Von Wolfgang Meins.
Der Anlass ist zweifellos ein trauriger: Aber durch den Mord von Kandel – dringend tatverdächtig ist bekanntlich ein angeblich erst fünfzehnjähriger afghanischer Migrant – ist die Diskussion zum Thema Altersdiagnostik bei (angeblich) unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen (im folgenden UMF) in Bewegung geraten. Darauf deuten jedenfalls einige vergleichsweise unaufgeregte und sachkundige Artikel in überregionalen Medien hin, wobei in einem Fall möglicherweise der Blick auf einen Beitrag auf der Achse des Guten hilfreich war.
Aber auch die Politik rührt sich. Innenminister de Maizière fordert endlich ein bundeseinheitliches Vorgehen. Man müsse den „zuständigen Jugendämtern verbindlich vorgeben, was zu tun ist.“ Also „in allen Fällen, in denen kein offizielles und echtes Dokument vorgelegt werden kann“, durch „ärztliche Untersuchung“ das Alter feststellen.
Es gibt zwar bereits seit dem 28. 10. 2015 ein Gesetz, das nach einer Inaugenscheinnahme durch die Jugendämter eine medizinische Altersfeststellung bei UMF problemlos ermöglicht. Aber das wird zum Beispiel vom Sozialministerium in Baden-Württemberg durch eine Empfehlung torpediert, in der es heißt:
„Lässt sich das Alter eines unbegleiteten ausländischen jungen Menschen im Rahmen einer qualifizierten Inaugenscheinnahme nicht hinreichend zuverlässig feststellen, dürfte nach Lage der Dinge auch eine zusätzliche ärztliche Untersuchung … keinen zusätzlichen, validen Erkenntnisgewinn bieten.“
Ein besonders schönes Beispiel für den Sieg der Ideologie über die Wissenschaft. Da kann man nur hoffen, dass diesem Spuk möglichst bald ein Ende bereitet wird.
Ohne Sachkenntnis und ohne Röntgenstrahlen
Der Präsident des Bundesverbandes der Kinder- und Jugendärzte Fischbach äußert sich überwiegend sachlich und pragmatisch, allerdings auch ohne tiefere Sachkenntnis zu „verpflichtenden“ Altersuntersuchungen bei Flüchtlingen: „Ein solches Vorgehen ist medizinisch schwierig und organisatorisch kaum zu bewältigen.“ Und: „Als niedergelassene Ärzte sind wir froh, wenn wir unsere regulären Patienten versorgt bekommen.“
Vielleicht sollte ihm mal jemand stecken, dass in Deutschland üblicherweise Rechtsmediziner beziehungsweise entsprechende Institute diese Aufgabe ausfüllen, und nicht der Kinderarzt um die Ecke. Auch wenn einige seiner Kollegen genau diese Zuständigkeit im Rahmen einer Jugendvorsorgeuntersuchung für ihren Berufsstand reklamieren, natürlich ganz ohne böse Röntgenstrahlen. Interessant auch, was Spon aus diesem kleinen Interview mit Präsident Fischbach macht: „Kinderärzte lehnen Alterstests für junge Flüchtlinge ab.“
Und was sagt der früher einmal als Radiologe tätige und jetzige Präsident der Bundesärztekammer Montgomery? Der langjährige und entschiedene Kämpfer gegen die medizinische Altersdiagnostik bei UMF (zum Beispiel hier) verbreitet zwar weiterhin – man darf getrost annehmen, wider besseres Wissen – die ollen Kamellen, dass Röntgenuntersuchungen zur Altersfeststellung nur im Rahmen eines Strafprozesses zulässig seien.
Zwischen Menschenwohl und Tierwohl
Aber dann wird auf eine Defensivstrategie zurückgegriffen: Etwas erkennbar Absurdes kritisieren und in Ermangelung von inhaltlichen Argumenten dabei eine möglichst große Moralkeule schwingen: „Wenn man das bei jedem Flüchtling täte, wäre das ein Eingriff in das Menschenwohl.“ Niemand will natürlich jeden Flüchtling zwecks Altersfeststellung röntgen. Aber was um Himmels willen ist mit „Menschenwohl“ gemeint?
Auch Google kann mit diesem Begriff nichts anfangen, verweist einen aber immerhin bald auf „Tierwohl“. Vielleicht meint Montgomery auch Kindeswohl, aber jetzt eben irgendwie für alle. Richtig weiterhelfen würde das aber auch nicht, denn zum Kindeswohl findet sich im „Praxisbuch Ethik in der Medizin“ (2015, S. 313): „Dieser Begriff ist allerdings in hohem Maße auslegungsbedürftig und kann auf unterschiedliche Art und Weise verstanden werden.“ Vielleicht hätte er besser vorher Rücksprache mit seinem Chefethiker und Experten für medizinische Altersdiagnostik, Prof. Dr. phil. Birnbacher, halten sollen, zumal der sich auch um das Tierwohl kümmert.
Wie wird es weitergehen mit der medizinischen Altersbestimmung von UMF? Es klingt zynisch, aber wahrscheinlich bedarf es noch zwei oder drei weiterer schlimmer Vorfälle, bevor sich in Bundestag und Bundesrat eine Mehrheit findet, um endlich eine verbindliche, bundeseinheitliche, fachlich angemessene Regelung auf den Weg zu bringen.
Zum Autor: Prof. Dr. med. Dipl.-Psych. Wolfgang Meins ist Neuropsychologe und Arzt für Psychiatrie und Neurologie, außerplanmässiger Professor für Psychiatrie (UKE-Hamburg). Nach leitender Tätigkeit in der Geriatrie niedergelassen in Hamburg. Gutachterliche Tätigkeiten, in den letzten 6 Jahren als gerichtlicher Sachverständiger im sozial- und zivilrechtlichen Bereich.