Hansjörg Müller / 20.09.2014 / 11:04 / 4 / Seite ausdrucken

Das unentbehrliche Königreich

Das Vereinigte Königreich, wie wir es die Welt seit mehr als drei Jahrhunderten kennt, bleibt bestehen. Das ist eine gute Nachricht. Gut für die Briten, wichtiger aber noch für Europa und den Westen: Dass ein unabhängiges Schottland nach einer dornigen Übergangszeit zu einem Erfolg hätte werden können, dass sich Engländer, Waliser und Nordiren nach Überwindung einer Schockstarre in einem wie auch immer bezeichneten Kleinbritannien komfortabel hätten einrichten können, daran habe ich keinen Zweifel. Doch uns würde etwas fehlen.

Grossbritannien ist nach den USA noch immer die grösste Militärmacht des Westens. Ein Auseinanderbrechen des Königreichs, verbunden mit einer ungewissen Zukunft der in Schottland stationierten britischen Atomstreitmacht, wäre in Zeiten russischer Rüpelspiele und des Vormarschs blutrünstiger religiöser Fanatiker im Nahen Osten ein fatales Signal gewesen.

Auch Europa braucht das Vereinigte Königreich. Selbst Martin Schulz, der Präsident des EU-Parlaments, der sich so gerne antibritisch gibt, brachte am Freitagmorgen seine Erleichterung über die Entscheidung der Schotten zum Ausdruck. Dahinter steckt wohl vor allem die Angst vor dem Separatismus, der auch in Katalonien, Südtirol oder Flandern sein Haupt erheben und den Kontinent destabilisieren könnte.

Ausserdem aber hat die EU den ungeliebten Störenfried Grossbritannien als Korrektiv nötig: Es sind vor allem die Briten mit ihrem Pragmatismus und ihrer wirtschaftsliberalen DNA, die Europa vor groben Narreteien bewahren können. Diese Dialektik dürfte in Brüssel nur wenigen bewusst sein, doch wenn überhaupt einer die EU vor den selbstzerstörerischen Plänen der Eurokraten retten kann, sind es die Euroskeptiker.

Was hinzu kommt: Angesichts der desaströsen wirtschaftlichen Verhältnisse in Frankreich und im Süden des Kontinents steht allein ein starkes Grossbritannien zwischen uns und einer deutschen Dominanz in Europa. Eine solche kann niemand wollen, am allerwenigsten die Deutschen selbst, die weder bereit noch willens sind, die Führungsrolle einzunehmen.

Bleibt die Frage nach den innenpolitischen Konsequenzen des Referendums. Es mag paradox erscheinen, doch womöglich ist Schottlands Nationalistenführer Alex Salmond der heimliche Sieger: Aufgeschreckt von einer einzigen Umfrage, die das Ja-Lager knapp zwei Wochen vor der Abstimmung mit wenigen Prozentpunkten in Front sah, haben die Vorsitzenden der drei grossen nationalen Parteien versprochen, dem schottischen Parlament vor allem in der Steuerpolitik zusätzliche Kompetenzen zu übertragen.

Ob dies wirklich nötig gewesen wäre, um eine Mehrheit der Schotten für die Union zu gewinnen, erscheint angesichts des relativ deutlichen Ergebnisses fraglich. Ihre mit grossem Wahlkampfgetöse gemachten Zusagen nicht einzuhalten, werden sich der konservative Premierminister David Cameron, Labour-Chef Ed Miliband und der liberaldemokratische Vizepremier Nick Clegg indes kaum leisten können.

Ob Salmond den Londoner Parteichefs bewusst eine Falle gestellt hat, weiss nur er selbst, doch sicher ist, dass seine Gegner in eine solche gelaufen sind. Vor allem Cameron dürfte dies noch einige Probleme bereiten, denn seine konservative Partei ist es, deren englische Wähler Schottlands Sonderstellung bereits heute eher ungern sehen: Warum, so fragen sie nicht zu Unrecht, sollen schottische Parlamentarier im Londoner Unterhaus über Gesetze mitentscheiden, die lediglich England, Wales und Nordirland betreffen?

Um solchem Unmut wirksam entgegenzutreten, führt wohl nichts daran vorbei, Grossbritannien umzubauen, hin zu einem föderalistisch organisierten Staat. Dies wird kompliziert werden, es dürfte weitere Volksabstimmungen in allen Landesteilen erfordern, ja womöglich könnte es zu einer politischen Aufgabe für Generationen werden. Soll das Vereinigte Königreich allerdings auf Dauer bestehen bleiben und nicht nur für die kommenden zwei bis drei Jahrzehnte, muss sich die politische Klasse in Westminster dieser Aufgabe stellen.

