Burkhard Müller-Ullrich / 09.08.2009 / 23:13 / 0 / Seite ausdrucken

Bericht aus Balkonien (1)

Dieses Jahr also nicht Balkan, sondern Balkon. Das ist ohne Zweifel einer der schönsten Urlaubsorte auf der Welt. Ein Ort, an dem man sich wirklich zuhause fühlen kann. Wo man keine Sprachprobleme hat. Ein Ort, der leicht erreichbar ist und doch nicht überlaufen. Extravagant, aber erschwinglich. Große Dichter wie Goethe („Warum in die Ferne schweifen?“) oder Benn („Ach, vergeblich das Fahren“) waren genau derselben Meinung, sie kannten bloß noch nicht das Wort Balkonien! Inzwischen steht es sogar im Duden.

Balkonien ist ein Land der Blick-Beziehungen, denn jede Nachbarschaft ist ein Beobachtungs-Konsortium, und Balkone sind die wichtigsten Kommunikationsschnittstellen der Gebäude. Hier geht es um Sehen und Gesehenwerden: Manche Menschen halten mit Ferngläsern Ausschau nach Mond und Sternen, andere zeigen sich gern nackt. Der Balkon ist Ausguck und Bühne zugleich, er ist Ruhezone, Partymeile, Grillstube, Kinderparadies und Naturreservat in einem.

Natürlich spielen Blumen eine wesentliche Rolle: Der Balkon ist ein Garten ohne Rasen. Aber weil er ein Hängender Garten ist, hat er auch etwas Abenteuerliches: ein bißchen Höhenschwindel gehört einfach dazu. Der Balkon ist ein grandioser Kompromiß aus Stadt und Land, Geselligkeit und Zurückgezogenheit, Normalität und Ausnahmezustand. Das Ferienmachen läßt sich auf Balkonien nahtlos in den Alltag integrieren, denn in höchstens dreißig Sekunden hat man von jedem Punkt der Wohnung aus sein Urlaubsziel erreicht. Wenn man dann das Radio einschaltet und die Staumeldungen anhört, überkommt einen das Glücksgefühl vollendeter Entspannung.

Im Übrigen aber steht das Ferienangebot dem sonst Gewohnten in keiner Weise nach. Familienurlaub, Bildungsurlaub, Wellnesstage – auf Balkonien ist alles inklusive, denn Miete oder Hausgeld zahlt man sowieso, und Essen kaufen muß man gewöhnlich auch.

Auch die Unterhaltungsmöglichkeiten enttäuschen nicht: Man kann auf Balkonien sämtliche Fernsehprogramme sehen, die man auch sonst empfängt, und zwar wahlweise mit dem eigenen Apparat oder auf einem Bildschirm in der Wohnung gegenüber. Oder man kann die Live-Übertragung eines Ehekrachs auf einem anderen Balkon verfolgen – ein packendes Sozialdrama mit überzeugend wirkenden Laiendarstellern. Und selbst wer etwas in der Art erotischer Bezahl-Kanäle sucht, wird mit einem Feldstecher im Viertel fündig.

Vorausgesetzt, die Nachbarn qualmen einen nicht mit ihrem Grill vollkommen zu. Immerhin tragen sie dadurch zur Klimaerwärmung bei, und die kommt natürlich allen auf Balkonien zugute.

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