Im Juni könnte eine neue russische Offensive beginnen. Während Moskau einen Durchbruch der ukrainischen Linien vorbereitet, arbeitet Kiew fieberhaft daran, Nachschub an die Front zu bringen. Ein Überblick über die aktuellen Kräfteverhältnisse.
Seit Beginn des Krieges ist die militärische Lage in der Ukraine durch eine überwältigende russische Überlegenheit an Waffen und Material geprägt. Dank der Unterstützung aus dem Westen konnte Kiew eine Niederlage bislang abwenden. Nachdem der Ukraine zuletzt Waffen und Soldaten ausgegangen waren, könnte sich dies nun ändern. Es wird immer deutlicher, dass die ukrainische Armee den Herausforderungen nicht mehr gewachsen ist.
Der größte Trumpf der russischen Armee liegt zweifellos in ihrer Luftüberlegenheit. Diese basiert nicht nur auf Einsätzen von Su-24 oder Su-34 über Orten wie Charkiw oder den Grenzregionen der Oblast Sumy, sondern auch auf dem Abwurf gusseiserner Bomben durch Su-25 auf Ziele entlang der Front, wie etwa Tschassiw Jar. Trotz ihrer Ungenauigkeit richten die Sprengkörper verheerenden Schaden an.
Auch das Flug- und Bodenpersonal der Russen ist weit überlegen. Russische Piloten verfügen über mehr Erfahrung als die üblicherweise schnell umgeschulten ukrainischen Kräfte. Zudem hat Moskau mehr Start- und Landebahnen zur Verfügung, was es seinen Luftstreitkräften ermöglicht, schneller und häufiger zuzuschlagen. Zusätzlich verfügt Moskau über mehrere AWACS-Flugzeuge (Airborne Warning and Control System). Diese Aufklärungsmaschinen, von denen die Ukraine bislang zwei abgeschossen hat, sind im Kampf um die Luftherrschaft von entscheidender Bedeutung, weil sie detaillierte Lagebilder liefern, die für Präzisionsschläge genutzt werden.
Ein effektiver Kampf gegen die russische Luftwaffe kaum möglich
Die ukrainische Luftwaffe besteht hauptsächlich aus MiG-29 Jets und sowjetischen Kampfhubschraubern. Die Mehrheit der verfügbaren Flugzeuge stammt mittlerweile aus den Beständen ehemaliger Staaten des Warschauer Pakts. Zu den Ländern, die Flugzeuge geliefert haben, gehören Bulgarien (16 MiG-29 und 14 Su-25), Polen (28 MiG-29) und die Slowakei (12 MiG-29). Am 25. Oktober 2023 gab das russische Verteidigungsministerium bekannt, seit Beginn des Krieges 521 ukrainische Flugzeuge zerstört zu haben.
Kiew hofft daher auf die F-16. Die Niederlande haben zugesagt, 24 Jets bereitzustellen, Norwegen 22, Dänemark 19 und Belgien eine nicht näher spezifizierte Anzahl. Die ersten Lieferungen werden voraussichtlich Mitte 2024 erfolgen, aber die F-16 könnten sogar noch vor Beginn des Sommers eintreffen, sagte der belgische Premierminister Alexander De Croo am Rande eines Treffens des Europäischen Rates am Donnerstag, den 18. April.
Auch wenn in den kommen Wochen erstmals westliche Kampfflugzeuge in der Ukraine eintreffen, ist die Zahl verfügbarer Piloten begrenzt, deren Ausbildung zehn Monate dauert. Gerade einmal ebenso viele Männer werden in Europa für die F-16 ausgebildet. Unter diesen Umständen erscheint ein effektiver Kampf gegen die russische Luftwaffe kaum möglich.
Auch russische Aufklärungsdrohnen bleiben eine Bedrohung, da sie oft im operativen Hinterland an der dritten Verteidigungslinie eingesetzt werden. Sie verfügen mittlerweile über neue Optiken und sind darauf ausgerichtet, dem Druck der Störsender zu entgehen.
Mit ihrer Hilfe bringen die Russen ihre ballistischen Raketen des Typs „Iskander“ sowie vergleichbare Marschflugkörper aus nordkoreanischer Produktion ins Ziel. In letzter Zeit hat die Anzahl der Angriffe auf das ukrainische Hinterland deutlich zugenommen, wobei vor allem Überführungen und Eisenbahnbrücken ins Visier genommen wurden.
