Kolja Zydatiss / 06.10.2021 / 12:00 / Foto: Bildarchiv Pieterman / 30 / Seite ausdrucken

Berliner Wahlchaos – Demokratie als Haltung, Wählen als Ritual

Der Demokratiebegriff wird neu definiert, statt für politische Repräsentation steht er zunehmend für eine moralische Haltung. Da kann man Wahlergebnisse auch einfach schätzen, wie jüngst in Berlin.

Komplett identische Meldeergebnisse für verschiedene Wahllokale, die sich später als „Schätzungen“ herausstellen, fehlende, vertauschte und hastig am Kopierer nachgedruckte Stimmzettel, illegale Stimmabgaben von Minderjährigen, viel mehr abgegebene Stimmen als Wahlberechtigte und stundenlanges Schlangestehen vor Wahllokalen. Die Pannenserie bei den in Berlin am 26. September zeitgleich abgehaltenen Wahlen zum Deutschen Bundestag, Abgeordnetenhaus und den Bezirksverordnetenversammlungen (hinzu kam noch ein Volksentscheid über die Enteignung von großen Wohnungsunternehmen) übersteigt selbst die wildesten Fantasien des Autors, der 1989 in Berlin geboren wurde und rund 90 Prozent seines Lebens in der oft dysfunktionalen Bundeshauptstadt verbracht hat.

Ein regierender Bürgermeister wollte mal, dass Berlin „arm aber sexy“ sei (er hielt das wohl für sexy Marketing, viele Bürger durchschauten es allerdings schnell als armseligen Zynismus). Von „arm aber sexy“ zum „failed state“ war es dann kein großer Schritt mehr. Heute meint der Diplomat a. D. Volker Seitz, zuletzt von 2004 bis 2008 Botschafter der Bundesrepublik Deutschland in Kamerun: „Ich sehe mich nach dem Chaos am Wahltag in dem überforderten und defekten Gemeinwesen Berlin nicht mehr in der Lage, afrikanische Staaten zu kritisieren, wenn sie demokratische Wahlen nicht angemessen organisieren können. Identische Wahlergebnisse gleich in 22 Wahllokalen habe ich in 17 Jahren in Afrika nie erlebt.“

Der konservative Publizist Alexander Kissler schiebt die jüngsten Pannen auf eine in Berlin vorherrschende „Alles-egal-Attitüde“, die sich nun auch auf die Durchführung von Wahlen auswirke. Aber ich denke, das ist ein wenig zu einfach. Sicherlich spielen auch weitere Faktoren eine Rolle. Der mit linkspopulistischen Politikansätzen sympathisierende deutsche Soziologe Wolfgang Streeck weist etwa in seinem aktuellen Werk „Zwischen Globalismus und Demokratie: Politische Ökonomie im ausgehenden Neoliberalismus“ (Suhrkamp, Juli 2021) auf eine schleichende Neudefinierung des Demokratiebegriffs hin. An die Stelle der „Repräsentation der Unterklasse in der Demokratie als Institutionensystem“ trete zunehmend die „Erziehung der Unterklasse in der Wertedemokratie“.[1]

Im Zuge eines politisch-ökonomischen Transformationsprozesses von der „sozialen“ zur „liberalen“ Demokratie, vom „demokratischen“ zum „neoliberalen“ Kapitalismus [2] sei Demokratie „von einer plebejischen Institution in eine moralische Haltung“ umdefiniert worden („unter bemerkenswert enthusiastischer Beihilfe eines Teils der akademischen ‚Demokratietheorie‘“).[3] Man gelte heute als „Demokrat“ oder eben nicht als solcher, je nachdem, ob man bereit sei, die „Werte“ der Demokratie anzunehmen, welche von „deliberierenden Rechtsexperten erkannt statt von streitenden Bürgern beschlossen“ würden (mit „demokratischen Werten“ meint der Autor in Anlehnung an die Arbeit der belgischen Politikwissenschaftlerin Chantal Mouffe vor allem einen „allumfassenden Universalismus“, welcher „zusammen mit dem nationalen auch jeden sozialen Partikularismus aus der Welt schafft“). „Statt durch Demokratie repräsentiert werden Bürger von Bürgern, die wissen, was Demokratie ist, zu ‚Demokraten‘ erzogen“, resümiert der Soziologe [alle Hervorhebungen im Original].[4] (Obwohl Streeck hierauf nicht näher eingeht, kann man sich leicht selbst denken, wer wohl die „erziehenden“ Akteure sind, zum Beispiel Schulen, öffentlich-rechtliche Medien, identitätspolitisch orientierte NGOs wie die „Neuen deutschen Medienmacher“, die staatliche Kampagne „Demokratie leben!“…)

