Axel Springer: Ein Prophet des Mauerfalls

Heute vor dreißig Jahren war ein trüber, regnerischer, wolkenverhangener Tag in Berlin. Kein Tag zum Feiern, kein Tag für große Gefühle. Möchte man meinen. Und doch wurde dieser Tag zu einem der glücklichsten in der Geschichte dieser Stadt. Am 22. Dezember 1989 wurde das Brandenburger Tor wieder aufgemacht, und die Berliner konnten ihr Wahrzeichen ohne Gefahr für Leib und Leben für sich zurückerobern. Goldelse, die Göttin auf der Siegessäule, strahlte wieder – ganz ohne Sonnenschein.

Die damalige freudige Ergriffenheit lässt sich vielleicht nur dann wirklich nachempfinden, wenn man diese Zeit nicht nur miterlebt hat, sondern sich auch nur zu bewusst war, dass dies noch wenige Wochen zuvor kaum jemand für möglich gehalten hätte. Ein freies, ungeteiltes Berlin galt vielen, ebenso wie ein freies, ungeteiltes Deutschland, als Märchen, als Utopie. Wer davon träumte, der wurde belächelt, als „Spinner“ abgetan, im schlimmsten Falle als „Reaktionär“, „Friedensstörer“, „Kalter Krieger“ beschimpft; die Idee galt als „Quatsch“, „Lüge“, „Heuchelei“, „politische Umweltverschmutzung“ (siehe hier).

Aber nicht jeder ließ sich von solcherart wenig schmeichelhaften Titulierungen abschrecken. „Die deutsche Frage ist so lange offen, wie das Brandenburger Tor zu ist“ – dieser Satz stammt von dem ehemaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker. Der einstige US-Präsident Ronald Reagan ergänzte: „Solange das Tor zu ist, solange wird diese Mauer als Wunde fortbestehen“; er forderte den damaligen Führer der Sowjetunion auf, Berlins Wahrzeichen wieder durchlässig für die Menschen zu machen:

Herr Gorbatschow, öffnen Sie dieses Tor! Herr Gorbatschow, reißen Sie diese Mauer nieder!“ Reagan hatte während seines Berlin-Besuchs im Juni 1987 in seiner wegweisenden Rede übrigens deutlich das Leid benannt, das die widernatürliche Teilung einer Stadt, eines Landes und eines ganzen Kontinents über ihre Menschen gebracht hatte, und er präzisierte: „Jeder Deutsche, der vor dem Brandenburger Tor steht, ist ein Mensch, der von seinen Landsleuten getrennt ist. Jeder dieser Menschen ist ein Berliner, der gezwungen ist, diese sichtbare Wunde zu ertragen.“ [1]

„Macht das Tor auf!"

Es war ein Leid, welches in der westdeutschen Öffentlichkeit, ebenso wie in den Schulen, kaum je zum Thema gemacht wurde. Weil es so geblieben ist, mag man heute der Meinung sein, diese Zurückhaltung sei ein Zeichen dafür, dass das wiedervereinigte Deutschland längst als Normalität begriffen werde. Doch diese Sichtweise greift zu kurz. Es sagt viel über ein Land aus, das sich seiner eigenen Opfer nicht erinnern will, ein Land, in dem nicht wenige in der Teilung gar eine „gerechte Strafe“ erblickten, ohne zu fragen, ob diese Strafe überhaupt die Richtigen traf.

Oder konnte jemand wie, sagen wir, Peter Fechter, geboren 1944, der 1962 mit seinem grausamen, absolut vermeidbaren Tod an der Mauer die ganze Welt erschütterte, für etwas gebüßt haben, was er gar nicht zu verantworten hatte? Müsste es nicht vielmehr gerade heute jeden auf die Palme bringen, wenn Menschen allein wegen ihrer nationalen Zugehörigkeit, in diesem Falle der deutschen, sich gefälligst mit einem Unrecht abzufinden hätten, das regelrecht zu Gott schrie?

