hatte. Am naechsten Morgen, in der deutschen Botschaft in Madrid, bat ich um Hilfe. Ich kannte das Wort, wusste jedoch nicht, dass das Schluesselwort “Asyl ” als Tueroeffner fuer das deutsche Sozialparadies genannt werden musste. Somit hatte sich die Hilfe des deutschen Staates auf ein Minimum reduziert. Ein Telefonat mit einer Person meines Vertrauens waere es dann gewesen. Ich verzichtete. Ach ja, der provisorische Reisepass schlug mit 26 € zu Buche und die Passbilder waren auch nicht gratis. Ein schwieriges Unterfangen, wenn man kein Geld hat. Hier war Kreativitaet angesagt. Deshalb, mein Vertrauen in den deutschen Staat ist nicht auf Null, sondern - wenn es denn moeglich ist - in den negativen Bereich abgesackt.

Daniel Kirchner / 20.05.2020

Die Flics waren schon vor Corona ziemlich präsent. Ich bin in den letzten Jahren in Frankreich einige Male kontrolliert worden. Es gibt intensive Überwachung durch Videokameras (Video surveillance). Meiner Einschätzung zufolge gibt es mehr Blitzer als in jedem anderen Land in Europa. Gestohlen wurde mir nichts. Ich war allerdings nicht in Paris. Historisch folgte der Revolution Napoleon. Auf die Barrikaden geht der Franzose wegen deutscher Äpfel, die den französischen Bauern die Preise verderben.

Wolfgang Nirada / 20.05.2020

In St. Petersburg hat mich vor Jahren eine Zigeunerin angebettelt. Solchen Leuten geben ich prinzipiell nichts - aber diese war dermaßen penetrant daß ich ihr einen Dollar anbot um endlich in Frieden die Stadt ansehen zu können. Der Dollar war ihr zu wenig und so ging das nervige anbetteln und hinterherlaufen weiter… Bis zwei russische Polizisten ums Eck kamen… Da war die Zigeunerin aber sowas von blitzartig verschwunden… SO GEHT POLIZEI!

Ulla Schneider / 20.05.2020

Das ist ja wie in Italien, würde mein Bruder sagen. Dem haben sie in Napoli (heißes Pflaster) die Gesässtasche fein säuberlich mit einer Rasierklinge abgetrennt und somit das Portomonaie geklaut.  Perfektionismus. In der Toscana hingegen, wurden wir darauf aufmerksam gemacht, die Türen jetzt ( zu Ostern) zu schließen: Die Römer kommen! Europa halt!

Berns Simonis / 20.05.2020

Ich würde empfehlen sich aufs Land zurückzuziehen. Von mir aus können die Innenstädte kollabieren, ich besuche die nicht mehr. Gebt der Klientel ruhig die Wohnungen in den Städten. Sollen am besten unter sich bleiben.

Werner Arning / 20.05.2020

Die Polizei, dein Freund und Helfer, das mag in Deutschland (noch) funktionieren, in Frankreich wäre so ein Spruch wohl undenkbar. Der Franzose hat ein zwiespältiges Verhältnis zur Autorität. Und Polizisten sind niemals über alle Zweifel erhaben. Man traut ihnen nicht. Leider zum Teil zu recht nicht. Und bei „jeder“ Demo bekommen die Polizisten die Wut der Bürger zu spüren, im wahrsten Sinne des Wortes. Denn dann müssen die Polizisten häufig einstecken. Dabei staut sich Wut an. So entsteht ein Gegeneinander anstatt eines Miteinanders. In der medialen Berichterstattung kommen die Polizisten ebenfalls meistens nicht gut weg. Die Bezahlung ist auch nicht besonders. Wer wird unter diesen Bedingungen gerne Polizist? Eher die Hartgesottenen.

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