Der Ex-Nissan-Manager Carlos Ghosn hatte sich spektakulär aus Japan abgesetzt um dort einer Anklage wegen Unterschlagung zu entgehen. Jetzt sitzt er im Libanon und bietet Stoff gleich für mehrere Krimis.
Die Vorgeschichte wurde bei Achgut schon berichtet. Ghosn hatte seit 1996 als Manager bei Renault den kriselnden Autobauer wieder in die schwarzen Zahlen gebracht, und dasselbe war ihm in Japan bei Nissan, wo Renault einen 40-prozentigen Anteil erworben hatte, gelungen. Zwanzig Jahre lang konnte Ghosn daraufhin bei Nissan schalten und walten, wie er wollte, und hat dabei, wie es scheint, die Gelegenheit genutzt, sich in großem Maßstab persönlich zu bereichern.
Obwohl er in der Öffentlichkeit immer alle Vorwürfe bestritt und stattdessen versuchte, durch diplomatische Hintertüren eine Vorzugsbehandlung für sich zu erreichen, wartete er eine juristische Aufarbeitung nicht ab. Ende 2018 war er in Japan verhaftet und Anklage gegen ihn erhoben worden. Er soll über verschiedene Kanäle Millionenbeträge zum Schaden von Nissan in seine Taschen geleitet haben. Einige Monate nach seiner Verhaftung kam er mit strengen Auflagen auf Kaution frei und sollte danach in Tokyo auf seinen Prozess warten. Dem entzog er sich jedoch zum Jahreswechsel 2019/20 durch eine spektakuläre Flucht.
Diese Flucht war aufwändig geplant. Er hatte dazu ausländische Helfer gedungen, die ihm halfen, den Plan in die Tat umzusetzen. Er war von Tokyo – noch vor Beginn der Corona-Pandemie durch eine medizinische Maske bis zur Unkenntlichkeit vermummt – mit dem Shinkansen nach Osaka gefahren. Von einem Hotel aus ließ er sich dann, in einem Musikinstrumentenkasten versteckt, durch den Sicherheits-Check am Flughafen in Osaka bringen und anschließend in ein Privatflugzeug schmuggeln, das ihn via Türkei außer Landes brachte.
Seitdem hält er sich im Libanon, dessen Staatsbürgerschaft er besitzt, in einem Haus in Beirut auf. Diesen Wohnsitz soll laut Anklage auch Nissan finanziert haben, doch obwohl er per internationalem Haftbefehl gesucht wurde, konnte er seitdem unbehelligt dort leben, denn der Libanon weigert sich, seinen Staatsbürger an Japan auszuliefern. Ghosn hatte von Anfang an immer wieder beklagt, dass man ihm in Japan übel mitgespielt habe, sich als Opfer einer Intrige geriert, das japanische Justizsystem kritisiert und behauptet, in Japan keinen fairen Prozess erwarten zu können. Einem Gerichtsverfahren im Libanon würde er sich dagegen jederzeit bereitwillig stellen, denn dort könne er seine Unschuld beweisen. Sein Anwalt Jean Tamalet von King & Spalding blies in das gleiche Horn. Im April 2022 kam es aber zu dem Paukenschlag, dass nun von französischer Seite genau dieselben Vorwürfe wie von japanischer Seite gegen ihn erhoben wurden.
Gestrandet in Beirut
Ghosn soll auf Firmenkosten ein Jet-Set-Leben auf großem Fuß geführt, teure Immobilien in verschiedenen Ländern gekauft und eine luxuriöse Yacht erworben haben. Die französische Justiz geht aber davon aus, dass Gelder auch von Renault stammen würden, wo Ghosn 2018 CEO geworden war, nachdem er seinen Vorstandsposten bei Nissan aufgegeben hatte.
Über eine Firma in Oman, Suhail Bahwan Automobiles, soll Ghosn hohe Geldbeträge beiseitegeschafft und auf verschleierten Wegen in seine Taschen gelenkt haben. Daher werden außer Ghosn noch vier weitere Personen, die in Beziehung zu Suhail Bahwan Automobiles stehen, per internationalem Haftbefehl gesucht. Sie sind verdächtig, in die illegalen finanziellen Machenschaften Ghosns eingebunden gewesen zu sein.
