Gastautor / 18.06.2016 / 13:00 / Foto: Tomaschoff / 0 / Seite ausdrucken

Big-Data und der Hang zur Volkserziehung

Von Thilo Spahl.

Als Nudging wird der Versuch der Verhaltensbeeinflussung bezeichnet, um Leuten dabei zu „helfen“, das „Richtige“ zu tun – also zum Beispiel Apfel essen statt Cola trinken. Und zwar nicht, indem man sie mit Informationen und Argumenten überzeugt, sondern indem man sie wohlmeinend manipuliert, ihnen eine Art Schubs (nudge) in die richtige Richtung gibt.

Um jemanden zu manipulieren, ist es hilfreich, ihn gut zu kennen. Wenn man weiß, was seine Schwächen, Vorlieben, Überzeugungen, Gewohnheiten, Charakterzüge sind. Stellen wir uns vor, wir möchten jemanden dazu bringen, ein Getränk mit weniger Zucker zu kaufen. Wie klappt das am besten? Für den Spontanen stellt man es einfach ganz vorne, auf Augenhöhe ins Regal. Für den Preisbewussten bietet man es etwas billiger an. Der Stubenhocker bekommt es ins Haus geliefert, dem Gesundheitsfixierten schreibt man „bio“ drauf usw. Aber woher weiß man, mit wem man es zu tun hat? Indem man die großen Datenkraken anzapft, die immer mehr Informationen über jeden von uns sammeln. Die Auswertung großer Datenmengen wird gerne als „Big Data“ bezeichnet. Verbunden mit dem Begriff „Nudging“ ergibt sich das drohende „Big Nudging“, also sozusagen die auf personenbezogenen Daten basierende Verhaltensbeeinflussung.

Für Renate Künast sortieren sich die Regale im Supermarkt neu

Man sieht schnell: Big Nudging ist etwas für die Online-Welt. Dass sich bei Rewe die Regale neu sortieren, je nachdem ob ich oder Renate Künast ihren Einkaufswagen entlang schieben, ist offensichtlich pure Science-Fiction. Bei Amazon sieht das schon anders aus. Da bekommt jeder von uns zwar noch den gleichen Preis angezeigt, die Produktempfehlungen sind aber schon lange individualisiert. Allerdings sieht sich Amazon bisher nicht bemüßigt, uns vor unseren eigenen Schwächen zu schützen. Amazon oder Google versuchen, uns immer genau die Produkte vor die Nase zu halten, für die der Algorithmus eine erhöhte Kaufwahrscheinlichkeit ermittelt hat. Nicht die, die Experten als die für uns richtigen bestimmt haben.

In einem Digital Manifest als „Appell zur Sicherung von Freiheit und Demokratie“ haben kürzlich neun Wissenschaftler vor dem Big Nudging gewarnt. Sie thematisieren damit eine durchaus unerfreuliche Entwicklung in der Politik, nämlich den Hang zur Volkserziehung. Die Politik sieht die Bürger immer mehr als zu erziehende Schutzbefohlene. Als Leute, die selbst nicht wissen, was gut für sie ist. Die technologische Aufrüstung dieser Menschenverbesserungsmission kann in der Tat nichts Gutes bedeuten. Das Nudging ist dabei eine Erweiterung des Methodenspektrums. Es unterscheidet sich von expliziten Erziehungsmaßnahmen wie Rauchverboten oder Ernährungstipps dadurch, dass unser Verhalten beeinflusst werden soll, ohne dass die Instrumente für uns sichtbar sind und damit zumindest prinzipiell hinterfragbar wären.

Das aus verschiedenen Einzelbeiträgen bestehende Manifest malt die drohende Gefahr in großen Worten aus. Auf die Automatisierung der Produktion und die Erfindung selbstfahrender Fahrzeuge folge nun die Automatisierung der Gesellschaft. Algorithmen wüssten, „was wir tun, was wir denken und wie wir uns fühlen – vielleicht sogar besser als unsere Freunde und unsere Familie, ja als wir selbst.“ Die Entwicklung verlaufe den Hang zur Volkserziehung. Das klingt eine Nummer zu groß und wirft die Frage auf, ob Big Data wirklich so ein Booster für das Nudging ist. Reichlich überzogen erscheint die Warnung, mit Hilfe von Google könnte „Europa vom Silicon Valley aus quasi ferngesteuert“ werden. Offenbar halten die Autoren die Menschen für praktisch beliebig manipulier-, ja sogar programmierbar. Zumindest in ihrer Rhetorik überschätzen sie die Macht von Big Nudging damit erheblich.

