Henryk M. Broder / 24.10.2013 / 16:48 / 6 / Seite ausdrucken

Die Wucht der Erinnerung

Der Satz „Die Erinnerung ist das Geheimnis der Erlösung“ soll angeblich irgendwo im Talmud stehen.

Oder in den Schriften des chinesischen Philosophen Laotse, dem Begründer des Taoismus. In Deutschland gehört der Einzeiler zum Repertoire aller Redner, die   an den Fall der Mauer oder die „Reichskristallnacht“  erinnern. Allerdings, die „Erinnerungsarbeit“, auch dies eine deutsche Spezialität, treibt gelegentlich seltsame Blüten. 

Nachdem die dänische Zeitung „Jyllands-Posten“ im September 2005 zwölf Mohammed-Karikaturen veröffentlicht hatte, worauf in der arabisch-islamischen Welt Millionen von Menschen zum Heiligen Krieg gegen den Westen aufriefen, sagte der grüne Politiker Fritz Kuhn: „Mich haben sie (die Karikaturen) an die antijüdischen Zeichnungen in der Hitler-Zeit vor 1939 erinnert.”

Kuhn, inzwischen Oberbürgermeister von Stuttgart, wurde 1955 geboren und ist im Allgäu aufgewachsen. Ihm zu unterstellen, er habe im Kindergarten oder in der Schule den „Stürmer“ bzw. den „Völkischen Beobachter“ gelesen, wäre leichtfertig. Wahrscheinlicher ist, dass er keine der Mohammed-Karikaturen je gesehen hat. Denn die waren so harmlos, dass sie nicht einmal die „Junge Welt“, das Organ der Hitler-Jugend, abgedruckt hätte.

Nun passieren in Frankreich gerade schreckliche Sachen. Rumänische Roma werden in ihre Heimat abgeschoben. Darunter auch ein 15jähriges Mädchen namens Leonarda. Und der Pariser Korrespondent der Berliner „tageszeitung“ hat ein Deja-vu: „Leonarda ist ein Symbol für eine unmenschliche Flüchtlingspolitik in Frankreich geworden. Die Umstände erinnern zu sehr an die deutsche Besatzung im Zweiten Weltkrieg,  als französische Beamte zusammen mit der deutschen Gestapo Schulkinder zur Deportation abholten.“

Rein faktisch könnte man dazu anmerken, dass es jüdische Kinder und deren Eltern waren, die kein Land hatten, in das sie sich retten konnten. Sie wurden in den Tod deportiert. Die Roma dagegen müssen nur nach Rumänien zurück, wo das soziale Netz nicht so dicht geknüpft ist wie in Frankreich. Nicht nett, aber doch nicht ganz dasselbe wie ein One-Way-Ticket nach Auschwitz.

Ja, die Erinnerung ist das Geheimnis der Erlösung. Man muss nur jemand finden, auf den man sie projizieren kann.

Erschienen in der Weltwoche vom 24.10.13

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Leserpost

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Joachim Nowak / 26.10.2013

Stimmt auffallend Herr Broder. Bloß leider sterben diese Menschen aus, die noch wissen, wie es denn wirklich war. Somit ist leider kein Widerstand zu erwarten, wenn solche unsäglichen Vergleiche gezogen werden. Es ist schon eine Frechheit sondergleichen, wenn man wirklich jegliche Meinungsfreiheit, oder Umsetzung von Vorschriften & Regeln &Vertr;ägen immer mit dem Genozid an den Juden vergleicht. Nicht nur, daß man dann entsprechend maßlos übertreibt, sondern durch das Vergessen der wahren Umstände wird dann zukünftig auch noch verharmlost. Fragen sie heute Schulabgänger, was sie über Holocaust wissen und sie werden erschrecken, wie wenig Wissen da stellenweise vorhanden ist. Wenn man jetzt eine Abschiebung von Flüchtlingen mit dem Holocaust vergleicht, dann werden solche Schüler nur eines im Kopf haben: “Völlig OK - so schlimm war das damals nicht” Den selben Gedanken werden die dann auch haben, wenn jedesmal bei berechtigter Islamkritik mit der selben “Nazi-Keule” zugeschlagen wird. Dann wird sich die nächste und vielleicht übernächste Abgangsgeneration mal fragen: “War das alles, was die den Nazis vorzuwerfen haben” ? Der Begriff “Nazi” und die Einstufung “Wie bei den Nazis” ist dermassen zum geflügelten Wort verkommen, daß es mittlerweile die Allgemeinkeule für alles, was einem nicht gefällt genutzt wird. Aber damit hat das absolut nichts zu tun, ausser “noch” abzuschrecken und einzuschüchtern. Irgendwann ist diese Wirkung vollkommen weg, weil man mit etwas vergleicht, was dann niemand mehr wirklich kennt und dann wird der unsinnige Vergleich eine Bewertung mit dem Begriff “Nazi” erhalten.