Wie sich der Justizkrimi weiter entwickeln wird, steht derzeit noch in den Sternen. Durchaus denkbar, dass Ghosn weiterhin durch Frechheit siegt. Doch auch wenn seine persönliche Lage noch recht annehmlich erscheint, hat er seine Lage in Beirut nicht unbedingt verbessert. Das wurde kürzlich in Japan durch einen Bericht deutlich, der die allgemeine Lebenssituation im Libanon beschreibt.
Seit seiner Flucht sitzt Ghosn in seinem Haus in Beirut fest. Er kann sich zwar im Libanon frei bewegen, doch bei einer Ausreise in ein anderes Land könnte er jederzeit verhaftet und an Japan ausgeliefert werden. Dazu kommt, dass sich im Libanon in den letzten beiden Jahren so viel zum Schlechten veränderte, dass auch Ghosns Leben dadurch beeinträchtigt wird. Das schlagzeilenträchtigste Geschehen ereignete sich im August 2020 mit der großen Explosion im Hafen von Beirut. Doch schon zuvor war durch den Aufstieg der Hisbollah das politische System, das zwischen den verschiedenen konfessionellen Gruppen einen Ausgleich suchte, aus dem Gleichgewicht geraten.
Ein Land auf dem absteigenden Ast
Die Katastrophe im August 2020 offenbarte dann vor aller Augen, dass der Staat längst dysfunktional geworden war, sodass man den Libanon ohne Übertreibung einen failed state nennen kann. Und wenn wie in vielen ähnlichen Fällen auf den höchsten Verwaltungsebenen nichts mehr funktioniert, dann setzt sich das fort bis zu den untersten Ebenen. In Beirut wird das auch dadurch sichtbar, dass nicht einmal mehr die Müllabfuhr funktioniert und sich in der Stadt der Müll stapelt.
Bereits seit 2019 leidet der Libanon unter einer Wirtschaftskrise, die den Lebensstandard rapide absinken lässt. Dazu kamen die Auswirkungen der Corona-Pandemie und taten ein Übriges, um die wirtschaftliche und gesellschaftliche Lage zu verschlechtern. Da aufgrund einer Währungskrise das Geld fehlt, um die Kraftwerke im Land mit Brennstoff zu versorgen, kann eine durchgehende Stromversorgung nicht mehr aufrechterhalten werden. Dem Staat fehlt schlicht das Geld dafür, im Ausland Treibstoff zu kaufen. Und seit Beginn des Krieges in der Ukraine verschlechtert sich die Situation weiter, denn die Preise für Energie steigen seitdem weltweit.
Kontrollierte Stromabschaltungen wechseln sich dabei mit flächendeckenden Blackouts ab. Im Oktober 2021 und im Januar 2022 brach im ganzen Land das Stromnetz zusammen. Und wenn das passiert, haben nicht nur Privathaushalte keinen Strom mehr, sondern auch Betriebe, Supermärkte, Kaufhäuser und so weiter. Auf den Straßen fallen die Ampeln aus, Lifte und Rolltreppen funktionieren nicht mehr. Nur um die Pünktlichkeit der Bahn muss man sich keine Sorgen machen, denn seit dem libanesischen Bürgerkrieg fahren keine Züge mehr. Das Schienennetz wurde damals zerstört und nicht wiederaufgebaut.
Katastrophale Stromversorgung
Solange es sich um kontrollierte Stromabschaltungen handelt, wird nach Möglichkeit versucht, zu bestimmten Zeiten die Stromversorgung aufrechtzuerhalten. Doch wenn am Abend die Sonne früher untergeht, als das öffentliche Stromnetz wieder in Gang kommt, dann bleibt es in den Häusern und auf den Straßen bis auf wenige Ausnahmen dunkel.
Eine moderne Gesellschaft kommt ohne Digitalisierung kaum mehr aus, sowohl im privaten Bereich als auch im Wirtschaftsleben. Doch funktionierende Computer und Handys sind im Libanon zweitrangig geworden, denn ohne Strom gibt es kein Internet. Problematischer ist im Alltag zum Beispiel der Ausfall von Kühlschränken. Davon sind nicht nur Privathaushalte, sondern auch Supermärkte und Restaurants betroffen. Nur Wohlhabende können mit Hilfe von Notstromaggregaten eine durchgehende elektrische Versorgung in ihren Häusern sicherstellen. Und gar nicht wenige Firmen können sich, wenn das öffentliche Stromnetz ausfällt, keine eigene Stromversorgung leisten.
