Erstmals seit dem Sommer verzeichnet die russische Armee wieder Erfolge im Donbass. Die Söldner der Gruppe Wagner feiern die Einnahme der Stadt Soledar. Dafür fordert Wagner-Chef Jewgenij Prigoschin öffentlich Anerkennung.
Am 13. Januar 2022 hat das russische Verteidigungsministerium in seiner täglichen Lagebesprechung die vollständige Einnahme von Soledar gemeldet. Dieser Erfolg sei maßgeblich auf den forcierten Einsatz von Luftwaffe, Raketentruppen und Artillerie zurückzuführen. In einer gesonderten Pressemitteilung hob das russische Verteidigungsministerium die herausragenden Einsatzleistungen der beteiligten Piloten hervor. Insgesamt hätten die Luft- und Raumfahrtstreitkräfte hervorragend mit der Luftverteidigung, den Luftlandetruppen, den Kräften für elektronische Kriegführung und den Offensivaktionen der Angriffsgruppen harmoniert. Im Wortlaut heißt es dazu:
„Die Einnahme von Soledar wurde durch die ständige Bombardierung des Feindes durch Angriffs- und Heeresflieger, Raketentruppen und Artillerie ermöglicht. Ununterbrochen führten sie konzentrierte Angriffe auf die Stellungen der ukrainischen Streitkräfte in der Stadt durch, verhinderten die Verlegung von Reserven und Munitionsvorräten und vereitelten die Versuche des Feindes, sich auf andere Verteidigungslinien zurückzuziehen.“
Das russische Verteidigungsministerium gab ferner auch Auskunft über die Verluste des Feindes. Im Zuge der durchgeführten Offensivaktion seien drei Flugzeuge der ukrainischen Luftwaffe, ein Hubschrauber und neun Raketenwerfer der Typen HIMARS, Olha- und Uragan vernichtet worden. Überdies hätten die Luftlandetruppen ein verdecktes Manöver aus einer anderen Richtung durchgeführt, wobei sie ukrainische Stellungen von überlaufenden Höhen aus angegriffen und die Stadt dadurch von Norden und Süden her blockiert hätten.
Zugleich sei es Einheiten der elektronischen Kampfbrigade gelungen, das gegnerische Kommando- und Kontrollsystem auszuschalten und damit dessen Kommunikation zu stören. Insgesamt seien siebenhundert ukrainische Soldaten getötet und mehr als dreihundert Waffen zerstört worden.
Nach dem Durchbruch in Soledar seien die russischen Truppen unverzüglich in mehreren Richtungen zum Angriff übergegangen: nämlich in Richtung Kupjansk, Krasno-Limanskoe und in Richtung Süddonezk. In den daraufhin entbrannten Kämpfen sei es hier ebenfalls zu kleineren Erfolgen gekommen, wobei Einheiten der Marineinfanterie der Baltischen Flotte in der Nähe der Siedlungen Poltawka und Uspenowka über 20 ukrainische Soldaten, zwei gepanzerte Kampffahrzeuge und zwei Fahrzeuge zerstört hätten.
Der Anfang einer längeren Niederlagenserie für Kiew?
Obwohl Soledar eigentlich nur eine Kleinstadt im Donbass ist, kommt ihr eine durchaus gewichtige Bedeutung zu. Als Verkehrsknotenpunkt ebnet sie den russischen Streitkräften den Weg in die ukrainisch kontrollierten Städte der Region. Dazu zählen Kramatorsk, Slowjansk, Sewersk und Toretsk. Für Moskau ergibt sich die Relevanz Soledars aber auch aus seiner Nähe zu dem seit Monaten umkämpften Bachmut. Das Bezirkszentrum der Region liegt nur 15 Kilometer von Soledar entfernt. Der Verlust von Bachmut würde die Unterstützung der ukrainischen Vorposten im Nordosten der Region Donezk erschweren.
Nicht zufällig also versetzt der russische Sieg in Soledar westliche Beobachter in Sorge. Nach fünf Monaten anhaltender Kämpfe müssen sich die ukrainischen Truppen nun augenscheinlich geschlagen geben. Könnte dies womöglich der Anfang einer längeren Niederlagenserie für Kiew oder gar der Auftakt zur vollständigen Eroberung des Donbass durch die russische Armee werden? Auch wenn zur Stunde noch zu früh ist, derlei Fragen abschließend zu beantworten, steht doch fest, dass der russische Sieg maßgeblich auf die Söldner der Gruppe Wagner zurückgeht. Dies wiederum steht in eklatantem Widerspruch zur soeben angeführten Pressemitteilung des Verteidigungsministeriums vom 13. Januar. Was also ist tatsächlich passiert?
