Verglichen mit anderen europäischen Ländern und gemessen an seiner politischen und wirtschaftlichen Bedeutung ist Deutschland in weiten Teilen der britischen Presse eher untervertreten. Das westliche Nachbarland interessiert mehr: Frankreich ist glamouröser, hatte Nicolas Sarkozy und hat nun Emmanuel Macron, und dessen Vorgänger, François Hollande, war immerhin noch auf drollige Weise komisch. Angela Merkel bietet dagegen wenig, was ein breiteres Publikum interessieren könnte; Akteure wie Christian Lindner oder Cem Özdemir sind den meisten Briten nicht einmal dem Namen nach bekannt.
Ein gewisses Interesse ruft seit einiger Zeit die rechte Alternative für Deutschland (AfD) hervor, was auch mit der nach wie vor bestehenden Fixierung vieler Briten auf den Zweiten Weltkrieg zu tun hat. «Grossvater arbeitete für Hitler», hiess es vor einigen Monaten in einer Bildlegende der Sunday Times über die AfD-Politikerin Beatrix von Storch: Britische Journalisten verstehen sich darauf, die aus ihrer Sicht wesentlichen Informationen auf den Punkt zu bringen. Wirkliche Sorgen über einen Rechtsruck in Deutschland spricht daraus allerdings kaum, eher wird die neue Partei als Ansammlung schräger Vögel und damit als politisches Kuriosum wahrgenommen.
Dieser Tage erhält Deutschland endlich die Aufmerksamkeit, die ihm als wichtigstem EU-Land zustehen mag; selbst die Daily Mail zeigt nun Angela Merkel auf der Front. Dass deren Union daran gescheitert ist, eine Koalition mit der FDP und den Grünen zu bilden, wird weitherum registriert, wobei vor allem bei konservativen Euroskeptikern eine gewisse Schadenfreude mitschwingt: Merkel wird hier nicht zuletzt auch als Repräsentantin der EU gesehen, und auf EU-Seite, so wird wohl nicht zu Unrecht gemutmasst, sei die Schadenfreude bei Einigen gross gewesen, nachdem die britischen Tories unter Premierministerin Theresa May im Juni überraschend ihre absolute Mehrheit verloren hatten. Nun freuen sich manche in London über Merkels Malheur.
Dabei ist längst nicht klar, was die Berliner Ereignisse für Grossbritannien bedeuten. Natürlich sieht man diese vor allem unter dem Aspekt des Brexit. Eben erst soll sich das britische Kabinett laut Medienberichten darauf geeinigt haben, der EU neben den 20 Milliarden Pfund, die May Ende September in Florenz zugesagt hatte, noch einmal soviel zu bezahlen, also insgesamt 40 Milliarden Pfund. Das Kabinett soll dem zugestimmt haben, ausdrücklich auch Aussenminister Boris Johnson und Umweltminister Michael Gove, die zu den Anführern der Brexit-Kampagne gehörten und die mehr oder weniger offen Druck auf May ausüben, in den Verhandlungen mit der EU einen härteren, selbstbewussteren Kurs einzuschlagen.
Kann und soll man Merkels Schwäche nutzen?
London, so scheint es, ist nun entschlossen, sich den baldigen Beginn von Gesprächen über einen Handelsvertrag zu erkaufen. Sollte die EU allerdings bis zu ihrem Gipfel Mitte Dezember kein Entgegenkommen zeigen, könnte es mit der Einigkeit im Kabinett bald schon wieder vorüber sein: «Wir können nicht Geld für nichts bezahlen», zitiert die Financial Times einen «Verbündeten Boris Johnsons».
Ausserhalb des Kabinetts, in der konservativen Parlamentsfraktion, wird bereits Kritik an Mays plötzlicher Spendierfreudigkeit laut. Überzeugte Brexit-Befürworter meinen, man könne und müsse Merkels Schwäche nutzen. Der Abgeordnete Jacob Rees-Mogg etwa sagte der Times, es sei "närrisch", das Angebot ausgerechnet in einer Zeit aufzustocken, in der die deutsche Kanzlerin ihre Wähler überzeugen müsse, dass nicht sie die Rechnung begleichen müssten, sollte Grossbritannien die EU ohne eine vertragliche Regelung verlassen. Dass man Letzteres in London weiterhin nicht ausschliesst, bekräftigte Brexit-Minister David Davis gestern Nachmittag ein weiteres Mal: "Ein Deal ist nicht nur das mit Abstand wahrscheinlichste Ergebnis, sondern auch das Beste für beide Seiten", sagte er, aber auch: "Für eine verantwortungsvolle Regierung ist es wichtig, sich auf alle Eventualitäten vorzubereiten."
Bleibt die Frage, welche politische Konstellation in Berlin für Grossbritannien am günstigsten wäre. Nicht wenige Brexit-Befürworter, allen voran Boris Johnson, äussern immer wieder die Hoffnung, Deutschland werde früher oder später aus der EU-Phalanx ausscheren. Letzten Endes, so die Annahme, werde die deutsche Regierung die Interessen der eigenen Exportindustrie höher gewichten als ideologische Überlegungen. Bisher hat Merkel freilich nicht erkennen lassen, dass sie dazu gewillt ist. Und dass London mit einem anderen Kanzler besser fahren würde, ist eher unwahrscheinlich.
Entscheidend könnte sein, welche Koalition in Berlin künftig regiert: Die wirtschaftsliberale FDP dürfte am ehesten Verständnis für britische Befindlichkeiten zeigen, mutmasst die Times; am feindseligsten wiederum könnten die Grünen auftreten, in deren Reihen der Glaube an das europäische Projekt stärker ist als in jeder anderen Partei.
So intensiv wie heute hat Deutschland die Briten lange nicht beschäftigt. Ob das Interesse umgekehrt ähnlich gross ist? Dieser Tage wohl kaum.
Dieser Beitrag erschien zuerst in der Basler Zeitung hier.