Wiederherstellung ausgemusterter tragbarer Flugabwehrraketen
Das postsowjetische Luftabwehr-Arsenal der Ukraine, bestehend aus Flugabwehrraketen wie „Osa“, „Strela“ oder den „Tunguska“-Komplexen, die über lenkbare Raketen verfügen, hat sich zwar gegen verschiedene Drohnen bewährt. Trotzdem neigt sich das verfügbare Arsenal aus sowjetischer Zeit langsam dem Ende zu.
Der Bestand an Stinger-Raketen erschöpft sich ebenfalls nach hunderten Angriffen von Lenkwaffen wie „Schahed“, „Orlan“ und anderen Aufklärungsdrohnen. Was die Ukraine hier an Material erhalten hat, wurde bereits 5 bis 7 Jahre vor Kriegsbeginn hergestellt. Es ist nicht mehr viel übrig.
Vor diesem Hintergrund setzen derzeit sogar die USA auf „Reverse Engineering“. Gemeint ist die Wiederherstellung ausgemusterter tragbarer Flugabwehrraketen, um die Lagerbestände aufzustocken, bis die neue Produktion das geplante Niveau erreicht.
Seit Monaten dringen aufgrund des Mangels an Luftverteidigungsmitteln immer mehr russische Drohnen in das taktische und operative Hinterland der ukrainischen Streitkräfte ein, wo sie mithilfe ballistischer Raketen präzise Angriffe durchführen. Sollte es nicht gelingen, dies zu stoppen, wird die Versorgung der Front immer problematischer.
Moskau mobilisiert weiterhin seine Heimatfront
Ein weiterer Faktor, der sich in den kommenden Wochen auswirken könnte, ist die russische Rüstungsindustrie. Moskau mobilisiert weiterhin seine Heimatfront, wie kontinuierlich in den russischen Nachrichten berichtet wird. Es wird gemeldet, dass ehemalige Fabriken westlicher Unternehmen in Russland nun Schießpulver herstellen, während Brotfabriken Drohnen produzieren.
Natürlich wird es bei einer solchen Produktion Defekte, Verzögerungen und andere Herausforderungen geben. Dennoch gelangen immer mehr Ausrüstung und Waffen in die russische Armee. Der Start von bis zu 500 Schahed-Drohnen pro Monat und 180 Angriffe mit Lenkbomben pro Tag sind ebenfalls Indikatoren für einen schier unerschöpflichen Zufluss.
In den sozialen Medien tauchen vermehrt Videos auf, die die Ausrüstung getöteter russischer Soldaten zeigen, darunter digitale Funkgeräte, moderne Verbandskästen, Nachtsichtgeräte sowie keramische Platten für Körperschutzwesten und Kniepolster. Es handelt sich dabei nicht um Spezialeinheiten, sondern um die reguläre Infanterie.
Für die Ukraine ist es daher entscheidend, die nun bewilligte Militärhilfe so schnell wie möglich an die Front zu bringen. Ebenso müssen die neuen Verteidigungslinien an der Ostfront ausgebaut werden, deren Baubeginn viel zu spät begonnen hat. Im Eiltempo werden aktuell neue Verträge für Munition abgeschlossen, in Deutschland wird die Produktion von „intelligenten Minen“ wieder aufgenommen, und die Produktionskapazität für 35x228 mm Geschosse für Gepard-Panzer soll Mitte 2024 auf das geplante Niveau steigen.
Kalaschnikow will Drohnenproduktion verzehnfachen
Am Mittwoch gab das Pentagon bekannt, dass die USA militärische Lieferungen in Höhe von 1 Milliarde Dollar an die Ukraine wieder aufnehmen werden. Diese umfassen Munition für Luftabwehrsysteme und HIMARS, Artilleriegeschosse, einschließlich kassettenartiger, gepanzerte Infanteriefahrzeuge Bradley, präzisionsgelenkte Luft-Boden-Raketen und Flugfeldausrüstung.
Es wird auch daran gearbeitet, die Produktion von „Bayraktar TB2“ in der Ukraine zu lokalisieren. Diese Drohnen haben sich während einer großangelegten Invasion bewährt und werden weiterhin für verschiedene Aufgaben eingesetzt.
Obwohl sie unter den aktuellen Bedingungen eher als Aufklärungs- und Zielerfassungsmittel oder sogar als Radarplattformen mit AFAR (Active Electronically Scanned Array) effektiver sind – einem Gerät, das gleichzeitig den Luftraum überwachen, kartieren und elektronische Störungen für den Gegner auslösen kann – wird genau diese Modernisierung derzeit von Polen mit italienischer Ausrüstung durchgeführt.