In den späten Abendstunden des 6. Januar 2023 durchbrachen Wagner-Söldner und Einheiten des russischen Militärs die Verteidigungslinie der ukrainischen Armee um Soledar. Am 9. Januar schließlich räumte die stellvertretende ukrainische Verteidigungsministerin Anna Maliar einen „starken Angriff“ auf die eigenen Stellungen in Soledar ein. Nach dem gescheiterten Versuch, die Stadt vollständig einzunehmen und dem anschließenden Rückzug hätten sich die russischen Streitkräfte rasch umgruppiert, ihre Verluste kompensiert und zusätzliche Kräfte in das Stadtgebiet verlegt.
Laut Maliar sind die Russen dabei buchstäblich über die Leichen der eigenen Soldaten vorgerückt, hätten massenhaft Artillerie, Mehrfachraketenwerfer und Mörser eingesetzt und dabei sogar die eigenen Leute beschossen. In der Tat weckt dieses Vorgehen Erinnerung an die jahrhundertealte Militärdoktrin Russlands wach, wonach den eigenen Verlusten bestenfalls zweitrangige Bedeutung zukommt.
Die besten Einheiten der Gruppe Wagner nach Soledar
In einem Bericht vom 9. Januar hatten Analysten des „Institute for the Study of War“ (ISW) im Rekurs Berufung auf russische Militärblogger bereits über die Kämpfe vor dem Verwaltungsgebäude im Zentrum von Soledar berichtet. Auch russische Telegramkanäle berichteten zu dieser Zeit über intensive Häuserkämpfe im Stadtzentrum. Der britische Geheimdienst ergänzte, dass die Kämpfe auch an den Eingängen zu den verlassenen Stollen der Salzminen stattfinden würden. Demnach könnten beide Seiten die Minen nutzen, um in den Rücken des Gegners einzudringen.
Einige der Minen sind bis zu 300 Meter tief, andere sind bis zu 30 Meter hoch und etwa 200 Kilometer lang. Vor einigen Jahren wurde berichtet, dass sich in den Minen bei Soledar und Artemiwsk Waffen- und Munitionsbestände aus dem Zweiten Weltkrieg befinden könnten, darunter Thompson-Sturmgewehre, Mausergewehre, tausende Gewehre der Typen Mosin.
Die verlässlichste Quelle zur aktuellen Lage in Soledar stammt jedoch von einem ukrainischen Gewährsmann. Jurij Butusow, Chefredakteur der Zeitung „Censor.net“, hatte sich bis zuletzt in Soledar aufgehalten. Bereits am Abend des 9. Januar schilderte er, dass die russischen Streitkräfte eine Position erreicht hätten, von der aus sie die Hauptnachschublinie der Ukrainer in Soledar beschießen könnten, und setzte hinzu, dass die Lage in der Stadt für die Verteidigung kritisch sei. Demnach handele es sich zwar nicht um eine vollständige Einkreisung, eine Versorgung entlang der Hauptroute in die Stadt sei jedoch nunmehr unmöglich. Die Verteidigung erweise sich infolgedessen als kritisch.
Sergej Tscherewatyj, Sprecher der ukrainischen Streitkräfte im Osten, ging sogar noch weiter. Er nannte die Lage in Soledar als „die schwierigste an der Ostfront“. Ihm zufolge wurde die Stadt in den letzten 24 Stunden sechsundachtzigmal beschossen. Hinzu komme, dass die besten Einheiten der Gruppe Wagner nach Soledar geschickt worden seien. Trotzdem zeigte sich Tscherewatyj zuversichtlich: „Es sind die Verteidiger von Soledar, die jetzt alles tun, um den Feind zu erschöpfen, sein Offensivpotenzial so weit wie möglich zu reduzieren, so dass selbst einige kleine taktische Erfolge zu einem großen Pyrrhussieg führen.“
Am Abend des 10. Januar meldete Jewgenij Prigoschin, das gesamte Gebiet von Soledar unter Kontrolle gebracht zu haben. Zum Beweis veröffentlichte er ein Foto von sich selbst, welches ihn an der Seite von Söldnern in einer der Salzminen von Soledar zeigt. Dazu kommentierte er: „Im Zentrum der Stadt hat sich ein Kessel gebildet, in dem es zu Stadtkämpfen kommt. Die Zahl der Gefangenen wird morgen bekannt gegeben.“
Auch Präsident Selenskyj kommentierte die Lage in Soledar mit deutlichen Worten: „Alles in der Stadt ist zerstört, es gibt fast kein Leben mehr […] Das gesamte Land in der Nähe von Soledar ist mit Leichen von Insassen und Einschlagkratern übersät.