In diesen Zeiten gab es einen Mann, dem solche Schicksale keine Ruhe ließen. Er war fest davon überzeugt, dass diese künstlich herbeigeführte Teilung Deutschlands und seiner alten Hauptstadt nicht von Dauer sein konnte. Als „Brandenburger Tor“ wurde er verhöhnt, verspottet und beschimpft, weil er sich lange vor Reagans proklamatischer Rede den Spruch des Kuratorium Unteilbares Deutschland zu eigen machte, das schon 1958, dem Jahr des Chruschtschow-Ultimatums, verlangte: „Macht das Tor auf!" Trotz aller Anfeindungen bis hin zu Bombenangriffen auf seinen Verlag ließ er sich aber nicht beirren [2a]:

Wenn es gelingt, die Völker Osteuropas, einschließlich der Sowjetunion, gegen die Lügen der Gewalthaber immun zu machen, indem wir die Wahrheit als Elixier der Freiheit auf allen Wegen über Mauern und durch Zäune schaffen, dann bereiten wir jene Revolution des Geistes vor, die noch immer die Lüge außer Kraft gesetzt und Diktaturen, Gewaltregime und Unterdrücker gestürzt hat. Das klingt heute wie ein Märchen. Ist es nur ein Märchen? Es gab einmal einen Mann namens Theodor Herzl. In scheinbar aussichtsloser Lage versprach er den Juden jenen Staat, auf den sie zweitausend Jahre lang tagtäglich – vergeblich – hofften. Herzl hämmerte den Juden ein: Wenn ihr wollt, ist es kein Märchen.' Das heißt für uns: Wenn wir nur wollen, wenn wir alles wagen, dann ist die Freiheit kein Märchen. In Deutschland nicht. In Polen nicht. In Ungarn, Rumänien, der Tschechoslowakei und in den baltischen Staaten nicht. Und nicht in Rußland.“

„Helfen zu wollen, ohne darüber Aufheben zu machen“

Als Axel Springer dies in einem Interview mit der Zeitschrift Kontinent [3] sagte, schrieben wir das Jahr 1977, da befand sich Breschnew auf dem Zenit seiner Macht, und die Anbiederung an die Kommunisten, staatsmännisch kaschiert als „Entspannungspolitik“, galt als der Weisheit letzter Schluss. Aber sie sollte nicht das letzte Wort der Geschichte sein. Genau vier Jahre und und drei Monate nach dem Tode des Verlegers, am 22. Dezember 1989, erfüllte sich nicht weniger als das, was er ebenso wie Ronald Reagan vorausgesagt hatte:

Ein Lügengebäude, tituliert als „Antifaschistischer Schutzwall“, stürzte symbolisch in sich zusammen. Axel Springer meinte 1982 zur Grundsteinlegung der damals größten Offset-Zeitungsdruckerei in Ahrensburg, „die Geschichte hat zum Glück einen längeren Atem als wir kurzatmige Menschen. Was die Zukunft unseres ganzen Landes in Freiheit anbelangt, so geschieht letzten Endes immer etwas, wenn nur der Wille vorhanden ist.“ [4] Konnte man besser die Ereignisse von 1989/90 voraussagen?

Dennoch scheiden sich an der Person Axel Springers bis heute die Geister. Wenn er denn genannt oder porträtiert wurde und wird, dann oft von seinen Gegnern, und sein Bild verkam und verkommt häufig zum Zerrbild. Das lag früher auch am Verleger selbst, der sehr vielen Menschen geholfen hatte, was die wenigsten wissen – in der Regel nicht einmal diejenigen, denen er half. „Helfen zu wollen, ohne darüber Aufheben zu machen“, so Ernst Cramer, „das war ein Wesenszug Axel Springers, über den bisher kaum gesprochen wurde. Er wollte auch nicht, dass man darüber redete.“ [5]

Ist es da erlaubt, einmal eine Lanze für einen Mann zu brechen, dem die Deutschen mehr zu verdanken haben, als bis heute in das Bewusstsein der Öffentlichkeit gedrungen ist? Die wenigsten dürften noch um sein unermüdliches Engagement wissen, das nicht nur den Juden und Israel, der freien sozialen Marktwirtschaft in Sinne Ludwig Erhards und der engen Anbindung Deutschlands an die Vereinigten Staaten galt, sondern auch und gerade den Opfern einer brutalen kommunistischen Gewaltherrschaft, der sowjetischen Expansionspolitik.

