„Schicksalswahl“ ist ein mittlerweile arg strapazierter Begriff. Doch auf die Wahl am 18. März 1990 traf er gleich in mehrfacher Hinsicht zu. Es war die einzige allgemeine, freie, gleiche und geheime Wahl zur Volkskammer der untergehenden „DDR“. An diesem Tag hatten die Menschen zum ersten Mal seit dem 6. November 1932 (!) wieder eine Wahl, die diesen Namen mit Fug und Recht verdiente. Aber das war es nicht allein. Man könnte Anleihe bei Adenauer machen und sagen, die Wähler standen vor einer Wahl zwischen Sklaverei und Freiheit. Sie wählten mit überwältigender Mehrheit die Freiheit.
Sagenhafte 93,4 Prozent der Wahlberechtigten waren an die Urnen gegangen. Freiwillig, ohne Zwang. Das Gros hatte diese Gelegenheit ergriffen und überhaupt zum ersten Mal im Leben eine wirkliche Wahl. Das muss für die Betroffenen ein unbeschreibliches Gefühl gewesen sein: gänzlich frei entscheiden zu dürfen, ob sie wählen und was sie wählen, ohne Repressionen befürchten zu müssen. Diese Wahl war endlich keine Farce, kein „Zettelfalten“ mehr, wie der Volksmund es ironisch nannte, weil man jahrzehntelang wählen musste, wo es nichts zu wählen gab.
Dies erklärt sicher auch die einmalig hohe Wahlbeteiligung, die es meines Wissens nach weder davor noch danach jemals bei einer freien Parlamentswahl in Deutschland gegeben hat – ein Umstand, der die Bedeutung dieser Wahl noch einmal herausstreicht und deren Ergebnis den Willen der Deutschen östlich der Elbe im Jahr 1990 deshalb sehr repräsentativ wiedergab. Und das all diejenigen Lügen straft, die behaupten, die Wiedervereinigung sei ein „kalter Anschluss der DDR“ gewesen.
Die Ostdeutschen trafen vielmehr eine Entscheidung, die ihr künftiges Schicksal und zugleich die Zukunft des ganzen Deutschlands bestimmte. Denn im März 1990 war Deutschland noch geteilt, auch wenn an Mauer und Stacheldraht gottseidank nicht mehr geschossen wurde. Bundeskanzler Kohl hatte schon im November 1989 das Selbstbestimmungsrecht der Deutschen betont und klargestellt, dass die Frage der Deutschen Einheit eine Frage ist, die vor allem von den Ostdeutschen beantwortet werden müsse.
Die SPD sprach mit gespaltener Zunge
Ihre Antwort war eindeutig. Die Seelenlage der meisten Deutschen zwischen Elbe und Oder, zwischen Ostsee und Erzgebirge im Jahre 1990 brachte der damalige Bürgerrechtler und Mitbegründer des Demokratischen Aufbruchs (DA), Andreas H. Apelt, in seinem Gastbeitrag „Fremd im eigenen Land“ (WELT vom 15.12.1994) mit folgenden Worten sehr prägnant zum Ausdruck:
„Den Menschen war Deutschland näher, als viele diesseits und jenseits der Elbe glauben mochten. Ihre erste freie Wahl zeugte von ihrem Willen, abzubrechen mit dieser halben deutschen Geschichte. Nicht die DM ist gewählt worden, wie uns viele heute glauben machen. Nein, es war eine Mischung aus Nationalbewußtsein und patriotischer Aufbruchstimmung, aus unbändigem Befreiungswillen und einem tiefen Haß gegen das Regime, aus Hoffnung auf das, was kommen mag und dem Wunsch, auch an jenem Wohlstand zu partizipieren, der lange Jahre vorenthalten wurde. Nicht zuletzt war die unanfechtbare Autorität des Kanzlers, der den Siegeszug der 'Allianz für Deutschland' begleitete, nicht zu unterschätzten.“
Um es gleich vorweg zu nehmen: Natürlich spielte der Wunsch, am Wohlstand der Westdeutschen zu partizipieren, eine Rolle. Die Menschen wählten mit der „Allianz für Deutschland“ Kohl und die D-Mark, weil sie sich damit eine rasche Verbesserung für ihr Land und für sich selbst erhofften. Doch wer wollte dies den Ostdeutschen, die über vier Jahrzehnte um die Früchte ihrer Arbeit betrogen worden waren, ernsthaft vorwerfen? Hätten sich die Westdeutschen im umgekehrten Falle denn anders entschieden? Das ist kaum anzunehmen. Und trotzdem ging es den Ostdeutschen nicht ausschließlich um die Hoffnung auf ein besseres Leben, sondern auch um den Wunsch, gemeinsam mit ihren Landsleuten im Westen die Teilung Deutschlands zu überwinden.
