Richard Wagner / 20.02.2008 / 10:16 / 0 / Seite ausdrucken

Gerechtigkeit statt Freiheit - Castro hört auf, die FR macht weiter

Einer der dienstältesten Diktatoren der Welt ist von der Bühne abgetreten. Seine letzte, Lubitsch-taugliche Entscheidung: Er hat die Macht an jüngere Kräfte abgegeben, an seinen 76jährigen Bruder Raul. Wir dachten schon, zu einem solchen Mann fällt uns nichts weiter ein, da bescherte uns die „Frankfurter Rundschau“ eine Fidel-Würdigung von Stephan Hebel”> eine Fidel-Würdigung von Stephan Hebel, die, in Tabloidform, die Summe aller bekannten und leider auch beliebten Missverständnisse über den Maximo Lider und sein System enthält. http://www.fr-online.de/top_news/?em_cnt=1290796

Missverständnis Nummer eins: Castro habe Kuba von der Herrschaft des Diktators Fulgencio Batista befreit, nachdem dieser die Insel zu einem preiswerten Puff für Amerikaner gemacht habe und zu einem Ort der brutalen Ausbeutung der Mehrheit durch die Minderheit der Großgrundbesitzer dazu.

Fulgencio Batista mag keine nachahmenswerte politische Erscheinung gewesen sein, aber er war mehr ein politisch dilettierender Parvenü und Möchtegern-Caudillo, im Grunde ein Populist, der immerhin zeitweise auf seinen Machtanspruch aufgrund von Verfassungsvorgaben verzichtete. Wie gering die Konsistenz seiner korrupten Herrschaft gewesen sein muss, lässt sich nicht zuletzt durch den Werdegang seines berühmten Gegners Castro belegen. Dieser wurde, nachdem er 1953 mit einer Gruppe von Freischärlern die Moncada-Kaserne überfiel, in der Annahme die Soldaten in ihrer Karnevalsmüdigkeit überwältigen zu können, zwar zu einer hohen Gefängnisstrafe verurteilt, aber bereits nach zwei Jahren amnestiert. Bei einer Kleinigkeit wie der, dass ihm seine Geliebte regelmäßig das Mittagessen in den Knast bringen konnte, wollen wir uns gar nicht weiter aufhalten. Der weitgehend operettenhafte Charakter des Batista-Regimes wird erst durch den Vergleich mit der Castro-Herrschaft deutlich. Bei Castro saßen die politischen Häftlinge, sofern sie überlebten, nicht selten 30 Jahre im Knast.

Im übrigen gab es in Kuba vor Castro nicht nur Großgrundbesitzer und Landarbeiter, wie Stephan Hebel meint, sondern auch eine beachtliche urbane Mittelschicht, aus der auch der Anwalt Castro kommt. Havanna galt als Perle der Karibik. Was Castros Sozialismus-Experiment daraus gemacht hat, lässt sich bis heute inspizieren. Es ist der umfassendste Verfall, den Stadtarchitektur jemals erlebt hat.

Und noch eine Kleinigkeit: Kuba war in den Fünfzigern keineswegs ein amerikanischer Puff, Havanna lebte in viel größerem Maß von den Spielhöllen, nicht anders als Las Vegas, und an diesen Geschäften war, welch ein Gottesgeschenk für den Kapitalismuskritiker, auch die Mafia beteiligt. Zum Puff aber wurde Kuba erst in den letzten 20 Jahren, als Castros Buchhaltung den Tourismus, inklusive den Sex-Tourismus, als Devisenquelle für den bankrotten Sozialismus entdeckte. Prostitution als angewandter Patriotismus?

Stephan Hebel ist der Meinung, das Castro-Regime werde vorerst stabil bleiben, und das nicht nur durch Gewalt und Propaganda. Dieses Regime habe im Spannungsfeld zwischen Freiheit und Gerechtigkeit radikal auf Gerechtigkeit gesetzt.

Da haben wir es wieder, das Lieblingsgezeter der Deutschen! Gerechtigkeit zuerst! Die Gerechtigkeit hat, so gesehen, in Deutschland, im letzten Jahrhundert, gleich zweimal über die Freiheit triumphiert: 1933 im Reichstag und 1949 in der SBZ. Aber lassen wir das schwere Geschütz.

In den Augen seiner intellektuellen Verteidiger in Europa hat Castros Regime zwei große Verdienste: die Ausbildung und die medizinische Versorgung. Nebenbei gefragt: Leben sonst in Lateinamerika nur Analphabeten und gibt es einen Run auf die kubanischen Universitäten oder lassen sich etwa Gesundheitstouristen in kubanischen Kliniken behandeln?

Castro hat Kuba ruiniert, er hat es geschafft, auf einer Karibikinsel den Früchtesaft zur Mangelware zu machen, das ist, neidlos gesagt, eine echte Leistung. Wenn es tatsächlich keine Alternative zu seinem Regime geben sollte, so ist das mehr dem Ausmaß der jahrzehntelangen Repression und der Misswirtschaft zuzuschreiben als der amerikanischen Blockade. Die meisten aus Kuba geflohenen Castrogegner leben im übrigen in den Vereinigten Staaten. Sie haben die Freiheit gewählt. Lernen wir etwas daraus?

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