„Internen Zwist ernstere Bedrohung als die Vereinigten Staaten“
Als sich am 13. Januar schließlich auch das russische Verteidigungsministerium zur Lage in Soledar äußerte, wurde die Rolle der Gruppe Wagner nicht erwähnt. Dabei handelte es sich um ein Vorgehen, das Prigoschin nicht hinzunehmen bereit war. So veröffentlichte der Pressedienst seines Unternehmens Concord ein Statement, das aufhorchen lässt. Auf die Frage des Fernsehsenders RTVI, wie er zu den Erklärungen von US-Beamten über die Notwendigkeit zur Zerschlagung der Gruppe Wagner stehe, erwiderte Prigoschin, er halte den internen Zwist für eine viel ernstere Bedrohung als die Vereinigten Staaten.
Prigoschin wies darauf hin, dass die russischen Medien versuchten, die Gruppe Wagner in der öffentlichen Wahrnehmung herabzustufen. So werde permanent versucht, die Erfolge der Organisation anderen zuzuschreiben.
Mit markigen Worten schließlich rief Prigoschin zu einer Kehrwende auf: „Ich fordere Sie auf, die Jungs zu unterstützen, die es an der Front schwer haben, und in den Kommentaren zu erwähnen, dass sie dort sind und hart arbeiten, damit die Russen ruhig schlafen können!“Infolge zahlreicher Anfragen zur Zusammensetzung der an der Einnahme Soledars beteiligten Truppen hat das russische Verteidigungsministerium daraufhin rasch mit einer neuen Pressemitteilung reagiert. Darin heißt es:
„Im Zusammenhang mit Medienberichten über die Zusammensetzung und Beteiligung verschiedener Einheiten der russischen Truppengruppierung an der Befreiung der Stadt Soledar […] halten wir es für notwendig, Folgendes klarzustellen:
„Die Offensivaktionen in diesem taktischen Gebiet, die zur Niederlage der ukrainischen Streitkräfte und zur Einnahme von Soledar führten, wurden von verschiedenen Gruppierungen russischer Kräfte nach einem gemeinsamen Plan durchgeführt, der eine Reihe von Kampfaufgaben vorsah. Dazu gehörten, wie bereits berichtet, die Blockade der Stadt von Norden und Süden, die Isolierung des Operationsgebiets, die Verhinderung der Verlegung von Reserven des Gegners aus den benachbarten Gebieten in die Stadt und die Verhinderung des Rückzugs feindlicher Einheiten aus Soledar sowie die Feuerunterstützung der Offensive durch Angriffsflugzeuge und Artillerie.
Was den direkten Angriff auf die von der Ukraine besetzten Stadtteile von Soledar anbelangt, so wurde diese Kampfmission durch das mutige und selbstlose Handeln erfolgreich von den Freiwilligen der Angriffseinheiten der Gruppe Wagner erfolgreich durchgeführt.“
Diese Meldung ist gleich in verschiedener Hinsicht bemerkenswert. Nicht nur hat das russische Verteidigungsministerium die Gruppe Wagner zum ersten Mal seit Kriegsbeginn offiziell erwähnt, sondern damit zudem auch unmittelbar auf die Kritik des einflussreichen Schattenmannes Jewgenij Prigoschin reagiert. Darin ist ein untrügliches Zeichen für den wachsenden Einfluss zu sehen, den die Gruppe Wagner auf den Schlachtfeldern der Ostukraine geltend macht. Offenbar hält der Kreml es für unklug, die Erfolge der Gruppe nicht in gebührender Weise zu würdigen.
Surowikin zum Stellvertreter seines Nachfolgers degradiert
Eine solch prominent positionierte Affirmation für Wagner ist jedoch insofern riskant, als dadurch die vielfach unbefriedigenden Leistungen der regulären Streitkräfte noch miserabler erscheinen. Diese haben vor kurzem erneut zu einer Neubesetzung höchster militärischer Ämter geführt.
Nach gerade einmal drei Monaten hat Putin seinen berüchtigten General Surowikin am 11. Januar 2023 seines Postens als Kommandeur der russischen Streitkräfte in der Ukraine enthoben. An seiner statt soll nun Walerij Gerassimow die Initiative auf dem Schlachtfeld zurückgewinnen. Dass Surowikin seinen Platz räumen muss, ist insofern erhellend, als er eigentlich zum Lager der Silowiki – also den Eliten aus Militär und Geheimdienst – zählt, dem auch Putin angehört.
Dass der russische Präsident dennoch seinen eigenen Mann abgesetzt hat, liegt maßgeblich an den zahlreichen Rückschlagen der jüngeren Vergangenheit, wie z.B. der Zerstörung einer Kaserne mit 89 Todesopfern in der Neujahrsnacht. Hinzu kommt, dass sich Surowikin mehrfach über die Autorität von Verteidigungsminister Schoigu hinweggesetzt und eigenmächtig mit Putin kommuniziert haben soll. Dabei handelt es sich um eine Anmaßung, die Schoigu unter keinen Umständen tolerieren kann. Um den aufmüpfigen Surowikin ein für allemal in die Schranken zu weisen, hat man ihn kurzerhand zum Stellvertreter seines Nachfolgers degradiert.