Der hellsichtige Axel Springer

Springer lehnte entschieden jede Art von politischem Totalitarismus ab. Seine Idee, so Herbert Kremp an seinem ersten Todestag [6], galt der Rehabilitation Deutschlands. In dieser Auseinandersetzung, schrieb die WELT 1990, war Springer kein Neutraler, sondern leidenschaftlich und unerbittlich [7]. Dies führte zwar auch zu einer naiv anmutenden Fehleinschätzung und Kompetenzüberschreitung, als er 1958 nach Moskau zu einem Gespräch mit Chruschtschow reiste, in der Hoffnung, Bewegung in die offene deutsche Frage zu bringen. Dabei hatte Springer aber, wie er es selbst nannte, „seine Lektion gelernt“ [2b]. Chruschtschow setzte ihm auseinander, dass es ein wiedervereinigtes Deutschland geben werde – unter kommunistischem Vorzeichen [8a].

Adenauer bescheinigte Springer einmal, in Sachen Wiedervereinigung sei er zu ungeduldig, und der Verleger gab dem ersten Kanzler der Bundesrepublik mit dieser Einschätzung sogar recht [8b]. Doch ansonsten war der Verleger seiner Zeit oft bemerkenswert weit voraus. Es mag noch weitgehend bekannt sein, dass Springer den Fall der Mauer und die Wiedervereinigung vorhersah. Aber wie viele wissen, dass er sogar den Bau der Mauer ziemlich exakt prophezeite? Nur vierunddreißig Tage vor dem 13. August 1961 schrieb er an den damaligen Bundestagspräsidenten Eugen Gerstenmaier [2c]: „An 52 geschlossenen, stacheldrahtbewehrten Übergängen werden Flüchtlinge aus der Zone sich blutig festlaufen. Aber der aufgeklärte Westen' wird dann schon zufrieden sein, wenn der Verkehr nach Berlin mit Hilfe der Vopos auf Zeit ganz gut klappen wird.

Dennoch kam Springer nach Berlin und blieb, als andere gingen. Als Wahl-Berliner entschied er sich ganz bewusst zwei Tage vor Ablauf des Chruschtschow-Ultimatums, am 25. Mai 1959, für den Bau seines Verlagshauses direkt an der späteren Mauer, der Schandmauer. Er nannte diesen mutigen Entschluss, der ein hohes Unternehmensrisiko barg, „Ausdruck unseres festen Glaubens an die geschichtliche Einheit dieser Stadt und an die geschichtliche Einheit Deutschlands“ [8c]. Es war als Signal gedacht – auch an andere Unternehmer –, das freie Berlin unter keinen Umständen aufzugeben. Den Umzug der WELT von Hamburg nach Bonn im Jahre 1975 wertete Springer gleichwohl als „Zugeständnis, daß der Wunsch, mit der Welt' in die wahre deutsche Hauptstadt, das heißt nach Berlin umzuziehen, in eine weitere Zukunft aufgeschoben werden muß“ [8d]. Seit 1993 hat die WELT ihren Hauptsitz in Berlin.

„Das Unrecht beginnt bei der Freiheit“

Springers unermüdlicher Einsatz für die Ost- und Mitteldeutschen, besonders zu Zeiten des „Wandels durch Annäherung“, der mehr ein Wandel durch Anbiederung an ein verbrecherisches Regime war, verdient Respekt und Anerkennung. Es war Axel Springer, von dem die Initiative ausging, politische Häftlinge aus Ulbrichts und Honeckers Gefängnissen freizukaufen; mit seiner Hilfe gelangten die ersten Gefangenen in den Westen. Er verpflichtete seine Journalisten, die „DDR“ in Anführungszeichen zu setzen, um ihren Unrechtscharakter hervorzuheben. In einer Rede am 18. Juni 1976 unterstrich der Verleger sein Anliegen erneut:

Ich glaube überdies, daß wir aufgerufen sind und daß es eine der Wiedergutmachungsaufgaben ist, unser in die Mitte des Kontinents gestelltes Deutschland zu einem Stabilisierungsfaktor eines freiheitlichen Europas zu machen. [...] Es ist unsere Pflicht, die Idee des ungeteilten deutschen Vaterlandes in unserem Herzen zu bewahren. Es ist unsere Pflicht, niemals den opportunistischen Erwägungen des sozialistischen Zeitgeistes nachzugeben, dessen schlimmes Produkt nur ein Volksfront-Europa sein könnte.“ [2d] 

