Gastautor / 15.03.2013 / 14:36 / 0 / Seite ausdrucken

Die Angst der Türhüter vor dem Talmud

Norbert Jessen

Vorige Woche zeigte der NDR im Ersten Programm einen israelischen
Dokumentarfilm, der massiv beworben wurde, immer wieder mit dem
Hinweis, er sei für den Oskar nominiert: „Töte zuerst!“ Alle noch lebenden
Ex-Geheimdienstchefs Israels nehmen vor der Kamera Stellung zu
Fragen über Leben und Tod, zum Umgang mit der eigenen Macht; sie
kritisieren die israelische Politik, ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen.

So ein Film, sollte man meinen, braucht keine zusätzliche
Spannungsmache. Der Regisseur Dror Moreh ging mit dem brenzligen
Stoff sorgfältig um. Warum hört sich der vom NDR gewählte Titel dann so
an, als sei noch etwas anderes intendiert gewesen? Warum hat man ihn
so verdreht, dass er dem hebräischen Original nicht einmal mehr vage
entsprach?

Der deutsche Titel “Töte zuerst” hat mit dem hebräischen „Shomrey
HaSsaf“ oder dem englischen “The Gatekeepers” nicht das Geringste zu
tun. Mit dem deutschen Titel werden Zuschauer gezielt in die
Gegenrichtung gelenkt: Weg von Schutz und Verteidigung des eigenen
Lebens, hin zu Angriff und grundlosem Töten. 

Von einem Missverständnis kann keine Rede sein. Wer beim NDR nach
den Gründen dieser Titelei nachfragt, dem wird mitgeteilt, die treffendste
Übersetzung von „Gatekeeper“ sei “Wächter” - und die sei schon an eine
andere Produktion vergeben gewesen.

Wenn es freilich darum geht, die GEZ-Gebühr als „Demokratiebeitrag“
anzupreisen, ist öffentlich-rechtlicher Sprachschatz wesentlich reicher und
flexibler, Neugierig fragte ich bei der zuständigen Redakteurin des NDR
an:

Sehr geehrte Frau Biemann,

nach der Ausstrahlung der Dokumentation von Dror Moreh blieb ich mit
der Frage zurück, warum ein in der deutschen Version völlig anderer
Titel den Zuschauer in den zu erwartenden Inhalt einführt.

In zwei Gesprächen mit Dror Moreh hatte ich den Eindruck, dass er
keine andere Wahl sah, da ihm keine hinreichenden sprachlichen
Alternativen vorgelegt wurden. Er selbst spricht kein Deutsch und fand
sich daher mit diesem Titel ab, mit dem er alles andere als zufrieden
ist.

Mittlerweile hatte ich Einsicht in einige Erklärungen, mit der Sie auf
weitere Anfragen dieses Thema erläutern. Sie kamen mir so dürftig vor,
dass ich weiteren Erklärungsbedarf anmelden möchte. Ich überlege mir
auch, die Aufarbeitung hebräischen Kulturschaffens in deutscher
Sprache breiter zu thematisieren. Steht der Fall Dror Moreh doch
keineswegs einsam auf weiter Flur.

Daher drei gezielte Fragen:

a) Warum wurde nicht die nächstliegende und sehr genaue
Übersetzung “Torwächter” (anstatt des vorbeanspruchten “Wächter”)
verwendet? 

b) Warum nicht “Türhüter”?
Sie erinnern selbst in einer Ihrer Erklärungen (an Henryk Broder) an die
beabsichtigte Doppelbedeutung des englischen Gatekeepers -
zwischen Heiligen Schriften und moderner Kommunikationstheorie.
Dror Moreh hatte Sie darauf aufmerksam gemacht. Auch im Deutschen
wird in beiden Bereichen der Begriff vom “Türhüter” verwendet. Franz
Kafkas Parabel sollte bekannt sein, die FAZ betitelt einen Blog-Beitrag
zur Allmacht von apple, facebook und microsoft mit “Türhüter-Parabel
reloaded”. Jedem, der sich zwischen den Sprachen Hebräisch und
Deutsch hin und her bewegt, sollte sofort beim talmudischen
Gatekeeper Kafkas Parabel einfallen. Ich nehme an, auch Ihrem
Übersetzer.

c) Wenn es schon der von Ayalon aufgegriffene Talmud-Spruch sein
muss, warum dann “Töte zuerst”?

“Kommt einer dich zu töten, komme ihm zuvor und töte ihn” wäre die
genauere, etwas umständliche Übersetzung aus dem Talmud. “Töte
zuvor” oder “Töte schneller” könnte diese Notwehr-Definition auf zwei
Worte verkürzt lauten. Kein Zahlwort aus Eins oder Erstens ist
vorhanden, auch nicht als zuerst. So aber klingt der Titel nicht mehr
nach Notwehr und assoziativ wird Verteidigung erneut zu Angriff: Nicht
der Mörder kommt zuerst und GREIFT den Hüter AN, sondern “zuerst”
wird getötet und danach…

Vielen Dank für eine baldige Beantwortung dieser drei Fragezeichen.

Frau Biemann mailte zurück:

Lieber Herr Jessen,
Ihr Eindruck, Dror Moreh habe keine Wahl gehabt, da ihm keine
sprachlichen Alternativen vorgelegt worden seien, spiegelt nicht wider,
was sich tatsächlich zugetragen hat.

