Oliver Marc Hartwich, Gastautor / 28.10.2012 / 22:23 / 0 / Seite ausdrucken

Großbritanniens nicht vorhandene Sparpolitik

Am Samstag zogen Zehntausende von Demonstranten durch die Straßen, um die Sparpolitik der Regierung anzuprangern. Gewerkschaftsführer forderten ein Ende der Haushaltskürzungen und Privatisierungen. Ferner verlangten sie vehement neue Programme zur Ankurbelung der Wirtschaft und drohten sogar mit Generalstreik, wenn die Regierung ihren Forderungen nicht nachkäme.

Was wie eine vertraute Szenerie aus Griechenland wirkt, hat sich jedoch in Wirklichkeit in Großbritannien abgespielt. Der Hauptunterschied zwischen dem Syntagma-Platz und dem Hyde Park bestand darin, dass die Proteste gegen die Sparpolitik in Großbritannien friedlich verliefen, obwohl der Widerstand gegen eine Wirtschaftsreform im Vereinigten Königreich zweifellos wächst. London ist vielleicht nicht Athen an der Themse, doch seine Finanzen sehen ebenfalls kaum zukunftsfähig aus.

Die Regierung von Premierminister David Cameron ist auf die Unterstützung der Zentralbank angewiesen, und die öffentlichen Ausgaben steigen trotz aller Versprechen, das massive Defizit zu senken. Bisher hat die Welt mit Beklommenheit und Furcht die Eurokrise auf dem Kontinent beobachtet, doch die nächste große Staatsschuldenkrise könnte durchaus jenseits des Ärmelkanals eintreten.

Zunächst einige gute Nachrichten: Großbritannien verzeichnete sein niedrigstes September-Haushaltsdefizit seit 2008. Die Unterstützung durch den Finanzsektor nicht gerechnet, lag es um 700 Mio. £ unter dem Vorjahresniveau.

Nun zu den schlechten Nachrichten: Im September betrug der Fehlbetrag zwischen Einnahmen und Ausgaben nach wie vor 12,8 Mrd. £. Die Nettoverschuldung der öffentlichen Hand erreichte am Ende des Vormonats 1.065,4 Mrd. £ – oder 67,9 Prozent des BIP. Im laufenden Haushaltsjahr wird die britische Regierung voraussichtlich ein Defizit von mehr als 120 Mrd. £ (7,6 Prozent des BIP) anhäufen.

Unter normalen Umständen hätte jede Regierung Schwierigkeiten, sich so hohe Defizite über einen so langen Zeitraum zu leisten, ohne dass die Kreditkosten einem zunehmenden Aufwärtsdruck ausgesetzt wären.

Nicht so die britische Regierung: Die Renditen für 10-jährige Staatsanleihen sind im vergangenen Jahr zurückgegangen und liegen derzeit knapp unter 2 Prozent.

Leider hat das nur wenig mit dem Vertrauen der Märkte in die fiskalpolitische Zukunft Großbritanniens und dafür umso mehr mit der geldpolitischen Lockerungspolitik der Bank von England zu tun.

Zwischen April und September dieses Jahres emittierte das britische Debt Management Office neue staatliche Schuldverschreibungen im Wert von 70,5 Mrd. £. Im gleichen Zeitraum kaufte die Bank of England (über ihr Asset-Purchase-Programm) britische Staatsanleihen in Höhe von 54,8 Mrd. £ an. Die Kapitalmärkte brauchten also nur 15,8 Mrd. £ an staatlicher Kreditaufnahme zu absorbieren, der Rest wurde von der Zentralbank übernommen. Die Bank von England führt inzwischen britische Staatsanleihen im Wert von 368,7 Mrd. £ in ihren Büchern.

Anders ausgedrückt: Die Bank of England ist der größte Liquiditätsanbieter für die britische Regierung geworden – und besitzt bereits fast ein Drittel der Nettostaatsschulden des Landes. Dieser Bestand wird sich voraussichtlich trotz der aktuell geltenden Obergrenze ihrer Wertpapierankauftätigkeiten von 375 Mrd. £ noch erhöhen. Die Defizite der britischen Regierung haben sogar eine solche Höhe erreicht, dass die Renditen für britische Anleihen ohne die Unterstützung der Zentralbank plötzlich kräftig steigen könnten.

Wie stehen also die Chancen, dass die Bank of England ein solches Ergebnis riskieren würde?

Die Zentralbank Großbritanniens spannt für eine unverantwortliche Haushaltspolitik ein Sicherheitsnetz aus - in der vagen Hoffnung, es werde wieder Wirtschaftswachstum einsetzen und die Regierung könne ihre Ausgaben endlich auf eine tragfähigere Höhe zurückführen. Leider gibt es für solchen Optimismus keinerlei Anlass. Trotz all des Geredes über „Sparsamkeit“ wird in Wirklichkeit gar keine Sparpolitik betrieben.