Die sogenannte DDR ist ein Unrechtsstaat par excellence. Diese Tatsache muß am Beginn jeder Betrachtung über die Teilung Deutschlands stehen. Und das Unrecht beginnt bei dem entscheidenden Punkt: bei der Freiheit. Wenn es sonst nichts, gar nichts weiter an dieser sogenannten Deutschen Demokratischen Republik auszusetzen gäbe, der schamlose Umgang mit der Freiheit von politisch mißliebigen Bürgern und Bürgerinnen, der Burgverlies-Terror der Strafjustiz dieses Regimes allein müßte genügen, die ganze Welt zu einem Aufschrei zu bringen. Doch sie schreit nicht auf. Sie schweigt. […] Man demonstriert dafür, daß Kommunisten in der Bundesrepublik Deutschland Richter, Lehrer, Vollzugsbeamte und Staatsanwälte werden dürfen. Aber für unsere Nächsten im politischen Sinne des biblischen Begriffs [...] marschiert man nicht.“ [2e]

Ein „komischer Heiliger“

Er erinnerte in seiner Rede an das Schicksal des Schriftstellers Sigmar Faust, der 23 Monate in Cottbus im sogenannten Tigerkäfig einsaß und zu viereinhalb Jahren Haft verurteilt wurde, obwohl – oder vielmehr gerade weil – er die Aberkennung der „DDR-Staatsbürgerschaft“ zwecks Ausreise formgerecht beantragt hatte. Springer führte weiter aus: „Ich könnte Ihnen die Liste des deutschen Archipel GULag im kommunistisch beherrschten Teil unseres Landes beliebig verlängern. Als ich die Berichte des Grauens studierte, war ich fassungslos. Vor allem darüber, daß dies geschehen darf, ohne daß ein Aufschrei durch den freien Teil des Vaterlandes geht, ohne daß die Fäuste gegen die dafür Verantwortlichen erhoben werden. Welche Menschenverachtung! Welche Trägheit des Herzens!“ [2f]

Es waren Worte, die aufrütteln sollten. Springer und seine Redakteure erinnerten unermüdlich an erschütternde menschliche Schicksale, die die Brutalität der SED-Diktatur ungeschönt zum Vorschein brachten. Dieser Einsatz hatte den Verleger buchstäblich viel gekostet, und er war mit Sicherheit Unternehmer genug, um die Einbußen, die ganz unmittelbar aus seinem Engagement für ein freies, ungeteiltes Deutschland herrührten, als schmerzlich zu empfinden. Am schlimmsten aber mussten die persönlichen Verletzungen für ihn und seine Mitstreiter gewesen sein.

Natürlich waren Axel Springers Positionen nicht ohne Angriffsflächen; vor allem sein schillernd anmutendes Privatleben wollte so gar nicht zu seinen politischen Überzeugungen passen. Es bietet reichlich gefundenes Fressen für seine Gegner, irritiert aber auch manche dem Verleger eher Wohngesonnenen. Einen „komischen Heiligen“ nannte der Historiker Hans-Peter Schwarz Springer nicht ganz zu unrecht. Aber es erforderte keinen Mut, ihn in Grund und Boden zu kritisieren. Vielmehr befand man sich damit oft in bester Gesellschaft.

„Unser Land nicht selbst zu Sodom und Gomorrha machen“

Die Positionen jener, die Springer zu ihrem ausgemachten Feindbild erklärten und die vor Terror gegen seinen Verlag nicht zurückschreckten, waren allerdings weit fragwürdiger, ohne dass ihnen jemals ein vergleichbarer Hass, eine vergleichbare Verachtung entgegenschlugen. Im Gegenteil. Heute sitzen nicht wenige einstige Gegner des Verlags dort und dürfen ihrem staunenden Publikum erklären, was wahrer Konservatismus sei. Wäre es da nicht ehrlicher, den Verlagsgründer selbst zu Wort kommen zu lassen? Seine Aussagen sind nämlich von bestechender wie von bedrückender Aktualität geblieben:

