In Moskau geschieht etwas Unerhörtes: der gestürzte Moskauer Parteichef weigert sich, widerspruchslos in der Versenkung zu verschwinden. Vor über 10 000 Teilnehmern einer Kundgebung, die zur Solidarität mit Boris Jelzin aufruft, kündigt der Geschasste an, seinen Kampf um radikale Reformen unbeirrt fortzusetzen. Sein Chef im Kreml Gorbatschow wird das als Drohung , nicht als Unterstützung seiner Perestroika aufgefasst haben. Eines machte Jelzins öffentliche Ankündigung klar: die Zeiten, wo die Partei immer recht hatte und alle Funktionäre sich ihrem Spruch fügten, ist unwiederholbar vorbei.
In der DDR läuft an der Oberfläche alles weiter, wie gehabt. Über Jelzin findet sich im „Neuen Deutschland“ kein Wort. Statt dessen wird, wie so häufig, in den vergangenen Jahrzehnten, auf dem Titel der Zeitung, eine „Einmischung in die inneren Angelegenheiten der DDR“ zurückgewiesen. Gemeint ist die Entschließung des Deutschen Bundestages vor zwei Tagen, in der die Bedeutung der KSZE-Nachfolgekonferenz in Wien für die Durchsetzung der Menschenrechte in der DDR gewürdigt wurde. Die Regierung der DDR gibt dazu eine so genannte „Sprechererklärung“ ab. Sie sieht sich nach wie vor als „souveräner Staat“, der mit seinen Bürgern so umspringen kann, wie er es möchte.
Gestern wurde in den Medien eine „Umfrage“ publiziert, die nach telefonischer Befragung von etwas über 1000 Menschen festgestellt haben will, dass beinahe die Hälfte der ehemaligen DDR- Bürger dieselbe nicht als Unrechtsstaat sehen. Trotzdem sich die Demoskopen in letzter Zeit häufig so gnadenlos blamiert haben, dass die Seriosität ihrer Ergebnisse mit gutem Grund bezweifelt werden kann, wird diese Umfrage in allen Blättern verbreitet, als hätte sie das wahre Stimmungsbild erfasst. Es gibt zu viele Leute, die in der Linken endlich eine politische Kraft sehen wollen, die auch im Bund mitregieren kann. Das geht nur, wenn der Staat, für den die Linke, als sie noch SED hieß, Verantwortung hatte, nicht mehr als Unrechtsstaat, der er war, begriffen wird.