112-Peterson: Wie weit sollten wir in die Zukunft blicken?

In einem meiner Seminare tauchte die Frage auf, wie weit wir in die Zukunft blicken sollten. Also machte ich mit meinen Studenten folgendes Gedankenexperiment:

„Wenn ich Sie fragen würde, was Sie gerade machen, wäre Ihre Antwort, dass Sie im Seminar sitzen. Als nächstes könnte ich fragen, warum Sie im Seminar sitzen? Sie würden antworten, weil Sie diesen Schein machen wollen. Dann würde ich Sie fragen, warum Sie diesen Schein machen wollen. Die Antwort wäre, dass Sie Ihren Abschluss absolvieren wollen. Warum? Weil Sie auf eine Karriere beziehungsweise ein produktives und komfortables Leben vorbereitet sein wollen, wenn Sie die Uni verlassen haben. Und wieder: Warum?“

Nun, damit könnte man unendlich lange fortfahren, und je weiter man darauf antwortet, desto weiter rückt man auf der Zeitskala nach vorne. Eine knifflige Angelegenheit. Denn wo soll man aufhören?

Würde ich Sie fragen: „Wollen Sie jetzt 100 Dollar erhalten oder lieber 50.000 Dollar in 200 Jahren?“, dann würden Sie sich höchstwahrscheinlich für die 100 Dollar entscheiden, die Sie jetzt bekommen können, denn in 200 Jahren leben Sie mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht mehr. 200 Jahre in die Zukunft zu denken, wäre also wenig hilfreich.

Nun sind Sie möglicherweise der Ansicht, dass Sie die Folgen Ihrer Handlungen so weit wie möglich in die Zukunft kalkulieren und auch die größtmögliche Anzahl von Menschen in Ihre Betrachtungen mit einbeziehen sollten, um es auszutarieren. Aber das Problem ist, dass man so niemals eine Rechnung aufstellen kann.

Denn man sieht sich mit einer sogenannten Kombinatorischen Explosion konfrontiert. Man denke nur ans Schachspielen. Ein Spieler setzt einen Zug. Davon ausgehend, gibt es vier Möglichkeiten für den nächsten Zug. Davon ausgehend, ergeben sich wieder vier Möglichkeiten für den darauf folgenden und so weiter, sodass es völlig aussichtslos ist, die Schritte des Gegners vorhersagen zu wollen. Denn man kann diese Berechnungen einfach nicht anstellen.

Wir haben keinen blassen Schimmer

Wir können also nicht sagen, wie weit wir in die Zukunft blicken sollten. Zu einem Teil hängt die Antwort davon ab, wie stabil unsere Umwelt ist. Ein Monat liegt im Bereich des Möglichen, ein Jahr ebenfalls, drei bis fünf Jahre auch noch, aber 20 Jahre wohl nicht mehr. Der Grund dafür ist, dass die Fehlerspanne der Voraussagen sich derart erhöht, dass die Prophezeiungen nichts wert sind.

Dies kann man erkennen, wenn man unsere Gegenwart mit den Voraussagen früherer Jahrzehnte abgleicht. Als ich ein Kind war, habe ich gerne Science-Fiction-Literatur gelesen. Dabei handelte es sich um plausible Berichte einer potenziellen Zukunft (die aber oft nicht so eintraf, Anm. d. Red.).

Und wie wird es von unserem jetzigen Standpunkt aus in 20 Jahren sein? Wer weiß? Alles ist möglich. Vielleicht sind manche von uns zu drei Vierteln ein Roboter. Vielleicht haben wir eine Lebensspanne von 10.000 Jahren. Vielleicht leben wir wieder in Höhlen und alles um uns herum liegt in Schutt und Asche. Alles ist möglich und wir haben keinen blassen Schimmer.

Dies ist ein Auszug aus einem Seminar von Jordan B. Peterson. Hier geht's zum Seminar.

Foto: jordanbpeterson.com

Sie lesen gern Achgut.com?
Zeigen Sie Ihre Wertschätzung!

via Paypal via Direktüberweisung
Leserpost

netiquette:

Andi Nöhren / 08.04.2020

Ein Problem, wenn wir in die Zukunft planen, ist ja auch die Tatsache, dass wir als Basis für die Zukunftsplanung Daten aus der Vergangenheit benutzen, (sozusagen „Schnee von gestern“), weil wir ja gar nicht wissen, was sie Zukunft bringt. Somit liegt jede Zukunftsplanung in erster Linie im Bereich der Spekulation, zumindest dann, wenn sie über einen Zeitraum von ca. 3 Jahren hinausgeht.