Zu viele Menschen akzeptieren den Staat als Herr und Hirte

Das Problem ist nicht, dass uns Algorithmen angeblich besser kennen als wir selbst. Sie kennen uns gar nicht. Algorithmen wissen nichts und kennen niemanden. Sie sind Werkzeuge, um sehr schnell sehr viele Daten zu verarbeiten. Das Problem ist auch nicht, dass Menschen programmiert werden. Sie werden manipuliert. Das ist etwas ganz Anderes. Der Kern des Problems ist das Verständnis von Bürger und Staat. Zu viele Menschen akzeptieren es unbedacht und unbesorgt, wenn uns der Staat als Herr und Hirte begegnet.

Das Problem ist, dass Politiker (und NGOs) glauben, sie hätten das Recht und die Verpflichtung, unser Verhalten zu beeinflussen. Und dass sie sich bemühen, diese Aktivitäten mit Hilfe verhaltensökonomischer Methoden und Datenverarbeitungstechnologie zu professionalisieren. Richtig auf den Punkt gebracht, heißt es im Manifest: „Der neue, umsorgende Staat interessiert sich nicht nur dafür, was wir tun, sondern möchte auch sicherstellen, dass wir das Richtige tun.“

Wir haben es also mit einem zweistufigen Prozess zu tun. Erstens interessiert der Staat sich dafür, was wir tun (und auch, was wir denken und glauben). Zweitens ist er der Meinung, dass es nicht unsere Privatangelegenheit ist, was wir tun. Er sieht sich als erziehungs- und interventionsberechtigt. Und zwar nicht nur dann, wenn der Bürger gesetzeswidrig handelt. Sondern auch dort, wo sein Verhalten nicht dem staatlich anerkannten Ideal entspricht. Dort, wo es gilt, ihn vor der unterstellten eigenen intellektuellen und charakterlichen Unzulänglichkeit zu schützen. Mit den Methoden des Big Nudging könnte er uns beständig mit den richtigen Botschaften und Empfehlungen für Produkte, Informationsangebote oder Aktivitäten berieseln, um einem jeden die für ihn persönlich zugeschnittenen Schubse hin zu mehr Bewegung, der Abkehr vom Glücksspiel, gewissenhafter Mülltrennung oder Verzicht auf Zucker, Salz oder auch unerwünschte Meinungsäußerungen zukommen zu lassen.

Big Nudging beruht auf einer doppelten Missachtung der Privatsphäre: zunächst durch die Erfassung personenbezogener Daten und sodann durch die Intervention zur Beeinflussung persönlicher Präferenzen. Entsprechend ist doppelter Widerstand gefordert: Widerstand gegen den Zugriff auf personenbezogene Daten und Widerstand gegen die datentechnische Manipulation der individuellen (Online-)Lebenswelt. Gefordert ist also in allererster Linie Datenschutz. Je erfolgreicher die Erfassung und Speicherung von persönlichen Daten verhindert werden kann, desto weniger Ausgangsmaterial fürs Big Nudging ist vorhanden.

Warum haben wir überhaupt einen therapeutischen Staat?

Warum haben wir überhaupt einen therapeutischen Staat, der uns manipulieren möchte? Nudging und Big Nudging sind Entwicklungen, die im Wesentlichen aus einer technokratischen Unterwanderung der Demokratie resultieren. Aus Sicht der Funktionseliten ist auf den Bürger kein Verlass. Auch das Vertrauen in die Mechanismen der demokratischen Meinungsbildung scheint verloren gegangen zu sein. Wozu politische Debatten führen, wo man doch Wissenschaftler beauftragen kann, herauszufinden, was für die Menschen am besten ist? Wozu Überzeugungsarbeit leisten (oder gar die eigenen Einsichten in Frage stellen), wenn man das Verhalten der Schutzbefohlenen durch die richtigen Schubse behutsam optimieren kann?