Die „Drohnenkoalition“ bleibt ebenfalls bestehen, bei der Frankreich, Deutschland, Großbritannien und andere Geberländer eine Million Kamikaze- und Aufklärungsdrohnen für die Ukraine bereitstellen wollen. Der in Ischewsk ansässige Kalaschnikow-Konzern hat darauf mit der Ankündigung geantwortet, die eigene Produktion 2024 zu verzehnfachen.
Arsenalbestände der USA aus den 1990er Jahren?
Europa erweitert zudem die Produktion von Abschussvorrichtungen für Patriot-Raketenabwehrsysteme. Ukrainische Batterien und das „European Sky Shield“ (ein Projekt zur Stärkung der Luftverteidigung europäischer NATO-Länder) erfordern zusätzliche Kapazitäten und Fachkräfte. Darüber hinaus planen Polen, Deutschland, Rumänien, Spanien und die Niederlande den Kauf von bis zu eintausend PAC-2 GEM-T-Raketen mit der Möglichkeit, gegen ballistische Ziele mit nicht-berührungsgezündeten Sprengköpfen vorzugehen.
Was die Munition betrifft, so gibt es Aussichten, 1,5 Millionen 155-mm-Geschosse aus EU-Ländern zu erhalten, auch im Rahmen der „tschechischen Initiative“. Es ist jedoch angebracht zu bedenken, dass die Arsenalbestände der USA in den 1990er Jahren für einen Krieg mit der Sowjetunion 10 Millionen 155-mm-Geschosse umfasste; daher sind diese Bestände wahrscheinlich immer noch vorhanden.
Heute produzieren noch vier Länder in Europa 155-mm-Geschosse: Großbritannien (BAE Systems Applied Intelligence), Deutschland (Rheinmetall), Frankreich (Nexter) und Finnland zusammen mit Norwegen (Nammo). Bei den Finnen zum Beispiel sind Bestellungen für sechs Jahre im Voraus festgelegt: man kauft heute ein und erhält die Ware 2030.
Die jüngsten Hilfspakete aus Deutschland sind der beste Indikator dafür, was aufseiten der europäischen Partner passiert: 130 modernisierte Marder-Schützenpanzer der Version „1A3“ und mehrere hundert Drohnen wurden zur Verstärkung der ukrainischen Streitkräfte freigegeben. Aber reicht all das noch aus, um eine drohende Niederlage abzuwenden?
Der Kreml zeigt sich gelassen
In der Tat sind Zweifel angebracht, denn niemand weiß, ob der dringend benötigte Nachschub noch rechtzeitig am Einsatzort eintreffen wird. Der Kreml hingegen zeigt sich gelassen. Der russische Botschafter in Washington, Anatolij Antonow, kommentierte die neuen Waffenlieferungen der USA an die Ukraine und erklärte, dass sämtliche Ausrüstung und Waffen von den russischen Streitkräften vernichtet würden.
„Die Waffenlieferungen der Vereinigten Staaten und ihrer Satelliten werden von den russischen Streitkräften verbrannt. Das russische Volk steht vollständig hinter Präsident Wladimir Putin, unserer Armee und unserer Marine. Es versteht, dass unsere Sache gerecht ist. Alle Ziele und Aufgaben der speziellen militärischen Operation werden erfüllt werden“, sagte Antonow in einem Interview mit russischen Journalisten. Es ist möglich, dass Antonow damit auf die bevorstehende russische Offensive anspielt. Doch wo könnte ihr Schwerpunkt liegen?
Man darf annehmen, dass die Höhen von Tschassiw Jar zum Brennpunkt werden, da sie als Tore nach Kostjantyniwka sowie in die Slowjansk-Kramatorsk-Agglomeration fungieren. Die Russen könnten sich hier in den Ruinen von Bachmut verstecken, Kräfte sammeln und von dort aus mit Bombenangriffen operieren.
Ihr Ziel wird es sein, die ukrainischen Streitkräfte in der Nähe von Kleschiwka zu vertreiben und den Kanal Siwerskyj Donez-Donbass zu überqueren. Trotz der dichten Bebauung werden die Russen versuchen, hier auszubrechen und in die Weite des Raumes vorzudringen. Ein Angriff auf Kupjansk ist immer auch ein Kampf um die logistische Infrastruktur. Wenn die ukrainischen Streitkräfte hier standhalten, wäre dies eine Bedrohung für die russischen Linien. Denn es ist schwierig, in den umliegenden Wäldern solide Betonbefestigungen zu errichten.