Erschienen in der Basler Zeitung: http://bazonline.ch/ausland/europa/Das-unentbehrliche-Koenigreich/story/21224739

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Leserpost

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Ralf Tetzner / 22.09.2014

Trotz vieler anderer Reibungspunkte in diesem Artikel: Dampfen wir das Ganze doch auf die Frage ein, ob die Einschätzung des Autors bezüglich des Referendums nicht aus der persönlichen Einstellung zum ‘Staat’ resultiert. Wer den Staat für per se toll hält, für den ist ein größerer Staat eben ein größeres ‘toll’. Und umgekehrt ist Sezession dann Teufelszeug, weil dadurch ja etwas ‘Tolles’ klein gemacht wird. Die passende Einstufung als “Separatisten”, die “ihr Haupt erheben” (kennt man doch sonst nur im Zusammenhang mit ‘Revanchismus’, Nazis u.ä.) und “den Kontinent destabilisieren” könnten, zeigt sehr gut die moralisierende Komponente der Betrachtung auf. In diesem Zusammenhang wäre ein YES besser für die politische Hygiene auf diesem Kontinent gewesen. Man kann ja oft vom SELBSTbestimmungsrecht der Völker hören, und mehr als in der Selbständigkeit steckt die Selbstbestimmung nirgendwo! P.S. Wenn Martin Schulz erleichtert war, dann ist das für mich ein sicheres Zeichen, daß das Gegenteil richtig gewesen wäre…

Ingmar Essling / 20.09.2014

So etwas nennt sich Wandel und beinhaltet einen evolutionären Prozess, um sich an die Gegebenheiten einer Zeit anzupassen. Manchmal läufts durchgehend nebenbei, und manchmal gibts eben einen Initialzündung und dann gibts insitutionelle Anpassungen. Die Art und Weise wie das Referendum (von allen direkt beteiligten Parteien) gehalten wurde fand ich unglaublich bewundernswert. Da wollte ein Teil sich abspalten und die Leute, die andere Vorstellungen hatten haben der Gegenseite ihren Respekt gezollt, ihre Meinung kundgetan und klargemacht, dass sie das Ergebnis akzeptieren würden., egal wie es ausgeht. Unglaublich! Kein Geschrei, kein Hass, kein Nachtreten, kein nichts! Einfach nur ein politischer Entscheidungsprozess, geführt zwischen Erwachsenen, friedlich, mit erhobenem Haupt und offenem Visier. Es ging nur eben um mehr als gewöhnlich. Mehr nicht. Es gibt ja nicht wenige EU-phile, die sich UK aus der EU rauswünschen, da sie ja so “sturköpfig” sind und “blöde” und gegen “EU=Frieden” sind und nur ihren sinistren Finanzkapitalismus schützen wollen. Der Prozess dieses Referendums zeigt aber sehr eindrucksvoll, waurm wir UK in der EU unbedingt brauchen und warum es sehr sehr schmerzlich wäre, die Insel(n) zu verlieren: In puncto Demokratie sind sie uns ganz einfach um Jahrhunderte voraus! Ein Hoch auf das Königreich!

Caroline Neufert / 20.09.2014

Keine “Überraschung” - wieder mal “Journaille” und Demoskopie verschätzt.

Markus Weber / 20.09.2014

Sehr geehrter Herr Müller, nur ganz kurz: Dass Europa derzeit militärisch bedroht sei oder sich, wenn’s noch doller kommt, irgendwie in die Konfessionsquerelen in Nordafrika und Vorderasien einmischen soll, meinen Sie das ganz im Ernst? Und welche positive Rolle könnte dabei militärische Macht spielen? Jazeniuk und Co. könnte man im kommenden Winter einfach erfrieren lassen (falls ihm die Nudelman’sche keine weiteren five Billions rüberwachsen lässt) und die Probleme mit der Ukraine lösen sich in Wohlgefallen auf. In der Sache mit dem Korrektiv zur Brüsseler Arroganz stimme ich Ihnen unumwunden zu. Wenn andere Länder in Europa keine deutsche Dominanz wollen, dann müssten eben vielleicht die Griechen einfach mal dazu übergehen, Steuern gesetzeskonform von allen ihren Bürgern einzutreiben. Die Swimmingpool-Besitzer zum Beispiel hätten scheint’s damit angefangen, ihre Bäder mit Tarnnetzen abzudecken, damit die Steuerfahndungsdrohnen sie nicht entdecken können. Aber wissen Sie was? Jetzt fängt mir das mit der militärischen Aufrüstung auf einmal an einzulechten. Die Steuerhinterzieher und säumigen Schuldner dieser Welt verstehen letztlich nur eine Sprache: “Ballert sie ab!” Coole Logik, nicht?

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