Es wird oft versucht, mich als einen Rechten' zu bezeichnen, als Neo-Konservativen', oder – in den Niederungen der Polemik – als Nationalisten'. Die Freiheit ist aber ein Wert der Mitte. Sie nicht nur für sich selbst, sondern auch für das eigene Volk zu fordern, verschiebt diesen Standort nicht. Nationalistisch war, die Welt am deutschen Wesen genesen' lassen zu wollen. Das Ringen um die Genesung des deutschen Wesens ist aber national, nicht nationalistisch. Und konservativ ist weder eine Wiederherstellung dessen, was war, noch ein Festhalten an dem, was ist, sondern ein Leben aus dem, was immer gilt. In diesem Sinne bin ich ein Konservativer.“ [8e]

Springer hatte oft in der christlichen Religion Halt gefunden, war allerdings aus der dem SED-Regime gegenüber wenig Distanz wahrenden evangelischen Amtskirche ausgetreten. Am Glauben selbst hielt er dennoch fest, wie am Glauben an Deutschland, aber er ahnte wohl, dass die Deutschen ein Problem damit haben, an sich selbst zu glauben: „Ich bin zwar nicht der Meinung, daß Gott ein Deutscher ist. Aber ich glaube daran, daß Gnade und Gerechtigkeit sein Zepter und sein Gesetz sind. Und deshalb glaube ich, daß wir Deutschen in seiner Weltordnung einen Platz haben – wenn wir nicht freiwillig abdanken und unser Land nicht selbst zu Sodom und Gomorrha machen.“ [2g]

„Der Mahner der Deutschen schlechthin“

Wenn Springer über Deutschland und die Deutschen schrieb oder redete, sprach daraus immer eine tiefe, leicht scheue Liebe zu Deutschland, ohne dass er dabei die in der Vergangenheit wie in der Gegenwart begangenen Verbrechen beschönigt hätte. Springers Kritik schlug nie in Verachtung für sein eigenes Land und seine Landsleute um. Das unterschied ihn auf wohltuende Weise vom Gros der ansonsten eher linken Presse. Man darf durchaus die Frage stellen, ob es ohne Axel Springer gelungen wäre, das Zusammengehörigkeitsgefühl der Deutschen über die zahlreichen gegenteilige Versuche hinweg wachzuhalten. Der unbeirrte Kurs des Verlegers in Richtung eines ungeteilten Deutschlands gab mit Sicherheit vielen Hoffnung und Zuversicht, auch wenn sie es niemals öffentlich eingestehen würden.

Axel Springer hielt die Wiedervereinigung zu seinen Lebzeiten für möglich, schränkte allerdings selbstironisch ein, „daß Propheten den Nachteil haben, sich zeitlich gelegentlich zu irren“. Dennoch gab die Geschichte ihm so schneidend recht, wie es nur selten geschieht. Am 10. November 1989 schrieb Enno von Loewenstern über den Verleger: „Springer verstand den Begriff Prophet' hier im landläufigen Sinne als Voraussager, aber er war ein Prophet im tiefen und eigentlichen Sinne des Wortes, er war der Mahner der Deutschen schlechthin, die einzige moralische Autorität, die sie in vierzig Jahren Wohlstandsrepublik hatten, als Anpasser und Gewaltprediger die Preise bekamen und Demonstranten nicht zur Verteidigung der Freiheit, sondern gegen die Verteidiger der Freiheit aufmarschierten. Er hat sich nie mit Theodor Herzl verglichen, sondern nur an den Beweger des jüdischen Aufbruchs erinnert, aber wenn wir jemals eine Gestalt wie Herzl hatten, dann war er es. […] Wie Moses hat Theodor Herzl das Gelobte Land nie betreten. Und auch Springer wurde die Hoffnung nicht erfüllt, daß es durchaus zu meinen Lebzeiten geschehen kann'; er durfte die Mauer nicht fallen sehen [...]. Aber Gott hat seiner Sache den Sieg gegeben.“ [9] 