Wahlergebnisse spielen nur eine untergeordnete Rolle

Dieser Neudefinitionsprozess kann erklären, warum die Demokratie heute zwar ständig pathetisch beschworen wird (etwa kürzlich von Bundeskanzlerin Angela Merkel anlässlich des Tags der Deutschen Einheit), aber praktisch immer mehr ausgehöhlt wird – von der Brüsseler oder Davoser Hinterzimmermauschelei bis zur jüngsten Berliner Chaos-Wahl. Denn wenn Merkel sagt: „Demokratie ist nicht einfach da. Sondern wir müssen immer wieder für sie miteinander arbeiten, jeden Tag“ oder Promis vor Landtagswahlen in Ostdeutschland zusammen einen Song mit dem Titel „Die Demokratie ist weiblich“ aufnehmen, ist nicht die repräsentative, plebejische Demokratie gemeint, für die der Altlinke Streeck eintritt, sondern die erzieherische Haltungs- oder Werte-„Demokratie“. Und in dieser spielen konkrete Wahlergebnisse als Abbildung des Volkswillens – beziehungsweise geordnete, rechtmäßige und faire Verfahren zur Ermittlung desselben – nur eine untergeordnete Rolle.

Vor diesem Hintergrund wird wählen gehen zu einer Art ritualisierten Handlung. Die Beteiligung an Wahlen als „erste Bürgerpflicht“ für jeden Wahlberechtigten könne als „fester Bestandteil postfaschistischer deutscher Ideologie“ gelten, bemerkte Magnus Klaue bereits 2009 in der Jungle World. „Denn wer nicht wählen geht – das wissen selbst die, die sonst vom deutschen Wahlsystem keine Ahnung haben –, der hilft letztlich nur den ‚Extremisten‘.“

Mag sein, dass zum Beispiel „Landtagssitze für die NPD verhindern“ unter Umständen ein ausreichender Grund ist, am Wahltag zu den Urnen zu marschieren. Aber Demokratie sollte mehr sein als eine diffuse, moralistische „Haltung“ gegen „Rechts“ oder „den Populismus“ (beides Kampfbegriffe, die ohnehin immer breiter gefasst werden, um Andersdenkende zu diskreditieren). Geht es der tonangebenden „bildungsbürgerlichen neuen Mitte“ (Streeck) überhaupt noch darum, die institutionellen Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass einfache Bürger sich durch die Mobilisierung von politischen Mehrheiten Geltung verschaffen können?[5] Die katastrophale Durchführung der jüngsten Berliner Wahlen lässt jedenfalls vermuten, dass „deine Stimme“, anders als ständig beschworen, eben nicht zählt.

Quellen:

[1] Wolfgang Streeck: „Zwischen Globalismus und Demokratie: Politische Ökonomie im ausgehenden Neoliberalismus“, Suhrkamp Verlag 2021, S. 37. [2] Ebd., S. 38. [3] Ebd., S. 34. [4] Ebd. S. 39f. [5] Vgl. ebd., S. 38ff. Von einer „echten“ plebejischen Demokratie profitieren nach Streeck vor allem diejenigen Bürgerinnen und Bürger, die vom kapitalistischen Markt und der kapitalistischen Gesellschaft benachteiligt sind.  

Foto: Bildarchiv Pieterman

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Harald Unger / 06.10.2021

> Im Zuge eines politisch-ökonomischen Transformationsprozesses von der „sozialen“ zur „liberalen“ Demokratie, ... < ‘Liberal’ wird hier als rück-entlehnter Begriff verwendet, schmückt er im Angloamerikanischen doch die Sozialisten/Marxisten. Mit einem klassischen Liberalismus hat das nichts mehr zu tun. Womit ‘Liberal’ zu einem sogenannten Wieselwort wurde. - - - Übersetzt in die Wirklichkeit müsste o.a. Zitat also lauten: ‘Im Zuge einer Umverteilung von Unten nach Oben, von der sozialen Demokratie zur feudal-marxistischen Willkürherrschaft’.

