Rainer Bonhorst / 07.08.2021 / 14:00 / Foto: Government of UK / 30 / Seite ausdrucken

Ein Inselreich schwimmt davon

Johnson und die Seinen haben sich für eine "splendid isolation" entschieden. Seither bewegt sich das Königreich in einem Krisenmodus, der alles andere als splendid ist.

By Jingo! Das ist die englische Variante einer Gefühlslage, die bei uns „Deutschland über alles“ stellt. Ein gegen Russland gerichteter Gassenhauer aus der viktorianischen Zeit hat den Begriff des Jingoismus geboren. Er war lange scheintot, erlebt aber im Brexit-England eine kraftstrotzende Wiedergeburt. Unter dem Segel des Jingoismus schwimmt das Inselreich immer weiter vom Kontinent weg und versucht, sich als Global Britain irgendwo in der Nähe der Azoren zu platzieren. Und landet bisher im Nirgendwo.

Wie konnte es dazu kommen? Weil der Brexit, ein aus britischer Sicht durchaus nachvollziehbarer Schritt, aus dem Ruder gelaufen ist. Die Briten – eigentlich als pragmatische Politiker weltweit ein Vorbild – haben sich einer Regierung mit ideologischen Scheuklappen anvertraut. Statt einen maßvollen Brexit zu wählen, haben sie sich in die Hände einer nationalistischen Truppe um Boris Johnson begeben. Die lehnt den norwegischen oder den Schweizer Weg ab, der sich klug am gemeinsamen Brüsseler Markt orientiert und damit unnötige Probleme der totalen Unabhängigkeit vermeidet. Johnson und die Seinen haben sich für eine splendid isolation entschieden. Seither bewegt sich das Königreich in einem Krisenmodus, der alles andere als splendid ist.

Der Abschied vom Kontinent und das Hochziehen der Burggrabenbrücken bedeutet, dass kaum noch polnische Lastwagenfahrer auf die Insel kommen, um Obst und Gemüse zu transportieren, das sowieso zur Mangelware wird, weil auch die rumänischen Obst- und Gemüsepflücker nicht mehr reingelassen werden. In den Regalen der Supermärkte klaffen ungewohnte Lücken. Langsam aber stetig wandern auch Finanzdienstleister aus dem Weltzentrum in Richtung Kontinent ab. Hält das an, tut das dem Land, das ganz wesentlich von der „City“ lebt, besonders weh.

Leere Versprechungen und arrogante Untätigkeit

Touristen, die trotz der unfreundlichen Stimmung die Insel betreten, müssen damit rechnen, dass sie unter dem Verdacht, Arbeit zu suchen, in Handschellen abgeführt und nach ein, zwei Nächten in Haftzellen auf den Kontinent abgeschoben werden. In den Restaurants und Pubs fehlen die Mitarbeiter, die früher in ausreichender Zahl von jenseits des Kanals kamen, um sich ein bisschen Geld zu verdienen und Englisch zu lernen. Fischer, denen man die große Freiheit versprochen hat, kriegen dank der neuen Zollbestimmungen als Drittland ihre Ware erst rüber auf den Kontinent, wenn sie das Etikett „frisch“ längst verloren haben. Eine Insel- und Küsten-Industrie stirbt leise vor sich hin. Die ärmeren Regionen wie Wales und Cornwall müssen sich ohne die vielen Millionen Euro durchschlagen, die sie von Brüssel bekommen haben. Jetzt steht ihnen das Wasser bis zum Hals, denn London lässt sie hängen.

Leere Versprechungen und arrogante Untätigkeit pflastern den Weg der Brexit-Ideologen. Das rabiate Grenzsystem verkörpert Innenministerin Priti Patel, deren Eltern aus Indien nach England eingewandert sind. Heute müssten sie unter dem Patel-Regime draußen bleiben und ihre Tochter in Gujarat zur Welt bringen. Ein besonders schöner Beleg für die Allgemeingültigkeit des Satzes von F. W. Bernstein: Die schärfsten Kritiker der Elche waren früher selber welche.

So stirbt die Idee, dass England, das historisch und kulturell nie ganz in die Europäische Union passte, nach der Scheidung als wertvoller Nachbar weiter eng und freundschaftlich mit dem Kontinent zusammenarbeitet. Auch aus dem Traum, in Anlehnung an das Empire von einst, den Abschied vom Kontinent durch lukrative Handelsabkommen mit den Verwandten im Commonwealth zu kompensieren, ist bisher nicht viel geworden. Die CANZUK-Idee, also Kanada, Australien und Neuseeland mit dem Königreich zu einer neuen Union zu vereinen, hat bisher nicht gezündet. Ein Handels-Abkommen mit Australien ist so einseitig, dass die britische Landwirtschaft bereits um ihre Zukunft bangt. Von Brüssel bekommt sie ja nichts mehr. Von London hat sie nichts zu erwarten.

