Am 24. Januar 2024 stürzte ein Militärtransportflugzeug bei Belgorod ab. Moskau behauptet, dass dabei 66 ukrainische Kriegsgefangene ums Leben kamen. Kiew bezweifelt das. Eine Spurensuche.
„Es wird nirgends so viel gelogen, wie vor der Wahl, während des Krieges und nach der Jagd“. Mit diesen Worten hatte Reichskanzler Bismarck einst betont, dass im Krieg nicht nur der bewaffnete Konflikt im Fokus steht, sondern auch die Kontrolle über die Auslegung entscheidender Ereignisse eine zentrale Rolle spielt.
Der Absturz einer russischen Il-76 (Im Foto oben ein baugleiches Flugzeug) am 24. Januar 2024 in der Oblast Belgorod ist zweifellos ein Beispiel für dieses Prinzip. Angesichts eines vergleichbaren Vorfalls am 17. Juli 2014 deutet die mysteriöse Natur dieses Ereignisses darauf hin, dass es bald als ein weiteres signifikantes Kapitel dieser Art im Verlauf des Ukraine-Konflikts betrachtet werden könnte.
Damals wurde ein Passagierflugzeug der Malaysia Airlines (Flug MH17) über der Ostukraine abgeschossen. Die Boeing 777-200ER befand sich auf dem Weg von Amsterdam nach Kuala Lumpur, als sie über dem umkämpften Gebiet abstürzte. Alle 298 Menschen an Bord, darunter Passagiere und Besatzungsmitglieder, kamen bei diesem tragischen Vorfall ums Leben.
Internationale Untersuchungen ergaben, dass das Flugzeug durch eine Luftabwehrrakete vom Typ Buk-M1-2 abgeschossen worden war. Die genauen Umstände und die Verantwortlichen für den Abschuss sind ungeklärt. Im Nachhinein schoben sich Kiew und Moskau gegenseitig die Verantwortung zu. Bis heute ist unklar, ob die Rakete von pro-russischen Separatisten oder vom ukrainischen Militär abgefeuert wurde.
„Die Verantwortung wird alle erreichen“
Auch im Falle der abgestürzten Il-76 ist nun ein Streit über die Urheberschaft der Katastrophe entbrannt. Moskau behauptet, dass das Flugzeug 65 ukrainische Militärangehörige in Gefangenschaft transportiert habe, um sie an der Grenze zur Region Charkiw gegen russische Soldaten auszutauschen.
Damit hat der Kreml eine klare Position hinsichtlich Absturzursache eingenommen. Auf Telegram warf der Sonderbeauftragte Botschafter des russischen Außenministeriums, Rodion Miroschnik, Kiew vor, die Maschine abgeschossen und damit die Möglichkeit jeglicher Vereinbarungen zunichte gemacht zu haben.
„Kiew hat einen Akt barbarischer Unvernunft begangen, der eine totale Verachtung des menschlichen Lebens zeigt. Durch das Brechen von Vereinbarungen haben sie unsere Piloten und Begleitkämpfer getötet und ihre eigenen Landsleute vernichtet [...] Dieser blutige Vorfall wirft ernsthafte Fragen zur Möglichkeit von Vereinbarungen auf. Die Garantien, die sie geben – sofern sie noch nicht gebrochen wurden – werden zweifellos verletzt werden. An dieser Tatsache gibt es keinen Zweifel.“
Wie Miroschnik betonte, habe Kiew den Krieg bereits Jahr 2014 mit dem Abschuss des malaysischen Passagierflugzeugs MH17 begonnen. Die bevorstehende Untersuchung werde Antworten auf viele Fragen liefern, die diese Tragödie begleiten, und die bereits offensichtlichen Schlussfolgerungen mit Namen und Details ergänzen.
„Das Verbrechen wurde vom Regime in Kiew begangen, und es spielt überhaupt keine Rolle, wer aus der Junta diesen Befehl zum Abschuss gab, ob er von der gesamten nationalsozialistischen Versammlung abgesegnet wurde oder ob es die Entscheidung eines verrückten Fanatikers war. Die Verantwortung wird alle erreichen“, fasste der russische Diplomat zusammen.
Spuren von Raketen-Durchschlägen
Die ukrainische Militärführung hat unterdessen indirekt eingeräumt, dass ihre Streitkräfte möglicherweise in den Absturz des Flugzeugs verwickelt waren. Kiew will jedoch nichts von der Mission des Il-76-Flugs gewusst haben und betont, dass die Maschine Munition transportiert habe. Sollten ukrainische Kriegsgefangene ums Leben gekommen sein, sei die russische Führung schuld, sie auf dem Luftweg zur Grenze geschickt zu haben.
Bislang lässt sich keine der Versionen belegen. Die russische Erklärung weist jedoch einige Inkonsistenzen auf. Überdies gibt es keine belastbaren Informationen darüber, ob ukrainische Dienste von der Luftbeförderung der Gefangenen gewusst haben.
