Zum 75. Jubiläum der NATO hat US-Außenminister Blinken die Möglichkeit einer Aufnahme der Ukraine in Aussicht gestellt. Doch steht das im Einklang mit den Grundsätzen der NATO und was bedeutet es für den Krieg mit Russland?
Als die NATO, oder auch Nordatlantikpakt genannt, am 4. April 1949 gegründet wurde, geschah dies vor dem Hintergrund der wachsenden Spannungen des Kalten Krieges zwischen den westlichen Demokratien und der Sowjetunion. Dabei handelte es sich um einen Zustand, dessen Ursprünge Winston Churchill bereits am 5. März 1946 mit seiner Rede „The Sinews of Peace“ am Westminster College beschrieben hatte. Ein Schatten sei über die Allianz der Sieger des Zweiten Weltkriegs gezogen. Und niemand wisse, was die Sowjetunion und die Organisation des Weltkommunismus tun würden.
Um Europa nicht der erdrückenden sowjetischen Militärmaschinerie auszuliefern, fanden sich zwölf Gründungsmitglieder zusammen: Belgien, Dänemark, Frankreich, Island, Italien, Kanada, Luxemburg, die Niederlande, Norwegen, Portugal, das Vereinigte Königreich und die Vereinigten Staaten. Gemeinsam unterzeichneten sie in Washington den Nordatlantikvertrag, die Gründungsakte der NATO.Dieser legte die grundlegenden Prinzipien und Ziele der Militärallianz fest. In der Präambel heißt es:
„Die Parteien dieses Vertrags […] sind entschlossen, die Freiheit, das gemeinsame Erbe und die Zivilisation ihrer Völker, die auf den Grundsätzen der Demokratie, der Freiheit der Person und der Herrschaft des Rechts beruhen, zu gewährleisten. Sie sind bestrebt, die innere Festigkeit und das Wohlergehen im nordatlantischen Gebiet zu fördern. Sie sind entschlossen, ihre Bemühungen für die gemeinsame Verteidigung und für die Erhaltung des Friedens und der Sicherheit zu vereinigen.“
Damit war die NATO seit ihrer Gründung als Defensivbündnis ausgerichtet. Beitreten konnte nur, wer eine Einladung erhielt. Die Beitrittsurkunde musste in Washington hinterlegt werden. Sein Kernelement bestand in der Verpflichtung zur kollektiven Verteidigung im Falle eines Angriffs auf eines der Mitgliedsländer (Artikel 5).
Warschauer Pakt als Antwort auf NATO
Das Ziel der NATO bestand demnach nicht darin, ein militärisches Potenzial zur Eroberung neuer Gebiete zu schaffen, sondern sich für einen sowjetischen Angriff auf Westeuropa zu rüsten. Aus diesem Grund traten 1952 Griechenland und die Türkei bei, gefolgt von der Bundesrepublik Deutschland im Jahr 1955.
Die UdSSR und ihre Satelliten schlossen daraufhin am 14. Mai 1955 den Warschauer Pakt. Sein Hauptziel war es, eine militärische Allianz zwischen den kommunistischen Ländern Osteuropas unter Führung der Sowjetunion zu schaffen, um sie gegen eine potenzielle Bedrohung seitens der NATO zu vereinen und die sowjetische Hegemonie über Osteuropa zu festigen.
Im Zuge der politischen Umwälzungen, welche die Region seit 1989 erfassten und letztlich zur Liquidierung der UdSSR führten, wurde der Warschauer Pakt am 1. Juli 1991 aufgelöst. Dieses Ereignis markierte das Ende der militärischen Allianz zwischen den kommunistischen Ländern Osteuropas und war ein bedeutender Schritt hin zur Beendigung des Kalten Krieges.
Im Gegensatz zum Warschauer Pakt blieb die NATO nicht nur bestehen, sondern sollte sich in der Folgezeit auch erheblich ausdehnen. Diese als „Osterweiterung“ bezeichnete Expansion wurde später in Russland kontrovers diskutiert. Ursprünglich hatte Boris Jelzin jedoch Signale der Annäherung gesendet.
Bei einem Treffen mit Bill Clinton, das am 14. Januar 1994 in Nowo-Ogarjewo stattfand, äußerte er, dass Russland im Falle einer NATO-Erweiterung als erstes dem Bündnis beitreten müsse. Dies geht aus dem Protokoll der Unterhaltung hervor, welches vom Nationalen Sicherheitsarchiv der USA freigegeben wurde.