Hier ist es an der Zeit, kurz des Autors zu gedenken, der dieses Zitat schrieb. Enno von Loewenstern (1928–1993) glaubte ebenso fest wie sein Verleger daran, dass die Wiedervereinigung kommen würde. Dafür wurde er genauso beschimpft und verspottet; aber er ließ sich ebensowenig wie Springer beirren. Kein anderer sagte die Einheit Deutschlands in Freiheit so exakt voraus, als sich dies niemand anders noch getraut hätte, im Jahre 1988 [10]. Enno von Loewenstern war es vergönnt, die Wiedervereinigung, die er mit großer, echter Freude begrüßte, mitzuerleben: „Springer hat sie nicht mehr erlebt, aber ich, und dafür bin ich dankbar.“ [11]

Es ist traurig, dass der Verlag diesen außergewöhnlichen Journalisten aus seinen eigenen Reihen vergessen hat, der auch in einigen anderen entscheidenden politischen Dingen recht behielt – gegen die erdrückende Mehrheit seiner Berufskollegen. Ernst Cramer nannte ihn einen „aufgeklärten, demokratischen Konservativen“, und er befand: „Von seiner Sorte finden sich in jeder Generation nur wenige.“ [12]

Allen Achgut.com-Lesern und der Redaktion eine schöne Weihnachtszeit.

 

Quellen:

[1] Amerika-Dienst – Sonderdienst – der US-Botschaft in Bonn v. 15.06.1987: „Berliner Mauer niederreißen für die Sache des Friedens – Ansprache Präsident Reagans vor dem Brandenburger Tor“ am 12. Juni 1987

[2] Axel Springer: „Aus Sorge um Deutschland – Zeugnisse eines engagierten Berliners“, Seewald, Stuttgart, 1980, Seite 338 (2a), 128 (2b), 21 (2c), 27 (2d), 29 (2e), 33/34 (2f), 80 (2g).

[3] Die Zeitschrift Kontinent gab Dissidenten unter den russischen und anderen osteuropäischen Gelehrten und Schriftstellern ein unabhängiges Forum und eine Stimme. Die Gründung wurde maßgeblich von Axel Springer unterstützt, siehe auch hier.

[4] Ernst Cramer: „Axel Springers Vermächtnis: Freiheit erhalten und festigen“, WELT am SONNTAG v. 04.05.1997

[5] Ernst Cramer: „Ein Patriot, Mäzen und Philanthrop“, WELT v. 22.09.1988

[6] Herbert Kremp: „Seine Idee galt der Rehabilitation Deutschlands“, WELT v. 22.09.1986

[7] Manfred Schell: „Ein Patriot, der seine ganze Kraft dem Kampf um die Freiheit seiner Landsleute widmete: Axel Springer – Die deutsche Wiedervereinigung vollendet sein Lebenswerk“, GEISITGE WELT v. 15.09.1990 

[8] Axel Springer: „Von Berlin aus gesehen. Zeugnisse eines engagierten Deutschen.“ Seewald, Stuttgart, 1971, Seite 280 (8a), 37 (8b), 26 (8c), 256 (8d), 16 (8e).

[9] Enno von Loewenstern: „Das Tor wurde aufgemacht“; Leitartikel in der WELT v. 10.11.1989

[10] Enno von Loewenstern: „Es geht mit ihr zu Ende“ (mit „ihr“ war die Mauer gemeint), WELT v. 13.08.1988 und Joachim Neander: „Zum Gedenken“ an Enno von Loewenstern, WELT v. 14.04.1993

[11]  Zitat aus „The Wall Street Journal“ mit dem Titel „Enno and Erich“ in der WELT v. 01.08.1992

[12] Ernst Cramer: „Zum Tode dreier Männer, die die Welt' prägten“, WELT am SONNTAG v. 18.04.1993

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Sabine Drewes / 22.12.2019

@Lieber Herr Düring, einer muss ja mal an das erinnern, woran sonst niemand mehr erinnern will. Das ZEIT-Zitat ist übrigens eine ziemlich üble Verunglimpfung dieses vergessenen WELT-Journalisten. Enno von Loewenstern war nie und nimmer ein Rechtsaußen. Aber er nannte Unrecht Unrecht, auch wenn es Deutschen widerfuhr, und damit machte er sich ebenso wie mit seinem Festhalten am Ziel der Wiedervereinigung Deutschlands in linken Kreisen verhasst. Im besagten Wall Street Journal v. 1.8.1992 war zu lesen: “Es gibt in den letzten Jahren eine seltsame Neigung unter angeblich konkurrierenden Journalisten, sich über die Wichtigkeit größerer Nachrichtenstoffe zu einigen. Wer anderer Meinung ist, verfällt oft dem Scherbengericht. Enno von Loewensterns Geschichte ist ein Beleg dafür, wie wichtig es ist zu wissen, wann man sich der Masse entgegenstellen muss.”