Rainer Niersberger / 06.10.2021

Tatsaechlich ist es bereits vielsagend, dass eine vorsichtig formuliert “verunglückte” Wahl mit einer mindestens indiziellen Vermutung des falschen Ergebnisses, jede anderer Annahme wuerde jeder Logik widersprechen, in einem Bundesland ohne nennenswerte Regung abgehakt wird. Unabhängig von der tatsächlichen Dimension der Auswirkung auf das Gesamtergebnis spielen derartige Phaenomene ganz offensichtlich ueberhaupt keine Rolle mehr, solange nicht die AfD gewinnt. In diesem Fall wuerde man ohne Frage alle Hebel der Anfechtung in Bewegung setzen. Zu Ende gedacht, was sich ja mitunter empfiehlt, ist damit klar, dass es nicht um Wahlen geht, sondern um die Erzeugung des (grob) passenden Ergebnisses, eine Art Scheinlegitimation, fuer die gewuenschte Machtkonstellation. Das ist fuer eine reine Fassaden - oder Pseudo demokratie, bei der alle anderen konstitutiven Elemente von Merkel bereits abgeschafft wurden, nur konsequent. Es stoert aber auch nicht wirklich und das zeigt die durchaus gleiche Verfasstheit von Kaderparteien und Mehrheitsgesellschaft, die beide gemeinsam das, was man Demokratie nennt, nach dem Motto ” das kann weg” schon längst beerdigt oder besser entsorgt haben.  Man faselt noch davon, so auch von Freiheit, Recht, Bildung und Kultur, aber die Inhalte sind bereits im Orkus der Geschichte gelandet. Chapeau den Transformatoren. Es ist (fast) vollbracht.

S. Andersson / 06.10.2021

@ Anton Weigl - dem ist nichts weiter hinzu zu fügen. Neuwahlen!

Gisela Rückert / 06.10.2021

Dass es wahrscheinlich nicht einmal in Berlin zu Neuwahlen kommen wird , ist mir ziemlich klar. Begründung:  das Wahlergebnis von Berlin ändert nichts am Gesamtergebnis. -Gebrochene Versprechungen werden sowieso wie immer kommen. Und selbst bei Neuwahlen würden die einen aus taktischen Gründen was anderes wählen, die anderen aus den selben Gründen aber auch. Un-ter dem Strich, ein Volk welches weitestgehend nur dem Mainstream folgt, braucht eh keine Demokratie mehr.

Volker Kleinophorst / 06.10.2021

@ A. Weigl Sie haben vollkommen recht. Ab wann ist eine Wahl ungültig? Wenn Merkel Sie “rückgängig” macht? Eine Nachwahl in Berlin allein, wäre ja ähnlich wie die verlängerten Öffnungszeit der Wahllokale in Berlin wahlrechtlich nicht zulässig.  Was ist mit der Linken? Zwei der Mandate, die Ihnen 39 Abgeordnete bringen sind aus Berlin. PS.: Für die US-Wahl gilt das übrigens ebenso. Was ist wenn Arizona “fällt” also die Wahlergebnisse als manipuliert anerkennt und seine Wahlmännerstimmen annuliert. Muss da dann auch noch in allen anderen Staaten geprüft werden? PS.2: Insgesamt ist die deutsche Wahl anzuzweifeln. Michael Klonovsky (AfD) in Chemnitz, im Wahllokal Sieger bei der Briefwahl abgeschmiert. Wie ich immer wieder schreibe, wer Briefwahl will, verspricht sich davon einen Vorteil. Und der kann nur sein. Einfacher zu betrügen.

Peer Munk / 06.10.2021

Ohne Rechtsstaat ist auch Demokratie nichts wert. Und das Prinzip des Rechtsstaates ist leider völlig aus der Mode. Demzufolge haben wir auch defacto keinen demokratischen Rechtsstaat mehr.

Karl Wenz / 06.10.2021

Seltsam, dass die Schlangesteher mehrheitlich die Verursacher des Chaos gewählt haben sollen. Falls diese “Wahl” in Berlin nicht wiederholt werden sollte, ist mein Vertrauen in das demokratische System des Landes = 0.

Karl Kurz / 06.10.2021

Also, das hätte man deutlich kürzer fassen können: Betrug, von scheinbarem Chaos verdeckt. Die Annahme, “Berlin” könne keine Wahl organisieren, wird doch vom Ergebnis widerlegt.

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