Bernd Ackermann / 08.04.2020

@ Frances Johnson - “Was wir heute haben, ist dagegen angsteinflößend”...“The Thing” basiert auf der Kurzgeschichte “Who goes there?” von John W. Campbell, veröffentlicht 1938, “Das Dorf der Verdammten” ist eine Verfilmung des Romans “The Midwich Cuckoos”, geschrieben von John Wyndham im Jahr 1957. Sie sollten dringend Ihre Definition von “heute” überdenken…

Frances Johnson / 08.04.2020

Ich war ein Fan von Jules Verne. Seine Phantasien waren großartig. Wir bekommen alles, was später kommt, als Vorstellung, wenn es auch etwas anders gestaltet wird. Wir bekommen Ballon und U-Boot, das Erforschen des Inneren der Erde wie auch der Vulkane, und wir bekommen mit Kapitän Nemo den vom System schäbig behandelten Systemfeind à la Räuber Orbasan (Hauff). Verne lag nicht daneben und machte manchem Kind und Erwachsenen Freude. Was wir heute haben, ist dagegen angsteinflößend. John Carpenter’s “The Thing” oder “Das Dorf der Verdammten” braucht man nicht als Vorstellung. Was Verne avisierte, war erstrebenswert, positiv. Daher erinnert er mehr an Leonardo da Vincis Spielereien mit Fluggeräten. Verne, Leonardo und Lindbergh aus einem Guss. Überleben kann man nur mit marshmellow-mentality. Aber 200 Jahre ist tatsächlich zu lang.

Weitere anzeigen Leserbrief schreiben:

Leserbrief schreiben

Leserbriefe können nur am Erscheinungstag des Artikel eingereicht werden. Die Zahl der veröffentlichten Leserzuschriften ist auf 50 pro Artikel begrenzt. An Wochenenden kann es zu Verzögerungen beim Erscheinen von Leserbriefen kommen. Wir bitten um Ihr Verständnis.

Verwandte Themen
Jordan B. Peterson, Gastautor / 17.04.2024 / 11:30 / 6

112-Peterson: Die Tiefen des Unterbewussten

Uns ist eine ganze Menge unbekannt hinsichtlich der Struktur von Erfahrungen und der Realität. Wir haben unsere artikulierten Repräsentationen der Welt, doch außerhalb davon gibt…/ mehr

Jordan B. Peterson, Gastautor / 10.04.2024 / 11:00 / 15

112-Peterson: So könnten Konservative gewinnen

Die jungen Leute, mit denen ich bislang auf der ganzen Welt gesprochen habe, sehnen sich danach, eine vernünftige Geschichte über Identität zu hören. Diese könnten…/ mehr

Jordan B. Peterson, Gastautor / 27.03.2024 / 11:00 / 26

112-Peterson: Mitgefühl als Waffe

Die bösartigsten Menschen nehmen das höchste Gut und verkehren es ins Gegenteil. Zum Beispiel durch den Missbrauch der Barmherzigkeit. Das Böse überkommt uns am Effektivsten…/ mehr

Jordan B. Peterson, Gastautor / 20.03.2024 / 10:00 / 42

112-Peterson: Was ist Glaube?

Ich hasse die Frage, ob ich an Gott glaube. Denn die meisten Leute wissen nicht, was sie eigentlich damit meinen. Vor allem von Christen werde…/ mehr

Jordan B. Peterson, Gastautor / 13.03.2024 / 11:00 / 19

112-Peterson: Finger weg von meinem Auto!

Im Westen werden Autos immer mehr bekämpft. Unter anderem duch die "C40-Agenda". Deren Pläne lesen sich wie der Alptraum eines Verschwörungstheoretikers. Ich habe mit wachsender…/ mehr

Jordan B. Peterson, Gastautor / 06.03.2024 / 11:00 / 5

112-Peterson: „15-Minuten“-Stadt als digitales Gefängnis

Die Idee der „15-Minuten-Städte“ wurde in kürzester Zeit von moralisierenden Utopisten in ein digitales Gefängnis verwandelt. Als die Idee der „15-Minuten-Städte“ aufkam, fand ich es…/ mehr

Jordan B. Peterson, Gastautor / 28.02.2024 / 10:00 / 14

112-Peterson: Was ist geistige Gesundheit?

Im Laufe der Zeit ist mir klar geworden, dass unsere links-protestantische Definition von Vernunft oder geistiger Gesundheit falsch ist. Wir haben die Tendenz zu glauben,…/ mehr

Jordan B. Peterson, Gastautor / 21.02.2024 / 10:00 / 38

112-Peterson: Verliere ich meine Berufserlaubnis?

Jordan B. Peterson läuft Gefahr, seine Berufserlaubnis zu verlieren. Grund ist unter anderem ein Tweet gegen die kanadische Regierung. Jordan B. Peterson läuft Gefahr, seine…/ mehr

Unsere Liste der Guten

Ob als Klimaleugner, Klugscheißer oder Betonköpfe tituliert, die Autoren der Achse des Guten lassen sich nicht darin beirren, mit unabhängigem Denken dem Mainstream der Angepassten etwas entgegenzusetzen. Wer macht mit? Hier
Autoren

Unerhört!

Warum senken so viele Menschen die Stimme, wenn sie ihre Meinung sagen? Wo darf in unserer bunten Republik noch bunt gedacht werden? Hier
Achgut.com