Jelzin wollte Russland in der NATO
Damals äußerte Jelzin: „Es ist notwendig, eine Art Kartell zu schaffen, das die USA, Russland und die europäischen Länder umfasst und zur Stärkung der internationalen Sicherheit beiträgt.“ Dem russischen Präsidenten schwebte damals vor, nach Russland auch andere Staaten in Mittel- und Osteuropa aufzunehmen. Die Initiative mag schwer umsetzbar und daher unrealistisch gewesen sein. Dennoch zeigte sie Jelzins Bereitschaft, neue Wege zu beschreiten.
Clintons Reaktion auf das Angebot wird im Protokoll als zurückhaltend bewertet. Anstatt direkt auf die Idee einzugehen, spricht er über die Größe Russlands. Das von Jelzin vorgeschlagene Bündnis oder die Mitgliedschaft eines Landes in der NATO erwähnt er nicht.
Trotz Clintons reservierter Haltung wäre es falsch zu behaupten, dass die Idee einer NATO-Erweiterung in den USA in den 1990er Jahren ausschließlich positiv bewertet wurde. Tatsächlich gab es innerhalb der politischen Elite Bedenken, dass der Beitritt osteuropäischer Staaten zur NATO sehr gefährlich sein, da dies das Risiko einer Eskalation der Beziehungen zu Russland erhöhen könnte.
Diese Meinung vertraten auch der republikanische Spitzenpolitiker Patrick Buchanan und der prominente Journalist Willam Pfaff. Joe Biden, der zum Ende der 1990er Jahre den Ausschuss für internationale Beziehungen des US-Senats leitete, profilierte sich hingegen als energischer Fürsprecher. Die Aufnahme osteuropäischer Länder bezeichnete er als „Korrektur eines historischen Unrechts, das den Polen, Tschechen und Ungarn von Josef Stalin aufgezwungen wurde.“
In einer Anhörung des Senatsausschusses für auswärtige Angelegenheiten im Jahr 1997 legte Biden entschieden den Fall dar, dass die Vereinigten Staaten langfristig eine starke NATO-Allianz aufrechterhalten sollten. „Die Vereinigten Staaten sind eine europäische Macht“, erklärte er. „Wir haben nicht nur ein Interesse an den Ländern westlich der Oder, sondern auch am Schicksal der 200 Millionen Menschen, die in den Nationen zwischen der Ostsee und dem Schwarzen Meer leben.“
Persönliches Verhältnis zwischen Wladimir Putin und George W. Bush
Diese Position setzte sich schließlich durch, woraufhin im Laufe der Zeit immer mehr NATO-Länder für eine Erweiterung des Militärbündnisses stimmten, die 1999 umgesetzt wurde.
Trotz der allgemeinen Besorgnis kam es nicht sofort zu einer Verschlechterung der Beziehungen zu Russland. Obwohl der Kreml die Erweiterung der NATO als unangenehm empfand, gab es keine vehementen Proteste. Es scheint, dass diese vergleichsweise milde Reaktion ein Anreiz für weitere Aufnahmen gewesen sein könnte.
Die Entscheidung für eine zweite Erweiterung wurde bereits im Jahr 2002 getroffen, kurz nach den Ereignissen vom 11. September. Zu dieser Zeit waren die Beziehungen zwischen Russland, den USA und der NATO auf ihrem Höhepunkt. Es entstanden enge partnerschaftliche Beziehungen, einschließlich eines persönlichen Verhältnisses zwischen Wladimir Putin und George W. Bush.
Unter ihrer Ägide wurde der Vertrag über die Reduzierung strategischer Angriffskapazitäten unterzeichnet und die Römische Erklärung über die Schaffung des Russland-NATO-Rates auf Initiative Russlands verabschiedet. Wladimir Putin besuchte Bush 2007 sogar auf dessen Ranch in Texas.
Im Jahr 2004 erfolgte dann die zweite Osterweiterung, die als die größte in der Geschichte der NATO in Erinnerung bleiben sollte. Gleich sieben Staaten wurden damals aufgenommen, darunter die ehemaligen Sowjetrepubliken Lettland, Litauen und Estland. Infolgedessen hatte sich die politische Landkarte in Europa über Nacht grundlegend verändert. Bis heute sind dem Bündnis vier weitere Länder dem beigetreten: Montenegro (2017), Nordmazedonien (2020) sowie Finnland (2023) und Schweden (2024). Damit hat die NATO nun 32 Mitglieder.
„Ich halte das für einen tragischen Fehler“
Es ist immer schwierig für betroffene Akteure, über Jahrzehnte gewachsene Strukturen zu beseitigen, da dies oft mit dem Verlust von Macht und Einfluss einhergeht. Dennoch ist es möglich, wie die Auflösung des Warschauer Pakts zeigt. Wie Joe Biden am 18. Juni 1997 in einer Rede vor dem „Atlantic Council“ herausstellte, gab es für die USA nur zwei Möglichkeiten: Entweder die NATO würde aufgelöst oder ihre Existenz durch Expansion abgesichert.