Für dieses Ziel standen Helmut Kohl und die Union ein; diesbezüglich hielten beide Wort und demonstrierten damit Verlässlichkeit. Sehr im Gegensatz zur SPD, die mit gespaltener Zunge sprach. Im Osten sagte sie, die Schritte zur Einheit seien zu langsam, da man offensichtlich ahnte, dass das Zeitfenster für ihre Vollendung begrenzt sein würde; im Westen wiederum schürte sie, und besonders ihr Kanzlerkandidat Lafontaine, Ängste, die Wiedervereinigung werde an Besitzständen rütteln und viel kosten. Das war dieselbe SPD, die kurz zuvor noch von Kohl gefordert hatte, er solle Modrow 15 Milliarden Mark als „Soforthilfe“ zur Verfügung stellen.
Kohl stand hoch im Kurs
Otto Schily (zu dem Zeitpunkt noch Mitglied der Grünen, später der SPD) illustrierte am Wahlabend sehr schön die damals vorherrschende rotgrüne Sichtweise im Westen mit einer demonstrativ vor die Kamera gehaltene Banane, die die Ostdeutschen an diesem Tag angeblich gewählt hätten. Man kann es freilich auch anders sehen: Die West-SPD hatte, auch wenn sie an diesem Tag so wenig wie Kohl zur Wahl stand, ihre verdiente Quittung für ihre jahrzehntelange Anti-Wiedervereinigungsrhetorik bekommen, und die Ost-SPD musste diese Suppe auslöffeln. Das hatte zweifellos eine gewisse Tragik. Die Schuld am schlechten Abschneiden ihrer Partei im Osten suchten die Westgenossen freilich lieber woanders. Bei den blöden Ossis, die noch dazu mehrheitlich der bis dato eher verachteten Ost-CDU ihre Stimme gaben.
Das sorgte zweifellos bei vielen für Überraschung, zumal im Januar 1990 die Deutsche Soziale Union (DSU) zum Partner von CDU und CSU erklärt wurde. Auch wirkte der Spitzenkandidat der Ost-CDU, Lothar de Maizière, deren Mitglied er seit 1956 ist, eher blass denn charismatisch und kämpferisch. Vom rein psychologischen Standpunkt aus betrachtet, ist die Entscheidung der Wähler aber in gewisser Hinsicht nachvollziehbar. Sie hatten zwar faktisch die alte Blockpartei gewählt, gefühlt wegen der Namensgleichheit jedoch die Partei Helmut Kohls. Der Kanzler stand in jenen Tagen bei den Ostdeutschen hoch im Kurs, auch wenn sämtliche Umfragen der Meinungsforschungsinstitute das anders sahen und selten vor einer Wahl mit ihrer Prognose so sehr danebenlagen. Wahlsieger wurde nicht die seit Wochen dafür als haushoch überlegen gehandelte SPD. Auch das Bündnis 90 wurde abgestraft, obwohl die in ihm zusammengeschlossenen Bürgerrechtsbewegungen diese Wahl überhaupt erst ermöglicht hatten. Ein Verdienst, das dessen ungeachtet bleibt.
Doch mochte das Bündnis 90 noch aus so ehrenwerten Bürgerrechtlern bestanden haben, sein Ziel, einen eigenständigen „Dritten Weg“ zu gehen, fand bei der Mehrheit der Wähler keinen Anklang. Die Menschen wollten endlich leben wie ihre Landsleute im Westen und nicht erneut Versuchskaninchen eines wie auch immer gearteten neuen sozialistischen Experiments werden. Der hoffnungsvoll gestartete Demokratische Aufbruch wiederum, der ebenso aus der Bürgerrechtsbewegung hervorgegangen war, aber sich der „Allianz für Deutschland“ anschloss, wurde erst vier Tage vor der Wahl mit der Enttarnung seines Spitzenkandidaten Wolfgang Schnur als Stasi-Spitzel schwer gebeutelt. Ein Schicksal, das auch die Ost-SPD mit Ibrahim Böhme ereilte, aber erst nach der Wahl, am 2. April.
SED-Unrecht niemals konsequent aufgearbeitet
Auf die „Allianz für Deutschland“, einem Bündnis aus Ost-CDU, Deutscher Sozialer Union (DSU) und Demokratischem Aufbruch (DA), entfielen 48 Prozent der Stimmen, davon verteilen sich 40,8 Prozent auf die CDU, 6,3 Prozent auf die DSU und 0,9 Prozent auf den DA. Die Ost-SPD erhielt nur 21,8 Prozent, die als PDS umbenannte SED kam auf 16,3 Prozent und der Bund Freier Demokraten auf 5,3 Prozent. Nur magere 2,9 Prozent entfielen auf das Bündnis 90. Eine Sperrklausel gab es nicht. Insgesamt waren 24 Parteien und Wahlbündnisse zur Wahl angetreten.