„Wir beobachten eine kritische Situation an der Ostfront"
Der Frontabschnitt Kremenaja-Swatowo ist hingegen ein Vorfeld der Eisenbahnlinie nach Starobilsk. Die Russen wollen hier vorrücken, um zu verhindern, dass die ukrainischen Streitkräfte die Zugstrecke mit HIMARS und Drohnen angreifen. Sie investieren enorme Ressourcen in Angriffe auf Dörfer und Siedlungen in dieser Region, die bis nach Kupjansk reichen, um das hochpräzise Waffenarsenal der ukrainischen Streitkräfte abzudrängen.
Darüber hinaus hat die russische Armee seit dem letzten Jahr mehrmals versucht, unterhalb von Wuhledar vorzurücken, wobei sie regelmäßig dutzende Einheiten an Ausrüstung zurücklässt, darunter T-72B3-Panzer aus dem Jahr 2022 und alte T-55. Dies deutet darauf hin, dass ein Stellungskrieg in strategisch wichtigen Sektoren stattfinden wird. Dass die Widerstandsfähigkeit der Ukraine kontinuierlich schwindet, ist eine Tatsache, die längst auch im Westen berücksichtigt wird. In diesem Zusammenhang stellt Riley Bailey, Analyst des ISW-Instituts, fest:
„Wir beobachten eine kritische Situation an der Ostfront, insbesondere in drei Gebieten, in denen russische Truppen derzeit operative Angriffsoperationen durchführen […] Wenn die russischen Truppen Tschassiw Jar einnehmen, werden sie eine Position haben, von der aus sie weitere Angriffsoperationen auf Kostjantyniwka und Druschkowka starten können.“
Der bevorstehende Sommer wird eine entscheidende Phase des Krieges einläuten. Für Moskau kommt es darauf an, die ukrainischen Linien zu durchbrechen und mit größeren Verbänden nach Westen vorzustoßen. Eine derartige Operation würde massiv aus der Luft unterstützt werden, worauf die Ukraine derzeit kaum angemessen reagieren kann. In den dabei besetzten Gebieten würden die Russen schnell zu einer Absicherung übergehen.
Kiew nicht mehr effektiv zu verteidigen?
Das operative Ziel Kiews besteht hingegen darin, den Zusammenbruch der eigenen Verteidigungslinien zu verhindern. Dabei sieht es sich zwei Hauptproblemen gegenüber. Auf der einen Seite müssen die neuen Waffen unbeschadet an die Front geliefert werden, eine Herausforderung angesichts der russischen Luftüberlegenheit. Hinzu kommt ein akutes Dilemma ohne sichtbaren Ausweg:
Die stärksten Kampfeinheiten stehen bereits seit zwei Jahren im Einsatz. Aufgrund ihrer Erschöpfung ist eine dringende Ablösung erforderlich. Jedoch stehen dafür nur unerfahrene Rekruten zur Verfügung, die teilweise erst vor wenigen Wochen mobilisiert wurden. Ihre Fähigkeit, einen massiven russischen Angriff abzuwehren, ist zweifelhaft.
Die Brisanz der aktuellen Lage wird durch folgende Überlegung verdeutlicht: Sollte es Moskau gelingen, die Verteidigungslinien der Ukraine zu durchbrechen, könnten russische Panzerkräfte bereits 48 Stunden später am Dnjepr stehen. Zu diesem Zeitpunkt wäre Kiew, das längst nicht mehr die Festungsstadt von vor zwei Jahren ist, nicht mehr effektiv zu verteidigen. Nach klassischen Maßstäben wäre der Krieg mit der Preisgabe der Hauptstadt verloren.
„Die Ukraine hat bereits fast alles an kampfkräftigen Reserven im Einsatz, weil die Russen an verschiedenen Stellen versuchen durchzubrechen. Die Ressourcen sind also nicht mehr da, und es könnte der Moment des Dammbruchs kommen“, erklärte Oberst Markus Reisner in einem Interview vom 24. April 2024. Und so bleibt der Ukraine wenig anderes übrig, als darauf zu hoffen, dass die Militärhilfe noch rechtzeitig an der Front eintrifft.
Dr. Christian Osthold ist Historiker mit dem Schwerpunkt auf der Geschichte Russlands. Seine Monographie über den russisch-tschetschenischen Konflikt ist in der Cambridge University Press rezensiert worden. Seit 2015 ist Osthold vielfach in den Medien aufgetreten.