Hans Gruner / 25.10.2013

Erfüllt die Aussage des Pariser Korrespondent der Berliner tageszeitung nicht den Tatbestand der Verharmlosung der Nazi Verbrechen? Er sagt: „Leonarda ist ein Symbol für eine unmenschliche Flüchtlingspolitik in Frankreich geworden. Die Umstände erinnern zu sehr an die deutsche Besatzung im Zweiten Weltkrieg,  als französische Beamte zusammen mit der deutschen Gestapo Schulkinder zur Deportation abholten.“ Wie auch immer die juristische Seite sein mag, ich halte die Satze für unanständig gegenüber den französischen Beamten, die nach Recht und Gesetz ihren Job tun. es gibt kein Recht auf Einwanderung wenn im Heimatland nicht politische (oder religiöse) Verfolgung von Staats-wegen droht.

Jörg Paul Jonas / 25.10.2013

Alle Vermutungen und Erklärungen, warum der Oberbürgermeister Kuhn irgendwelche Probleme mit der Erinnerung und der deutschen Geschichte hat sind für mich irrelevant. Denn, der Oberbürgermeister mag vielleicht einfach Israel nicht so gern und findet Juden nicht besonders nett.

Christian Weyland / 25.10.2013

Für die richtige Aussage des Artikels ist es zwar nicht entscheidend, aber die Familie musste nicht nach Rumänien zurück, sondern in den / das Kosovo. Das aber nur als Randnotiz.

Peter Ott / 24.10.2013

Sie haben etwas vergessen Herr Broder. Zu den Karikaturen wurden noch ein paar Bilder dazu getan, die rein gar nichts damit zu tun hatten, so reisten dann 3 Imame durch die Welt und hetzten die Moslems auf, wodurch es über 100 Tote gab. Heute sagt der Initiator Ahmed Akkari, dass alle dänischen Moscheen von Extremisten betrieben werden.

Johannes Platz / 24.10.2013

Zwei Bemerkungen seien erlaubt: Henryk M. Broker hat in der Tat ebenso recht, dass den aus Frankreich Deportierten in Rumänien heute kein Genozid droht, wie er mit der Bemerkung, dort bekämen sie nur weniger Sozialleistungen, die Bedrohung und Verfolgung von Sinti und Roma dort unsachgemäß verharmlost, denn in Rumänien droht ihnen mehr noch als in westlichen europäischen Ländern antitsiganistische Ausgrenzung und Verfolgung. Zweitens wurden aus Frankreich wie aus dem besetzten Europa nicht nur jüdische Kinder und deren Eltern nach Auschwitz deportiert, sondern auch Kinder und deren Eltern, die Sinti und Roma waren. Erlaubte man sich das Gedankenexperiment, Frankreich würde Juden irgendwohin ausweisen, wo ihnen zwar nicht Auschwitz droht, sondern nur etwas mehr Antisemtismus. Würde der Autor dann nicht doch assoziativ die Verknüpfung zu den NS-Deportationen im besetzten Frankreich wählen? Und wenn man es historisch genau nimmt (und das meint dieser Begriff der historischen Erinnerung ja wohl), verbietet sich der Vergleich gegenwärtiger Ausgrenzungen mit nationalsozialistischen Praktiken auch deswegen nicht, weil es eine Vielzahl von Gesetzen, Verordnungen und von ausgrenzendem Verwaltungs- und Alltagshandeln im Nationalsozialismus unterhalb der Schwelle der physischen Vernichtung gab, die freilich dorthin führten. Auch und gerade, was die Sinti und Roma betrifft, die zeitweilig “privilegierte” Verfolgte darstellten, weil sie erst in der Spätphase der Existenz von Auschwitz kollektiv bei der Auflösung des sogenannten Zigeunerlagers ermordet wurden.

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