Obwohl Dror Moreh selbst kein Deutsch spricht, haben wir in langen
(englisch geführten) Gesprächen über mögliche Übersetzungen für
“The Gatekeepers” gesprochen.

Die Schwierigkeit lag in der von Dror Moreh intendierten
Doppelbedeutung des englischen Begriffes “Gatekeeper”.
Der auch von Ihnen erwähnte Begriff “Torwächter” trifft seine Intention
nicht, diesen Titel lehnte er ab.

Die von Ihnen zitierte “Türhüter-Parabel” vom Gesetz, das allen
zugänglich sein soll, hat mit dem Begriff “Gatekeeper” aus der
Kommunikationstheorie, auf den Dror Moreh anspielen will, nichts zu
tun. Das wäre eine Verfälschung seiner Intention. Insofern kam auch
“Türhüter” nicht in Frage.

Es geht in der Doppelbedeutung nicht um Allmacht, sondern um
gezieltes Filtern von Informationen, das Botschaften und deren
Wahrnehmung beeinflussen soll.

Das ist die Funktion des “Gatekeeper”. Und um Wahrnehmung,
Informationen und die Sicht auf politische Realitäten geht es ja in dem
Film.

Warum haben wir “Töte zuerst” gewählt:

Zum einen, weil Dror Moreh es uns wörtlich so als Zitat aus dem
Talmud übermittelte. (Er schrieb: “He who comes to kill you, kill him
first”).

Zum anderen, weil es, wie erwähnt, ein Zitat im Film ist (Ami Ayalon).
Dass diese Wortwahl durchaus auch dem Selbstverständnis einiger
Protagonisten entspricht, kann man der Biografie von Yaakov Peri
entnehmen, ehemaliger Schin Bet-Chef und nun Abgeordneter in der
Knesset.

Der Titel der Biografie lautet: “Strike first”.

Ich hoffe, hiermit Ihre Fragen beantwortet zu haben.
Mit freundlichen Grüßen
Barbara Biemann
NDR Dokumentation & Reportage

Was es mit der „Kommunikationstheorie“ und den „Gatekeepers“ auf sich
hat, hätte Frau Biemann relativ mühelos herausfinden können, wenn sie ein
wenig gegoogelt hätte. Dann wäre sie nämlich hier gelandet:
http://blogs.faz.net/deus/2012/10/30/tuerhueter-parabel-reloaded-919/
Um zu erkennen, wie kafkaesk der ganze Vorgang ist, muss man auch
nicht unbedingt Kafkas Türhüter-Parabel „Vor dem Gesetz“ gelesen
haben.

Es genügt, den Regisseur des Films zu fragen, wie es zu der Umtitelung
gekommen ist. Ich habe es getan.

Letzte Woche wurde ihr Film “The Gatekeepers” im deutschen
Fernsehen ausgestrahlt. Dort hieß er aber…

Moreh: ...ich weiß, schlimm: “Kill first”. Das kam nicht von mir und war
sehr gegen meine Meinung, meinen Geschmack und mein Gefühl. Es
geschah, ohne dass ich dies wirklich verhindern konnte. Ich spreche
kein Deutsch und mir wurde erklärt, dass es keine angemessene
Übersetzung ins Deutsche gab, die sie hätten übernehmen können.
“Wächter” sei die richtige Übersetzung, wurde mir gesagt, die stand
aber aus irgendeinem formellen Grund nicht zur Verfügung.

Warum dann aber “Kill first”?

Moreh: Sie haben das einem Zitat entnommen, das Ami Ayalon in
seiner Antwort erwähnt. Es klingt schrecklich, da werden völlig andere
Assoziationen geweckt. Reißerischer, gezielt ins Gewaltsame, genau
dahin aber wollte ich eben nicht. Das Zitat bezieht sich auf Notwehr,
nicht auf Angriff…

...und ist überdies eine falsche Übersetzung des hebräischen
“haschkem lehorgo”. Es geht ja nicht darum, “zuerst” zu töten (und
danach vielleicht ein Bier zu trinken), sondern schneller zu sein als der
Angreifer, der dich töten will. Vermute ich richtig, dass auch Sie beim
Hebräischen “Schomer haSsaf” nicht an einen Türsteher vor einer
Disco denken, sondern eher an den Türhüter vor dem Gesetz, von dem
Franz Kafka in einer Geschichte erzählt, die in der hebräischen
Übersetzung der Parabel ebenfalls diesen talmudischen Titel trägt.

Moreh: Das begreift wohl jeder, der Hebräisch versteht, aber ich konnte
das auf Englisch nicht rüberbringen. Und Deutsch verstehe ich leider
überhaupt nicht. Dahinter lag aber ganz offen die Absicht, den
Zuschauern den Film auf eine ganz andere Weise vorzulegen, als das
mit dem Originaltitel geschieht. Letztlich musste ich mich damit
abfinden. Leider. Dem deutschen Zuschauer wird damit die
unbefangene Auseinandersetzung mit der Materie von Anfang an
unmöglich gemacht. Das ist auch unfair gegenüber den Befragten. Sie
waren doch wirklich selbstkritisch, so aber wollten sie nicht verstanden
werden.

In diesem Fall sitzen die „Gatekeeper“ weder beim israelischen
Geheimdienst, noch in einer Erzählung von Kafka, sondern beim NDR.
Wer an ihnen vorbei möchte, muss sehr genau hinschauen und hinhören.
Oder am besten gleich im Talmud nachschlagen.

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