Dirk Jungnickel / 22.12.2019

Diese Lanze für Axel Springer brechen Sie, liebe Sabine Drewes,  hervorragend und völlig zu Recht. Herzlichen Dank. Eine kleine Erinnerungsergänzung. Als Ronald Reagan 1987 vor dem Brandenburger Tor seine berühmten Worte an Gorbatschow richtete, war ich ein noch ziemlich frischer Westberliner. Die Rede konnte ich nur von allzu weiter Entfernung verfolgen. Dafür mußte ich die “Proteste” der linken Gewalttäter erleben. Sie bewarfen Polizisten von den Dächern mit kiloschweren Betonplatten. Diese Brutalität hat mich natürlich abgestoßen. Und wer steuerte über ein damals noch seltenes transportables Telefon diese Aktivitäten aus der sicheren Deckung ? Jutta Ditfurth ! - Und ich erinnere mich an einen Adlershofer Hetzfilm mit dem Titel “Ich - Axel Cäsar Springer ” . Wenn ich nicht irre, spielte Horst Drinda die Hauptrolle.

A. Ostrovsky / 22.12.2019

Zwei Worte dazu: Nein, nein.

Thomas Taterka / 22.12.2019

Von mir gibt’s keine “Ausmecker” hier, aber beim nächsten Kohl - Pathos ! Eine schöne ” konservative” ( !!! ) Weihnachtszeit.

Thomas Weidner / 22.12.2019

Aber Axel Springer ist tot - und seine Erben bzw. Nachfahren finden den Sozialismus und die DDR ja wieder extrem erstrebenswert: Als das (sozialistische) Paradies…

Wilfried Düring / 22.12.2019

‘Ist es da erlaubt, einmal eine Lanze für einen Mann zu brechen ...’. ‘Erlaubt’ ist es vielleicht noch,  aber ‘gern gesehen’ wird es nicht. Und dann stellen Sie diese - rhetorische - Frage und machen es trotzdem! Das ist schon ‘frech’. Als wenn das nicht schlimm genug wäre, brechen Sie auch für andere Menschen und Schicksale ‘eine Lanze’, die doch zum politisch-korrekten ‘Demnation memorie’ (Verdammung des Andenkens) und zum grossen Vergessen ‘verurteilt’ wurden. Siegmar Faust. War da nicht was mit ‘Rächtz’ und/oder ‘Nazi’? Und Sie erinnern an Einzelhaft und ‘Tigerkäfig’! Enno von Loewenstern. Laut Bolsche-Wiki-Pedia und Zeit (vgl. dort) ein ‘sprachvirtuoser Rechtsausleger und rechteste Rechtsaußen der rechten Welt in der nach rechts offenen Richterskala’ (Die Zeit 1988 !!). Das ist natürlich eine absolute Lese-Empfehlung; aber für ‘solche Leute’ brechen Sie ‘Lanzen’. Loewenstern war übrigens wirklich ein besonders ‘schlimmer Finger’. Er übersetzte die ‘Ernte des Todes’ von Robert Conquest ins Deutsche - das Buch über Stalins Holodomar in der Ukraine (im ‘besten Deutschland’ nicht mehr lieferbar). Liebe Frau Drewes, danke dafür, daß Sie immer wieder an Menschen, Schicksale und Fakten erinnern, die wir aus gutem Grund VERGESSEN SOLLEN. Ich wünsche Ihnen FROHE und GESEGNETE Weihnachten. Und im neuen Jahr bleiben Sie uns auf der Achse bitte als Autorin erhalten, so wie Sie sind: mitfühlend, klug, fleißig und tapfer.

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