Nach den diesjährigen Haushaltsprognosen der britischen Regierung erhöhen sich die Ausgaben: Von 696,4 Mrd. £ in den Jahren 2011 und 2012 auf 756,3 Mrd. £ von 2015 bis 2016. Drastische Einsparungen im Haushalt sind im allgemeinen Ausgabenrausch kaum zu erkennen.

Wer würde angesichts dieser Ausgabensteigerungen behaupten, die Regierung Cameron halte sich an ein Sparprogramm in irgendeiner Form? Nun, die Cameron-Regierung selbst tut es – indem sie Sparpolitik nicht als Ausgabenbeschränkung, sondern als Ausgabenhöhe im Verhältnis zum BIP definiert. So gesehen - und nur so gesehen - legt sie folgende Prognose für die Senkung der Staatsausgaben vor: Von 45,8 Prozent des BIP in den Jahren 2011 und 2012 auf 39,0 Prozent von 2015 bis 2016.

Das sieht zu schön aus, um wahr zu sein. Richtig! Die Prognosen der britischen Regierung könnten sich nur auf eine einzige Weise erfüllen: wenn die ihnen zugrunde liegenden Annahmen über das Wirtschaftswachstum zutreffen. Ihrem Wunschdenken zufolge wird das BIP im nächsten Jahr um 2,0 Prozent wachsen und danach bis 2015 auf schließlich 3 Prozent anziehen. Das klingt nicht zu optimistisch - bis man sich bewusst macht, dass die durchschnittliche Marktprognose für das nächste Jahr bei 1,2 Prozent liegt und selbst eine Triple-Dip-Rezession nicht ausgeschlossen werden kann.

Die „Sparpolitik“ der britischen Regierung hängt also vollständig von zukünftigem Wachstum ab, ohne dass die allgemeine Ausgabenhöhe angepasst wird. Da stellt sich doch die Frage: Warum waren dann Zehntausende von Demonstranten am Samstag auf der Straße? Worüber haben sie sich beklagt?

Wie Anthony J. Evans von der ESCP Europe Business School in einem soeben von der George Mason University veröffentlichten Arbeitspapier erläutert, hat niemand in Großbritannien ein Interesse daran, das Vorhandensein eines Sparprogramms abzustreiten. Die Regierung muss die Märkte überzeugen, dass Großbritannien nicht das nächste Land ist, das in eine Staatsschuldenkrise gerät. Zudem will die Regierung die mit ihren rosaroten Wachstumsprognosen belegte Stabilität der britischen Wirtschaft nicht in Frage gestellt sehen. Die Opposition dagegen versucht, sich die weit verbreitete Ablehnung von Kürzungen der öffentlichen Leistungen zunutze zu machen – und die Mobilisierung der Massen am Samstag zeigt, dass diese Rechnung aufgeht.

Praktisch bedeutet das, dass beide Seiten eine nicht vorhandene politische Agenda überbetonen. Die Massenkundgebung vom Wochenende war ein lautstarker Protest wegen herzlich wenig.

In Großbritannien gibt es keine Sparpolitik– nur eine optimistische Wachstumsprognose. Das Vereinigte Königreich steckt nur deshalb nicht in einer Staatsschuldenkrise, weil seine Zentralbank in der Haushaltspolitik aushilft. Trotz des minimalen Rückgangs der Kreditaufnahme im September deutet jedoch nichts darauf hin, dass die Lage sich irgendwann demnächst verbessern könnte.

Um es deutlich zu sagen: Großbritannien ist nicht Griechenland. Die Griechen mussten unter enormem Druck die Staatsausgaben tatsächlich kürzen, während die Briten bisher nur darüber reden. Im Gegensatz zu den Griechen haben die Briten jedoch noch ihre eigene Währung und ihre eigene Zentralbank (und sie zahlen auch einiges an Steuern). Solange die Bank of England weiterhin britische Staatsanleihen kauft, als gäbe es kein Morgen, ist alles in Ordnung.

Die Probleme werden erst dann anfangen, wenn Großbritannien erkennt, dass es immer ein Morgen gibt.

Dr. Oliver Marc Hartwich ist Executive Director der The New Zealand Initiative.

‘Britain’s phantom austerity’ erschien zuerst in Business Spectator (Melbourne), 25. Oktober 2012. Aus dem Englischen von Cornelia Kähler (Fachübersetzungen - Wirtschaft, Recht, Finanzen).

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