Zu den prominentesten Kritikern dieser Sichtweise zählte George F. Kennan, der als Architekt der amerikanischen Containment-Politik bekannt ist. Als der US-Senat am 2. Mai 1998 über die Aufnahme von Polen, Tschechien und Ungarn in die NATO abstimmte, äußerte Kennan seinen Unmut in einem Interview mit der New York Times:
„Ich denke, die Russen werden allmählich ziemlich negativ reagieren, und das wird ihre Politik beeinflussen. Ich halte das für einen tragischen Fehler. Es gab keinen Grund für diese Aktion. Niemand bedrohte irgendjemand anderen [...] Wir haben uns verpflichtet, eine ganze Reihe von Ländern zu schützen, obwohl wir weder die Mittel noch die Absicht haben, dies in irgendeiner Weise ernsthaft zu tun.“
Dieses Zitat kann als Vorlage für die Argumentation jener Personen dienen, die heute die Aufnahme der Ukraine in die NATO ablehnen. Ihre Behauptung lautet, dass die Ukraine die Aufnahmekriterien für einen Beitritt nicht erfüllt und dass dieser das Risiko einer direkten Konfrontation mit Russland erhöht.
Doch ist das tatsächlich der Fall? Zunächst ist festzuhalten, dass die Ukraine nach wie vor mit eklatanten Defiziten in der Demokratie zu kämpfen hat, die eng mit ihrem anhaltenden Korruptionsproblem verbunden sind.
Demokratisches System in der Ukraine dysfunktional
Im Jahr 2012 wurde die Ukraine von Ernst & Young neben Kolumbien und Brasilien als einer der korruptesten Staaten von insgesamt 43 untersuchten Ländern eingestuft. Zwei Jahre später bezeichnete The Guardian die Ukraine als „die korrupteste Nation in Europa“. Eine Umfrage von Ernst & Young im Jahr 2017 ergab, dass Experten die Ukraine als das neuntkorrupteste Land von 53 untersuchten Ländern betrachteten.
Diese Einschätzung hat sich auch nach Beginn des Krieges nicht geändert. Im Transparency International Corruption Perceptions Index (CPI) erhielt die Ukraine 2023 eine Punktzahl von 36 auf einer Skala von 0 (sehr korrupt) bis 100 (sehr sauber).
Insgesamt zeigt sich, dass das demokratische System in der Ukraine dysfunktional ist. Im Bertelsmann Transformation Index (BTI) für Demokratie erzielte die Ukraine 2024 eine Punktzahl von 7,05 von 10, was sie als „defekte Demokratie“ klassifiziert. Auch ihrer Marktwirtschaft werden mit 5,69 Punkten erhebliche Funktionsdefizite attestiert.
Die Korruption in der Ukraine bleibt auch in Kriegszeiten ein Problem, wie sich beispielsweise im August 2023 zeigte, als Präsident Selenskyj alle Leiter von Rekrutierungsbüros entließ, nachdem bekannt geworden war, dass sich Wehrpflichtige vom Militärdienst freikaufen konnten.
Auch militärisch ist die Perspektive ernüchternd. Obwohl die ukrainische Armee nach zwei Jahren Krieg über profunde Kampferfahrung verfügt, ist sie nicht in der Lage, ohne ausländische Hilfe zu überleben, sondern stark auf Waffenlieferungen aus dem Westen angewiesen.
Präsident Selenskyj erklärte Ende März, dass die Ukraine den Kampf ohne US-Militärhilfe nicht fortsetzen könne. Er bezog sich dabei auf ein Paket im Umfang von 60 Milliarden Dollar, das seit Dezember 2023 vom US-Kongress zurückgehalten wird und vor allem für die Ukraine bestimmt ist.
Hinzu kommt, dass ein Beitritt der Ukraine zur NATO unmöglich ist, solange sich das Land im Krieg mit Russland befindet. Dies ergibt sich aus Artikel 5 des Nordatlantikvertrags von 1949, der besagt, dass sich alle Mitglieder verpflichten, einander im Kriegsfall militärisch beizustehen. Da ein Angriff auf ein Mitglied als Angriff auf alle Mitglieder angesehen wird, würde ein Krieg mit Russland unweigerlich die gesamte NATO involvieren.