Dieser Politikmodus ist nicht nur undemokratisch, er ist auch unpolitisch. Politik basiert auf der Erkenntnis, dass gesellschaftliche Herausforderungen auf gesellschaftlicher Ebene angegangen werden müssen. Die Veränderung individuellen Verhaltens ist in aller Regel ungeeignet zur Lösung gesellschaftlicher Probleme. Denn diese bestehen typischerweise nicht in einer Ansammlung individueller Unzulänglichkeiten. Schlimmer noch: Die tatsächliche Lösung gesellschaftlicher Probleme wird durch die Ersatzhandlung der Verhaltensbeeinflussung behindert. Nudging ist somit auch ein Symptom für die wachsende Unfähigkeit des Staates, gesellschaftliche Herausforderungen zu bewältigen.

Nudging wird weder Probleme lösen noch kann es gesellschaftliche Debatten ersetzen

Leider kommt im Digital Manifest die politische Kritik an den Versuchungen des Verhaltensmanagements zu kurz. Im Vordergrund stehen Fragen der Effektivität und des Verbraucherschutzes. Das wesentliche Argument gegen das Nudging scheint zu sein, dass es nicht funktioniere. Dirk Helbing, Professor für Computational Social Science an der ETH Zürich, stellt in seinem Einzelbeitrag fest: „Obwohl bereits 90 Länder Nudging verwenden, haben die gesellschaftlichen Probleme nicht abgenommen. Im Gegenteil. Die Klimaerwärmung schreitet ungebremst voran. Der Weltfrieden ist brüchig geworden…“ usw. Nudging sei also ineffektiv und es bestehe Gefahr, mehr falsch als richtig zu machen. Das ist sicher wahr. Und es zeigt sehr deutlich, dass die Vorstellung absurd ist, größere Probleme mit solchen Methoden zu lösen.

Wichtiger ist aber, dass Nudging auch dort, wo es funktioniert, falsch ist. In der Regel geht es ja um etwas weniger hoch gesteckte Ziele, als den Weltfrieden zu sichern. Es ist durchaus plausibel, dass man mit ein paar subtilen Tricks die Zahl derer erhöhen kann, die einen Organspendeausweis bei sich tragen. Man kann sicher den Verbrauch an Zucker ein wenig reduzieren oder die Wahlbeteiligung erhöhen. Nudging ist jedoch nicht nur abzulehnen, weil man nie genau weiß, ob die Ziele die richtigen sind. Es ist auch abzulehnen, weil Verhaltensmanipulation der falsche Weg ist – egal zu welchem Ziel.

Demokratie heißt: Nachdenken, Diskutieren und selbstbestimmtes Gestalten

Wer die Idee der Demokratie ernst nimmt, der darf nur ein Verhalten fördern: das Nachdenken, Diskutieren und selbstbestimmte Gestalten. Der Bürger in einer Demokratie ist per Definition der mündige Bürger. Aufgabe des Staates ist es daher, die Mündigkeit zu fördern, indem man dem Bürger immer und überall zumutet, zu einem eigenen Urteil zu kommen, ihm also reichlich Gelegenheit zur Einübung rationaler Bewertung und moralischer Autonomie gibt. Aufgabe des Staates ist nicht, dem Bürger die richtigen Überzeugungen, Entscheidungen und Verhaltensweisen geschickt unterzujubeln, sein Urteilsvermögen damit zu unterwandern und seine Autonomie zu schwächen.

In diesem Sinne kann ich Gerd Gigerenzer vom Max-Planck-Institut für Bildungsforschung nur zustimmen, wenn er in seinem Einzelbeitrag schreibt: „Im 21. Jahrhundert brauchen wir nicht noch mehr Paternalismus und Nudging, sondern mehr informierte, kritische und mündige Bürger. Es wird Zeit, die Fernbedienung für das eigene Leben wieder selbst in die Hand zu nehmen.“

Thilo Spahl ist Diplom-Psychologe und lebt in Berlin. Er ist freier Wissenschaftsautor, Mitgründer des Freiblickinstituts und Redakteur von Novo-Argumente wo dieser Beitrag zuerst erschien.

Foto: Tomaschoff

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