Von Pierre-Aimé Despalle
Am 24. März 2009 war Frau Simone Veil, die große Europäerin, im jüdischen Gemeindezentrum in München zum Anlass ihrer in Deutschland neu erschienenen Autobiographie („Und dennoch leben“ Aufbau Verlag 2008) zum Gespräch mit Frau Franziska Augstein, Journalistin der Süddeutschen Zeitung, eingeladen. Frau Augstein wurde damit beauftragt, den Abend zu moderieren, wobei Frau Veil einige Passagen aus ihrem Buch auf französisch und die Schauspielerin Frau Karin Boyd die entsprechenden Passagen aus der deutschen Fassung vorlesen sollten…
Nach einer Einführungsrede von Frau Charlotte Knobloch, der Präsidentin des Zentralen Rates der Juden in Deutschland, stiegen mit großem Elan Frau Augstein und Frau Boyd auf die Bühne, vergaßen aber dabei, Frau Veil mit auf die Bühne zu nehmen. Frau Augstein ergriff dann als Moderatorin das Wort und kündigte an, dass sie an diesem Abend nicht viel zu tun haben werde. Sie könne nämlich nicht garantieren, dass Frau Veil nach ihrer anstrengenden Reise Fragen beantworten würde. Nach ihrer Einführung bat Frau Augstein Frau Veil auf französisch darum, aus ihrem Buch die erste Passage vorzulesen.
Frau Veil begann mit der Lesung der ersten Passage ihres Buchs über ihre Kindheit im sonnigen Nizza der Vorkriegszeit. Sie erzählte, wie ihre Angst vor dem Krieg ihr glückliches Leben in der Familie Jacob prägte. Nach der Vorlesung durch Frau Boyd der entsprechenden Passage der deutschen Fassung, stellte Frau Augstein Frau Veil ihre erste Frage, und zwar auf französisch. Sie fragte, ob die Erfahrung Frau Veils im Konzentrationslager in Auschwitz-Birkenau ihr Leben geprägt habe. Aus dem Publikum konnte man durch lautes Gemurmel Empörung wahrnehmen. Die Leute waren wahrscheinlich weniger empört über die im unperfekten Französischen formulierte Frage, als über die Tatsache, dass jemand wohl Zweifel über die Antwort auf diese Frage haben kann.
Trotz der unglücklichen Frage Frau Augsteins erzählte eine stoizistische Frau Veil über ihre Erfahrung in Auschwitz und hob die Solidarität zwischen den Gefangenen hervor, über die, ihrer Meinung nach, nicht oft berichtet wurde. Frau Augstein bezog sich dann auf ihr Wissen über das Konzentrationslager in Buchenwald und erwiderte, dass dort keine Solidarität zwischen Gefangenen, sondern ganz im Gegenteil ein Kampf ums Überleben stattgefunden hätte. Dies führte Frau Augstein dazu, Frau Veil zu fragen, mit wem sie denn auf dem „Block“ im Konzentrationslager war. Frau Veil beantwortete höflich auch diese Frage, obwohl die Unruhe im Publikum peu à peu größer wurde.
Dann folgte eine zweite Lesung aus dem Buch durch Frau Veil und Frau Boyd, wo es um die Deportation der jungen Simone Veil von Drancy, dem zentralen Sammellager Frankreichs, nach Auschwitz geht. Außerhalb der Reichweite des Mikrofons konnte das irritierte Publikum nur ahnen, was Frau Augstein nun Frau Veil fragen konnte. Aus den Gesten Frau Veils war aber eindeutig zu erkennen, dass es um ihren Arm ging. Hatte es denn Frau Augstein gewagt, Frau Veil über das anzusprechen? War es überhaupt wahr oder war das nur ein schlechter Traum? Konnte es von der physikalischen Spur der Zeit Frau Veils in Auschwitz in diesem Aparté die Rede sein? Frau Veil hatte im allerletzten Satz der zweiten Textpassage aus ihrem Buch nämlich ihre tätowierte Nummer am Arm erwähnt…
Danach folgte eine Serie von Fragen Frau Augsteins, die sie ohne Überleitung oder Ankündigung auf die Bühne brachte. „Wie ist es denn mit dem Antisemitismus in Frankreich und Europa?“. Mittlerweile nahm wahrscheinlich Frau Veil die Fragen Frau Augsteins nicht mehr wortwörtlich, versuchte aber dabei scheinbar immer eine interessante Antwort darauf zu geben, eine ziemlich große Herausforderung in der Tat! Frau Veil antwortete allgemein, dass die Leute heutzutage viel abgeschotteter seien als in der Vergangenheit und viel weniger Toleranz zeigen, was eine große Gefahr darstelle. Nachdem Frau Veil, ganz allgemein, Konflikte auf dieser Erde erwähnte, konnte Frau Augstein aus irgendeinem Grund dem Bedürfnis nicht widerstehen, die Antwort Frau Veils für das Publikum zu „interpretieren“ und dabei auf den Irak und Afghanistan hinzuweisen, denn die Antwort Frau Veils sei für ihren Geschmack zu „diplomatisch“ gewesen. Da fing das Publikum an, zu kochen, als ob es nun einfach zu lange auf dem durch Frau Augstein angezündeten Feuer geköchelt hätte. Auf die Frage Frau Augsteins, was das Problem sei, kam die Antwort aus dem Publikum: „Sie sind das Problem!“.
Als Frau Augstein über eine der großen Taten Frau Veils sprechen wollte, und zwar das Abtreibungsgesetz von 1975 unter dem Präsidenten Valéry Giscard d’Estaing, fragte sie, wie es überhaupt möglich gewesen sei, in dieser „konservativen“ Regierung so ein „revolutionäres“ Gesetz durchzusetzen? Da musste Frau Veil die Frage Frau Augsteins korrigieren, da diese Regierung gar nicht „konservativ“ gewesen sei, und noch weniger überholt, sondern wollte ganz im Gegenteil vieles vorantreiben, auch eine solche tiefe Gesellschaftsänderung. Das Publikum reagierte, als ob es von einer ungeheueren Last plötzlich befreit wurde, und beklatschte Frau Veil, vielleicht auch, weil es spürte, dass auch sie plötzlich von der selben Last befreit wurde?
Nach den etlichen Fragen Frau Augsteins und ihren abgekürzten „Interpretationen“ der Antworten Frau Veils durfte endlich auch das eifrige Publikum der großen Dame drei Fragen stellen, bevor Frau Augstein das Schlusswort für den Abend sprach und sich verabschiedete.
Als ich heute Abend den Namen Franziska Augstein hörte, kannte ich sie zwar nicht aber ihr Nachname war mir natürlich bekannt. Was hätte ein schöner Abend werden können, worauf meine Freunde und ich uns seit Wochen freuten, wurde aber durch eine einzige Person ruiniert. Nach vielen Gesprächen mit unterschiedlichen Leuten, die an dem Abend teilnahmen, kann ich eines sagen: ich war nicht der Einzige.