Nebenbei gesagt, bietet der geschilderte Zustand im Libanon einen Vorgeschmack auf das, was Europa und speziell Deutschland blüht, sollte das russische Gas eines Tages aufhören zu fließen. Dann wäre es gleichgültig, ob Putin von sich aus den Gashahn abdreht, oder die EU sich auf einen Gasboykott einigen würde. Das wäre dann keine Frage des Geldes, sondern einer höheren Moral, derzufolge man einen niedrigeren Lebensstandard in Kauf nehmen müsste. Die Parole „Frieren gegen Putin“ können nur ehemalige Pastoren verkünden, die ihren Hintern längst im Warmen haben, sofern sie außer Acht lassen, dass Gas in Deutschland nicht nur zum Heizen gebraucht wird, sondern auch, um die Stromerzeugung bei Ausfall der erneuerbaren Energien zu gewährleisten.
Wenn die Versorgung mit „Freiheitsenergie“ ausfällt, weil die Sonne nicht scheint und auch kein Wind weht, dann geht ohne Gas das Licht aus. Und je mehr elektrifiziert ein Haushalt ist, desto mehr wäre er davon betroffen. Vom Warmwasser über Fön bis Mikrowelle, vom Fernseher bis zum Kühlschrank. Bei Computern oder Smartphones könnte man sich vielleicht mit Power Banks behelfen, aber Internet gäbe es dann keins mehr. Und ob man mit Gas oder Strom kocht, das macht dann keinen Unterschied, es blieben zur Auswahl nur noch kalte Speisen und Dosenfutter. Alle Supermärkte und Restaurants müssten sich schleunigst mit Notstromaggregaten eindecken, sofern noch welche erhältlich wären, sonst verderben ihnen die Lebensmittel. Und die letzte Generation müsste noch viel mehr weggeworfenes Essen beklagen als heute.
Kleinere Brötchen backen
Zurück zu Ghosn: Wie viel er von seinem früheren Vermögen retten konnte, ist ungewiss. Er scheint noch halbwegs weich gebettet zu sein, sofern er auf Devisen zurückgreifen kann. Das libanesische Pfund ist seit 1997 an den US-Dollar gebunden und nach dem offiziellen Wechselkurs erhält man für einen US-Dollar 1.500 libanesische Pfund. Doch seit 2019 weicht der tatsächliche Wert vom offiziellen Wechselkurs immer stärker ab, und der Prozess beschleunigt sich. Ende letzten Jahres gab es am Schwarzmarkt für einen Dollar schon 21.500 libanesische Pfund.
Das Bruttoinlandsprodukt des Libanon sank in den letzten beiden Jahren um 60 Prozent, und der Staat ist inzwischen mit 170 Prozent seines BIP verschuldet. Aufgrund Devisenmangels kann der Libanon auch seine Auslandsschulden nicht mehr bedienen. Abhebungen und Überweisungen mit Dollar sind mit starken Beschränkungen belegt, weil die libanesischen Banken sonst ihre letzten Devisenreserven verlieren würden. Und wer im Libanon mit einer ausländischen Kreditkarte bezahlt, dem wird natürlich der sehr viel schlechtere offizielle Wechselkurs berechnet.
Betrachtet man unter diesen Umständen Ghosns Situation, könnte der Eindruck entstehen, dass er durch seine Flucht vom Regen in die Traufe gekommen ist. In Japan hatte er eine Kaution von mehr als 10 Millionen Euro stellen müssen. Bei seiner Flucht verzichtete er nicht nur darauf, sondern musste auch hinnehmen, dass ihm Konten gesperrt wurden. Bei dem Geschick, mit dem er bis dahin seine finanziellen Transaktionen bewerkstelligte, ist zwar anzunehmen, dass er noch über geheime Konten und damit über Devisen verfügt. Aber die muss er zu guten Konditionen wechseln, denn angesichts der steigenden Inflation schmilzt der Wert des libanesischen Pfunds wie Schnee in der Sonne. Am Hungertuch nagen wird er deswegen noch lange nicht, doch verglichen mit seinem früheren Luxusleben muss Ghosn nun wohl kleinere Brötchen backen.