Schottland und Nordirland driften ab

Das Inselreich schwimmt politisch nicht nur hinaus in die Weiten des Atlantiks. Es zeigt auch Auflösungserscheinungen. Schottland, das nie die EU verlassen wollte, hat erst vor sieben Jahren für den Verbleib im EU-Land Großbritannien gestimmt. Jetzt will die Mehrheit weg von den englischen Nationalisten, von denen sie sich verraten fühlt, da sie keine Rücksicht auf die Wünsche des nördlichen Nachbarn nehmen. Europäische Politiker sind inzwischen boshafterweise dabei, heftig mit den Schotten zu flirten und ihnen zu versichern: Ihr seid herzlich willkommen, wenn ihr den Engländern den Rücken kehrt. Nicola Sturgeon, die Regierungschefin des Freistaats Schottland, will den Abschied durchpauken, aber sie lässt sich Zeit, in der Hoffnung, dass Boris Johnson den englischen Laden noch tiefer in den Sumpf fährt.

Ein schleichender Abschied ist auch in Nordirland zu spüren. Zwar klammern sich die nordirischen Protestanten weiter lautstark ans Königreich. Aber die Wirtschaft lehnt sich immer enger an die zur EU gehörige Irische Republik an. Sie profitiert vom Sonderstatus Nordirlands, das weiterhin als Teil des gemeinsamen EU-Marktes gilt. So trocknet der schwieriger gewordene Handel mit der königlichen Nachbarinsel allmählich aus, während der Warenverkehr zwischen dem irischen Norden und dem Süden wächst und gedeiht. Wer leere Supermarkt-Regale sucht, muss nach England gehen. In Nordirland sind die Regale voll.

Wohin die normative Kraft des Faktischen noch führt und wie schnell sie wirkt, ist schwer zu sagen. Aber es scheint, dass Boris Johnsons Herz nicht sehr heftig für Nordirland schlägt. Er hat zwischen diesem Teil des Königreichs und der Hauptinsel ein Grenzregime akzeptiert, mit dem er nichts als Ärger hat. Er hat diese lästige Grenze innerhalb des Königreichs nur hingenommen, um seinen Brexit über die Bühne zu bringen. Jetzt will er davon nichts mehr wissen und die Sache neu verhandeln. Den Grundsatz, dass man Vereinbarungen wenigstens mehr als ein paar Monate einhalten soll, hat er – wie so vieles – nie ganz ernst genommen. Aber auch das Abdriften der Nordiren in Richtung Süden scheint ihm keine schlaflosen Nächte zu bereiten. Er handelt gerne nach dem Beckenbauer-Motto: Schaun mer mal, dann sehn mer scho.

Klassische englische Antwort auf harte Zeiten: die stiff upper lip

Schlaflose Nächte scheint ihm hingegen die Fülle der wirtschaftlichen Probleme zu bereiten, die er sich und seinem Land mit dem harten Brexit und Priti Patels eisernem Grenzregime eingehandelt hat. Darum wird jetzt schon darüber spekuliert, dass Boris Johnson vielleicht bereits im nächsten Jahr, also zwei Jahre vor Ablauf seiner Amtszeit, Neuwahlen plant. Der Gedanke dahinter: Lieber bald wählen als später, wenn sich beim Volk immer mehr herumspricht, dass der Johnson-Brexit alle Merkmale eines Flops hat.

Auch hier gilt: Schauen wir mal, dann sehen wir schon. Noch schwimmt die Insel draußen im Atlantik, nicht so frisch und frei wie erhofft, eher einsam und ein bisschen verloren. Aber die Briten haben ein besonderes Verhältnis zu schwierigen Zeiten. Die Nachkriegszeit mit ihren Essensmarken und patriotischen Liedern von Vera Lynn ist vielen älteren Semestern in liebevoller Erinnerung. Die klassische englische Antwort auf harte Zeiten ist die stiff upper lip. Und wer weiß, vielleicht erweist sich die steife Oberlippe auch als Retter für Boris Johnson auf seiner ins Nirgendwo treibenden, aber stolzen Insel.

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E Ekat / 07.08.2021

Vielleicht beugt sich Johnson noch und bittet Herrn Bonhorst, bei von der Leyen die von der EU verfolgten und ersehnten bedingungslosen Kapitulationsverhandlungen einzuleiten.