Die Allianz ging nach der Wahl ein Bündnis mit den Liberaldemokraten und der SPD ein, und im Koalitionsvertrag wurde ein zügiger Beitritt der „DDR“ zum Gebiet der Bundesrepublik Deutschland nach dem Grundgesetz-Artikel 23 als Ziel festgelegt. Am 5. April trat die erste und einzige freigewählte Volkskammer zusammen. Sie wählte Sabine Bergmann-Pohl (CDU) zu ihrer Präsidentin, die damit zugleich das Amt des Staatsoberhaupts bekleidete. Am 12. April wurde Lothar de Maizière zum Ministerpräsidenten gewählt. Er wurde damit der Verhandlungspartner des Kanzlers.
Der vor dreißig Jahren vor allem im Westen weitverbreitete Glaube, die inzwischen mehrfach umbenannte, aber niemals aufgelöste SED würde im Laufe der Zeit von selbst verschwinden wie eine aus der Zeit gefallene Folklore, erwies sich als fataler Irrtum. Es rächt sich, dass das SED-Unrecht niemals konsequent aufgearbeitet worden ist. Und man kann den Bürgerrechtlern der Friedlichen Revolution von 1989 durchaus vorhalten, dass sie die SED-PDS, kaum dass die Mauer geöffnet war, als legitimen politischen Mitspieler einer parlamentarischen Demokratie akzeptiert hatten.
Eine Rolle, die dieser Partei niemals hätte zugestanden werden dürfen, als Verantwortliche für mindestens 200.000 unschuldig aus politischen Gründen Inhaftierte, für circa 1.000 Todesopfer an den Grenzen, für Mord und Terror vonseiten des Staatssicherheitsdienstes, für die Unterdrückung von 17 Millionen Deutschen und für den wirtschaftlichen Bankrott des von ihr vier Jahrzehnte lang beherrschten Teils Deutschlands. Wie es passieren konnte, dass vergleichsweise viele Wähler der Partei ihrer einstigen Schinder bis heute auf den Leim gehen, obwohl sie ihr ganze 40 Jahre lang ihre verlogenen Parolen nicht geglaubt hatten, ist eine Frage, die man wohl kaum mit den 1990 vielleicht noch bestandenen Abhängigkeiten beantworten kann, sowie eine Frage, die spätere Historiker noch beschäftigen wird.
„Entschiedene Abkehr vom Sozialismus“
Die mit der SED nach wie vor rechtsidentische Partei DIE LINKE hat wiederholt unmissverständlich deutlich gemacht, wohin der Weg mit ihr führen wird: Stramm zurück in den Sozialismus. Mit allen Schikanen. Das Totalitäre ist dem Sozialismus, wie jeder Ideologie, inhärent. Da soll sich niemand täuschen lassen, schon gar nicht von vermeintlich charmanten Vertretern dieser Partei. Einen „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ gab es nie und wird es nie geben. Auch nicht mit den Grünen, wie Alexander Wendt hier ausgeführt hat.
Ebenso beschäftigen wird die Historiker sicherlich, wie die Union die gemeinsamen Leitlinien bei der Gründung der „Allianz für Deutschland“, die sie unter Kohls Führung weitgehend beibehielt (wenngleich auch gerade nicht bei der dringend notwendigen Aufarbeitung des SED-Unrechts), unter Merkel (die auch beim DA war, und von der die Aussage verbürgt ist, dass sie mit der CDU nichts zu tun haben wolle, siehe hier) schließlich fast komplett über Bord werfen konnte. Auf der Seite der Konrad-Adenauer-Stiftung kann man über die Gemeinsamkeiten von CDU/CSU und den Parteien der „Allianz für Deutschland“ folgendes nachlesen (Hervorhebungen in Fettdruck von mir):
„Gemeinsamkeit gab es in den politischen Überzeugungen und Wertorientierungen, die mit denen von CDU und CSU in der Bundesrepublik übereinstimmten, insbesondere in der entschiedenen Abkehr vom Sozialismus. Auf der Grundlage eines konservativ-liberalen, christlichen Menschenbildes strebte das Bündnis die Soziale Marktwirtschaft, die Wiederherstellung der Länder in der DDR und die rasche Herstellung der deutschen Einheit an; als Vorstufe dazu sollte eine Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion dienen. Unmittelbares Ziel war die Bündelung der nichtsozialistischen Kräfte der politischen Mitte, um durch einen hohen Wahlerfolg eine Mehrheit für die Regierungsbildung in der DDR zu erreichen. Den westlichen Unionsparteien schien dies nur möglich, wenn man die ehemalige Blockpartei CDU mit neuen, unbelasteten Kräften zusammenband.“
(Quelle hier).
Nein, von diesen Ansprüchen ist nicht viel geblieben. Ein totales Umschwenken der beiden lange staatstragenden und staatsprägenden Parteien mit liberal-konservativem Anstrich hin zu linken Zielen aber würde der Union nicht nur ihren Status als Volkspartei endgültig rauben, sondern hätte auch gravierende Auswirkungen auf das politische System der Bundesrepublik Deutschland.