Fest steht, dass eine Il-76 sowohl Fracht als auch Passagiere transportieren kann. Unstrittig ist auch, dass der Absturz auf einem Höhenzug nahe dem Dorf Jablonowo erfolgte, das etwa 65 Kilometer vom internationalen Flughafen Belgorod entfernt liegt. Ein von Anwohnern erstelltes Video zeigt das brennende und zerstörte Flugzeug. Am Absturzort wurden Teile des Rumpfes mit Spuren von Raketen-Durchschlägen gefunden. Die Bilder ähneln den Schäden am Wrack der malaysischen Boeing 777-200ER. Daher besteht kein Zweifel, dass die Il-76 von einer Rakete aus einem Luftverteidigungssystem getroffen wurde.
Der Absturzort liegt zudem in der Nähe der für den Landeanflug auf den Flughafen Belgorod markierten Route. Das Dorf Jablonowo befindet sich hingegen zwischen den Navigationspunkten ABDON und ABALU. Während des Fluges müssen die Flugzeuge zwischen diesen Punkten von 2.500 Metern auf 850 Meter oder höher am Punkt ABALU absinken.
Die ukrainische Seite hat bestätigt, dass für den 24. Januar 2024 ein umfangreicher Gefangenenaustausch geplant war. Andrij Jusow, Angehöriger des ukrainischen Militärnachrichtendienstes, weist darauf hin, dass der Transport von Gefangenen aus russischen Gefängnissen zum Austauschort an der Grenze gängige Praxis ist. Diese Aussage wird durch Informationen des russischen Verteidigungsministeriums und frühere Austausche gestützt, bei denen Gefangene ebenfalls mit Flugzeugen zum Flughafen Belgorod gebracht wurden.
Mit deaktiviertem Transponder unterwegs?
Nach dem Flugzeugabsturz veröffentlichte Margarita Simonjan eine Liste von angeblich 65 Gefangenen an Bord der Il-76. Die Echtheit des Dokuments wurde von unabhängigen Quellen nicht bestätigt. Wie das folgende Beispiel zeigt, sind zudem Zweifel angebracht.
So war der ukrainische Kriegsgefangene Maxim Anatoljewitsch Konowalenko, der laut Simonjans Liste am 24. Januar zu Tode kam, bereits am Morgen des 3. Januar 2024 ausgetauscht worden. Dies geht aus der Liste von Freigelassenen hervor, die auf der ukrainischen Website „Glavkom“ einsehbar ist. Zwar ist Konowalenko nicht in einem Video des Austauschs zu sehen. Dies bedeutet jedoch nicht, dass er nicht dort gewesen ist.
Ähnlich nebulös sind die Flugumstände. Allem Anschein nach war das Flugzeug mit deaktiviertem Transponder unterwegs. Auf öffentlichen Flugradaren, die Maschinen anhand ihrer Transponderdaten verfolgen, sind für den Morgen des 24. Januar 2024 keine Flüge im Bereich Belgorod nachweisbar; daher ist es unmöglich, die Ursachen des Absturzes aufzuklären. Folglich lässt sich die Version des russischen Verteidigungsministeriums weder bestätigen noch widerlegen.
Ebenso bleibt unklar, ob der Flug mit der Ukraine abgestimmt war, was gemäß dem internationalen humanitären Kriegsrecht erforderlich wäre. Die Genfer Konvention über die Behandlung von Kriegsgefangenen besagt, dass das Land, das Menschen in Gefangenschaft hält, „alle erforderlichen Vorsichtsmaßnahmen treffen muss, um ihre Sicherheit zu gewährleisten“. Dies gilt insbesondere während des Transports per Luft oder See.
Moskau hat bislang keine Beweise dafür vorgelegt, dass der Flug mit Kiew abgestimmt wurde. Gleichzeitig hat auch die Ukraine nicht nachgewiesen, dass Russland sie nicht über den Transport von Kriegsgefangenen mit dem abgestürzten Flugzeug informiert hat. Damit steht Aussage gegen Aussage.
In welchem Land wurde die Rakete hergestellt?
Dies gilt auch insofern, als Moskau keine Beweise dafür führt, dass sich Kriegsgefangene an Bord befanden, während die Ukraine keine Daten über den Transport von Munition mit dem Flugzeug präsentiert hat. Die Explosion während des Flugzeugabsturzes, die von Einheimischen auf Video aufgenommen wurde, spricht eher gegen die ukrainische Version.
Schließlich ist auch die Art der Munition unbekannt, die das Flugzeug getroffen hat. Unklar bleibt auch, aus welchem System sie stammt. Fest steht lediglich, dass die Art der Schäden die Beteiligung von Saboteuren mit einem tragbaren Luftverteidigungssystem ausschließt. Das russische Verteidigungsministerium versichert, dass es sich um Luftverteidigungssysteme Patriot oder IRIS-T handelte, die von der westlichen Koalition an die Ukraine geliefert wurden.
Diese Behauptung lässt sich teilweise entkräften. Die deutsche IRIS-T hat eine maximale Einsatzreichweite von 25 Kilometern, was sie als Mittelstrecken-System klassifiziert. Da die Absturzstelle etwa 50 Kilometer von der ukrainischen Grenze entfernt liegt, kann IRIS-T ausgeschlossen werden.