So viel ukrainisches Territorium wie möglich besetzen
Vor dem Hintergrund der genannten Implikationen stellt sich die Frage, warum die NATO eine Aufnahme der Ukraine anstrebt, wie jüngst auf der 75. Jubiläumsfeier erklärt wurde.Unstrittig ist, dass diese Bemühungen in erster Linie darauf abzielen, ein deutliches Signal der Entschlossenheit an Moskau zu senden. Die NATO möchte damit klarstellen, dass sie die Ukraine weiterhin unterstützen wird. Dies spiegelt sich auch in der Initiative von Generalsekretär Jens Stoltenberg wider, der die Einrichtung eines Fünfjahresfonds in Höhe von 100 Milliarden Euro für die Ukraine vorgeschlagen und dafür breite Zustimmung der NATO-Staaten erhalten hat.
Darüber hinaus bietet die Aussicht auf einen NATO-Beitritt der Ukraine auch Sicherheitsgarantien für die Zeit nach einem möglichen Friedensschluss. Sollte es gelingen, den Konflikt auf diplomatischem Wege beizulegen, würde eine Integration in die NATO dazu führen, dass Russland weitere Expansionspläne aufgeben müsste, da es eine direkte Konfrontation mit der NATO vermeiden will.
Die Erkenntnis, dass die Ukraine nach Kriegsende der NATO beitreten wird, könnte jedoch auch zu einer Intensivierung der russischen Bemühungen führen. Demnach würde Moskau versuchen, so viel ukrainisches Territorium wie möglich zu besetzen, bevor die Kampfhandlungen durch einen Friedensvertrag beendet werden.
Präsident Selenskyj ist überzeugt, dass genau dies dem russischen Kalkül entspricht. Auf einer jüngst in Kiew mit dem finnischen Präsidenten Alexander Stubb gehaltenen Pressekonferenz erklärte er, dass Moskau zum 1. Juni 2024 die Mobilisierung von 300.000 Mann plane.
Ensthafter Plan oder eher ein taktisches Manöver?
Die Ukraine hat darauf mit der Unterzeichnung des novellierten Gesetzes „Über die Wehrpflicht“ reagiert, das das Einberufungsalter von 27 auf 25 Jahre senkt. Wegen seiner Unbeliebtheit war das bereits am 30. Mai 2023 vom Parlament angenommene Gesetz bislang nicht von Selenskyj unterzeichnet worden.
Insgesamt lässt sich feststellen, dass die Ukraine derzeit nicht die Bedingungen für eine NATO-Mitgliedschaft erfüllt. Es bleibt daher unklar, ob die Ankündigung, die Ukraine in Zukunft aufzunehmen, auf einem ernsthaften Plan beruht oder eher ein taktisches Manöver darstellt, um Kiew für die Zeit nach einem Friedensschluss abzusichern.
Es ist auch offensichtlich, dass Russland wahrscheinlich nur den NATO-Beitritt eines verkrüppelten ukrainischen Rumpfstaates akzeptieren würde, dessen Beitrag zum Bündnis noch geringer wäre als der aktuelle. Bis heute behauptet Wladimir Putin, dass die Möglichkeit einer Aufnahme der Ukraine einer der Gründe für den Angriff gewesen sei.
Letztendlich hängt das mögliche Szenario wesentlich vom weiteren Verlauf des Krieges ab. Falls die Ukraine nicht bald die dringend benötigte militärische Unterstützung erhält, könnte 2024 zu einem „annus horribilis“ für Kiew werden.
Sollte es der russischen Armee in den kommenden Wochen gelingen, einen Durchbruch zu erzielen – die aktuellen Bemühungen des Kremls deuten darauf hin – würde das Thema eines NATO-Beitritts endgültig auf Eis gelegt werden. Daher ist jetzt vor allem materielle Hilfeleistung entscheidend, anstatt bloßer Versprechungen für die Zukunft.
Die NATO ist die zentrale Komponente der westlichen Sicherheitsarchitektur. Sie hat nach 1949 sichergestellt, dass West- und Mitteleuropa vor sowjetischer Aggression geschützt war. Ihre Abwicklung hätte weitreichende Konsequenzen, vor allem für Deutschland und Europa. Dennoch sollte sich das Bündnis auf seine Kernzuständigkeiten besinnen, anstatt eine Überdehnung in Kauf zu nehmen. Die Sicherung des Friedens muss nicht zwangsläufig die Aufnahme disparater Staaten bedeuten.
Dr. Christian Osthold ist Historiker mit dem Schwerpunkt auf der Geschichte Russlands. Seine Monographie über den russisch-tschetschenischen Konflikt ist in der Cambridge University Press rezensiert worden. Seit 2015 ist Osthold vielfach in den Medien aufgetreten.