Swami Angora / 07.08.2021

Paris, Luxemburg, Dublin, Frankfurt. Ein kleiner Teil der Banker muss aus der Londoner Cizy wegziehen weil bestimmte Produkte, wie Fonds, innerhalb der EU residieren müssen, wenn sie weiter hier gehandelt werden. Der Großteil der Banker bleibt dort. Übrigens dürfen auch Schweizer Aktien seit 2019 nicht mehr in der EU gehandelt werden, weil sich die Politik zerstritten hat. Den Schweizern macht es nichts aus, jeder EU - Bürger kann seine Aktien über Online Broker mit Verbindung in die Schweiz handeln. Die EU - Börsen verlieren Geschäft.

Gottfried Solwig / 07.08.2021

Wer so schreibt, der hat offensichtlich die Entwicklung der letzten 15 Jahren auf dem europäischen Kontinent übersehen. Rumänen gehen nicht in dem Westen, um ein wenig Geld zu verdienen (dafür hätte man es ähnlich wie Dubai mit den Indern machen müssen), sie sind seit der Jahrtausendwende in Scharren in dem Westen gezogen! Zuerst nur nach Italien, Spanien und England, weil die Bundesrepublik für Rumänen zum damaligen Zeitpunkt unerreichbar war (Ängste der Bürger wurden 2007 öffentlich kleingeredet, Rumänen würden südliche Länder bevorzugen) und dann ab 2014 als die Beschränkungen gefallen sind, sind die Mehrheit der Rumänen aus diesen Ländern in die Bundesrepublik rüber wo sie von Anfang an gekommen wären hätten sie gedurft. Sie haben auch nicht mehr vor zurückzukehren! Auch hier hätte man sich Dubai als Vorbild nehmen müssen. Dort ist es unmöglich für fremde die Staatsbürgerschaft zu erlangen. Dann wären Menschen gekommen, um ein wenig Geld zu verdienen und zurückgegangen um sich am Aufbau im eigenen Staat zu beteiligen.Eigentlich kennt man es mit den Gastarbeitern wohin das zugeführt hat. Zu heterogen Staaten die sich zerlegen. 4,5 Mio. Menschen fehlen dem rumänischen Staat überall. Bereits seit 20 Jahren wurden Hunderte von Krankenhäusern gesperrt, überall im Land gibt es Dörfer wo nur Rentner und ein paar Jugendliche wohnen, die nur darauf warten die Schule fertigzumachen, um in den Westen zu gehen. Das war von den Gründervätern der EU so nicht gewollt, das sich europäische Staaten zerlegen. Hauptsache sie zahlen im Westen Steuer und schon passt alles.Die Einwanderung aus dem Osten wird seit 2015 gar nicht mehr kritisiert. Angesichts muslimischer Masseneinwanderung wird sie als kleines Übel gesehen. Die EU Freizügigkeit ist das, was Europa kaputt macht.Das hat eine Bewegung im Gang gesetzt, die den ganzen Kontinent kaputt macht, man will schwache Oststaaten um zu moralisieren wie im Falle Polens.Das haben leider nur die Briten in Europa auch wirklich verstanden.

Dr Stefan Lehnhoff / 07.08.2021

Klischees, schiefe Sprache, offenkundige Einseitigkeit und massive Weglassungen. Kann man akzeptieren . Wenn es lustig oder leidenschaftlich wäre. Ist es aber auch nicht. War selbst nie ein BJ Fan, aber das hier war wohl nix.

Reinhard Max / 07.08.2021

Hallo Herr Bonhorst, sehen Sie es doch bitte endlich ein, der Brexit ist durch und die Briten können auch ganz gut ohne EU. Der Artikel hört sich an, wie das Jammern eines kleinen Kindes, das immer noch etwas will, was längst gegessen ist. England war Netto Zahler in der EU, allein das jetzt weniger Gelder ankommen halte ich für eine verwegene Aussage.

g.schilling / 07.08.2021

Klar die Engländer machen alles falsch, weil sie IHREN Weg gehen wollen. Nicht immer ist der breite Weg der richtige. Nur in D klappt alles hervorragend. Haben wir doch die adipöse Erleuchtete und ihre grenzdebilen Minister, die nach Uschis Pfeife tanzen. Wir werden sehen wer zuletzt lacht. Keep your upper lip stiff. You will win.

G. Böhm / 07.08.2021

Ja, der Niedergang ist allgegenwärtig. Selbst Nebenplätze offenbaren dies deutlich, so hat z. B. Großbritannien im Vergleich zum größten D-Land aller Zeiten in Tokio nur doppelt so viele Gold- und Silbermedaillen (20|21 zu 10|11) eingeheimst, splendidly.

Lutz Herrmann / 07.08.2021

Leicht durchideologisierter und unsachlicher Artikel. Kann der Boris etwa nicht schwimmen, weil man ihn beim Überswassergehen erwischt hat?

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