Anders sieht es hingegen bei den an die Ukraine gelieferten Patriot-Systemen aus. Diese sind teilweise mit der PAC-2-Abfangrakete ausgestattet, die eine Reichweite von bis zu 160 Kilometern hat. Eine grobe Berechnung zeigt, dass das Patriot-System theoretisch Ziele über Jablonowo in einer Höhe von 850 Metern und tiefer hätte angreifen können.
Dafür wäre es nötig gewesen, die Rakete von Lypzi in der Region Charkiw aus abzufeuern. So nimmt nicht wunder, dass das russische Verteidigungsministerium dieses Gebiet als möglichen Abschussort angibt. Darüber hinaus könnten jedoch auch andere Optionen möglich sein. Dazu zählt etwa der SAMP/T-Komplex, der von Frankreich und Italien geliefert wurde, sowie sowjetische Langstreckenkomplexe wie das S-300.
Wie viele Menschen waren tatsächlich an Bord?
Theoretisch kann auch nicht ausgeschlossen werden, dass das Flugzeug versehentlich von der russischen Luftverteidigung getroffen wurde. Verluste durch Eigenbeschuss mögen wegen ihrer politischen Brisanz verschwiegen werden. Das ändert aber nichts daran, dass sie immer wieder vorkommen. Gleichwohl haben bisher weder russische Quellen noch ukrainische Geheimdienste eine solche Version vorgebracht.
Die augenscheinlich bedeutendste Diskrepanz betrifft allerdings die offiziell bekannt gegebene Zahl der Todesopfer. Neben den sechs Besatzungsmitgliedern wurde auch die Anzahl der Flugbegleiter, die die Gefangenen eskortierten, genannt – insgesamt drei Personen. Ukrainische Gefangene, die während des vorherigen Austauschs nach Belgorod geflogen wurden, behaupten jedoch, von mindestens 20 Begleitern betreut worden zu sein. Diese Differenz lässt sich schwer erklären.
Schließlich bestehen auch hinsichtlich des Flugweges Unsicherheiten. Das einzige veröffentlichte Video erweckt den Eindruck, dass sich das Flugzeug vor dem Absturz gar nicht entlang der üblichen Anflugroute von Nordost nach Südwest bewegte, sondern von Südwesten nach Norden. Dies legt die Vermutung nahe, dass es nicht in der Landung begriffen war, sondern abhob.
Obwohl es derzeit unmöglich ist, die Hintergründe des Absturzes der Il-76 aufzuklären, kommen russische Politiker nicht umhin, den Vorfall in ihrem Sinne zu deuten. Leonid Sluzki, Vorsitzender des Ausschusses für internationale Angelegenheiten der Staatsduma und Führer der LDPR, äußerte gegenüber der Nachrichtenagentur TASS:
„Die Weltgemeinschaft sollte endlich begreifen, welches Ungeheuer der kollektive Westen in der Ukraine geschaffen hat. Die Verantwortung für Kriegsverbrechen wie den grausamen Beschuss von Kriegsgefangenen in der Luft sowie der Mannschaft, die eine humanitäre Mission zur deren Beförderung durchführte, liegt hauptsächlich bei den Regierungskreisen in Washington und Brüssel.“
Waffen aus dem Nahen Osten befördert?
Mittlerweile hat auch der Menschenrechtsbeauftragte des ukrainischen Parlaments, Dmytro Lubinez, bestätigt, dass in Simonjans Liste Gefangene aufgeführt sind, die bereits zuvor ausgetauscht wurden. Zuvor hatte Lubinez darauf hingewiesen, dass der Koordinationsstab für den Gefangenenaustausch keine Anzeichen dafür gesehen habe, dass sich so viele Menschen an Bord des Flugzeugs befanden.
Gemäß einer ukrainischen Quelle trug die Il-76 das Kennzeichen RA-78830. Die Route der Maschine soll zunächst über Ägypten, Saudi-Arabien, das Rote Meer und den Iran geführt haben. In der Nähe von Syrien soll das Flugzeug dann vom Radar verschwunden und erst wieder bei Belgorod aufgetaucht sein.
Diese Darstellungen legen nahe, dass die Il-76 Waffen aus dem Nahen Osten beförderte. Die Richtigkeit dieser Behauptung ist ebenso schwer zu überprüfen wie die Angabe über die Anwesenheit von 66 ukrainischen Kriegsgefangenen.
Es ist durchaus denkbar, dass die scharfen Schuldzuweisungen Russlands dazu dienen sollen, von den tatsächlichen Ursachen des Absturzes abzulenken. Dennoch bleibt die Möglichkeit bestehen, dass auch die Ukraine versucht, ihre eigenen Fehler zu vertuschen. Unabhängig davon, welche Seite man bevorzugt, steht fest, dass die Wahrheit über tragische Ereignisse nicht zum ersten Mal im Nebel des Krieges verborgen bleibt.
Dr. Christian Osthold ist Historiker mit dem Schwerpunkt auf der Geschichte Russlands. Seine Monographie über den russisch-tschetschenischen Konflikt ist in der Cambridge University Press rezensiert worden.