Nach der Meldung Moskaus vom 13. Januar 2023 über die Einnahme Soledars hält Kiew entschieden an der Darstellung fest, wonach die Kämpfe um die Kleinstadt noch andauern. Laut einer Pressemitteilung des ukrainischen Generalstabs vom Abend desselben Tages betrifft dies neben Soledar auch Bachmut und Kreminna. Inwieweit diese Auskunft zutreffend ist, lässt sich allerdings nicht unabhängig verifizieren. Fest stehe jedoch, dass der ukrainische Generalstab etwaige Rückschläge im Donbass unter allen Umständen herunterspielen beziehungsweise so lange wie möglich zurückhalten möchte.
Das Gros der Toten entfällt auf die Alterskohorte 21 bs 23 Jahre
Das könnte möglicherweise mit den Daten zu tun haben, die das russische Verteidigungsministerium am 13. Januar 2023 zu den Verlusten der ukrainischen Streitkräfte herausgegeben hat. Demnach will man seit Kriegsbeginn insgesamt 372 Flugzeuge, 200 Hubschrauber, 2.876 unbemannte Luftfahrzeuge, 400 Boden-Luft-Raketensysteme, 7.495 Panzer und andere gepanzerte Kampffahrzeuge, 982 Mehrfachraketenwerfer, 3.820 Stück Feldartillerie sowie Mörser sowie 8.027 militärische Spezialfahrzeuge zerstört haben. Sollten diese Angaben zutreffen, wäre das für die Ukraine überaus schmerzlich. Hinzu kommt, dass Moskau seine Truppen aus einem schier unerschöpflichen Reservoir von Reservisten bedienen kann. Dieser numerischen Übermacht hat die Ukraine auf Dauer zumindest in personeller Hinsicht nichts entgegenzusetzen.
Trotzdem zeigt sich Kiew wenig beeindruckt, sondern setzt den russischen Meldungen die täglich veröffentlichten Angaben seines Verteidigungsministeriums entgegen. Zum 14. Januar 2023 sollen 3.104 Panzer, 6.173 gepanzerte Fahrzeuge, 2.090 Artillerieeinheiten, 286 Flugzeuge, 276 Hubschrauber 1.876 Marschflugkörper sowie 114.660 Soldaten vernichtet worden sein. Ohne diese Daten zu widerlegen, wird man doch sagen können, dass sie wohl stark überzeichnet sind.
Nicht zufällig führt das Nachrichtenprotal „Mediazona“, das in regelmäßigen Abständen gemeinsam mit der BBC dezidierte Angaben über die russischen Verluste veröffentlicht, deutlich konservativere Zahlen ins Feld. Bis zum 26. Dezember 2022 ließen sich insgesamt 10.711 tote russische Soldaten identifizieren. Die höchste Todesrate bezieht sich dabei auf die zweite Kriegswoche, für die man insgesamt 559 Todesfälle registriert hat. Gravierend ist auch, dass das Gros der Toten auf Angehörige der Alterskohorte 21 bis 23 Jahre entfällt, direkt gefolgt von der Kohorte 24 bis 26.
Wie auch immer man sich im Dickicht dieser Informationsflut orientieren mag, bleibt unbestritten, dass keine Seite die Verluste des Gegners beziffern kann. So wissen auch wir faktisch nichts darüber, wie viele russische Soldaten verwundet oder gefallen sind. Moskau selbst hat dazu lediglich zu Beginn des Krieges Angaben gemacht und im Juli 2022 eine Berichterstattung gerichtlich untersagt. Was bleibt, ist die Erkenntnis, dass auch die aus russischen Quellen verfügbaren Daten als nicht authentisch einzustufen sind.
Ungeachtet der tatsächlichen Verluste lässt sich sagen, dass Bachmut das nächste Ziel russischer Angriffsbemühungen sein muss. Wie Soledar ist die Stadt strategisch von großer Bedeutung. Aufgrund seines weitverzweigten Straßennetzes ist Bachmut ein wichtiger Verkehrsknoten für die russische Armee und zugleich das Aufmarschgebiet für einen Vorstoß in Richtung Kramatorsk. Sollte es Moskau gelingen, hier signifikante Erfolge zu verzeichnen, würde dies die ukrainischen Erfolge im Zeitraum von Oktober bis Dezember 2022 weitgehend zunichtemachen.
Nach zwölf Monaten des Kampfes wären die Zeichen im Donbass damit wieder annährend auf den Ausgangspunkt gestellt und die Gefallenen auf beiden Seiten umsonst gestorben.