Klopfzeichen aus der Welt der Sozialwissenschaften (48)
Seltsamerweise neigen die Menschen dazu zu glauben, bei einer Streitfrage habe derjenige Recht, der die Mehrheit auf seiner Seite hat. Auf diesen Umstand hat schon Schopenhauer in seinem wunderbaren, posthum erschienenen Büchlein über die „Kunst, Recht zu behalten“ hingewiesen, in dem er all die gemeinen kleinen Kniffe beschreibt, mit denen Demagogen versuchen, einem das Wort im Mund herumzudrehen. Die Aussage „Da stehen Sie mit Ihrer Meinung aber ziemlich allein“ gilt als starkes Argument und setzt den Gesprächpartner unter Rechtfertigungsdruck, obwohl das logisch betrachtet Unsinn ist, denn es ist ja kein inhaltliches Argument. Dass es dennoch wirkt, hat psychologische Gründe: Die meisten Menschen versuchen, Isolation zu vermeiden. Nur wenige können so selbstbewusst und mit kühlem Kopf reagieren wie Albert Einstein, der die Lächerlichkeit eines Buches mit dem Titel „Hundert Autoren gegen Einstein“ mit der trockenen Bemerkung entlarvte: „Hätte ich Unrecht, würde ein einziger Autor genügen, um mich zu widerlegen.“
Da es also für ein Anliegen sehr förderlich ist, wenn es gelingt, den Eindruck zu erwecken, man habe die Bevölkerung auf seiner Seite, entbrennt bei politischen Auseinandersetzungen regelmäßig ein Wettstreit darum, wer am überzeugendsten die Mehrheit für sich in Anspruch nehmen kann. Meist gewinnt diesen Wettstreit derjenige, der die Behauptung am lautesten und dreistesten herausschreit und sie am häufigsten wiederholt.
An diesem Punkt wird eine wichtige gesellschaftliche Bedeutung der Umfrageforschung sichtbar: Sie kann diese mit so großem Selbstbewusstsein aufgestellten Behauptungen prüfen, gegebenenfalls widerlegen und auf diese Weise aus Ideologiefragen Sachfragen machen. So manche mit dem Brustton der Empörung vorgetragene Behauptung, man vertrete das, was „das Volk“ wolle, entpuppt sich dabei als sachlich nicht gerechtfertigte Anmaßung.
Die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland ist voll von Beispielen für dieses Muster, etwa die Auseinandersetzung um die NATO-Nachrüstung in den frühen 80er Jahren. Mit großer Selbstverständlichkeit behaupteten damals die Nachrüstungsgegner, sie hätten die Bevölkerung auf ihrer Seite. Die Medien verbreiteten dies, und schließlich glaubten es auch die meisten Menschen außerhalb der sogenannten „Friedensbewegung“. Doch die Repräsentativumfragen zeigten, dass es nicht wahr war.
Guten Anschauungsunterricht bieten derzeit auch viele auffallend aggressiv im Internet auftretende AfD-Anhänger, die ihre Thesen stets mit der Behauptung unterfüttern, sie würden das aussprechen, was das ganze Volk dächte und sich nur nicht zu sagen traute, und die, wie sich mit der Demoskopie leicht zeigen lässt, tatsächlich doch nur die Position einer vergleichsweise kleinen Minderheit vertreten.
Weiterhin kann man an den Streit um den Umbau des Stuttgarter Hauptbahnhofs denken, der darüber hinaus zeigt, welche Ausmaße die Selbsthypnose von Überzeugungstätern annehmen kann: Vehement forderten die Gegner des Umbaus eine Volksabstimmung, weil diese beweisen würde, dass die Bürger gegen das Projekt seien. Sie bekamen ihre Volksabstimmung - und mussten verblüfft feststellen, dass die Bürger das Projekt tatsächlich befürworteten. Nicht die, die am lautesten brüllten, standen für die Mehrheit, sondern die, die von ihnen niedergebrüllt wurden. In diesem Fall schaffte die Volksabstimmung Klarheit, doch diese Möglichkeit steht nur selten zur Verfügung.
Ein ganz aktuelles Beispiel für die Methode, die Mehrheit durch pure Behauptung in Anspruch zu nehmen, konnte man kürzlich im Bundestag erleben, als Renate Künast in der Debatte um die Frauenquote an den Justizminister gerichtet mit vor Empörung zitternder Stimme ausrief: „Die Frauen haben keine Geduld mehr, sie wollen endlich etwas sehen!“
Wie kommt sie zu dieser Behauptung? Welche Frauen meint sie? Die Mehrheit der Frauen in Deutschland kann sie nicht gemeint haben. Seit Jahrzehnten begleitet das Institut für Demoskopie Allensbach mit seinen Umfragen die Debatte um Frauenquoten. Als zum ersten Mal im Jahr 1994 eine Frage zu dem Thema gestellt wurde - noch mit einer recht allgemein gehaltenen Formulierung -, war die Bevölkerung noch gespalten. Die Männer waren mit einer knappen absoluten Mehrheit dagegen, die Frauen mit einer knappen relativen Mehrheit dafür. Insgesamt war die Zahl der Befürworter und Gegner gleich groß. Im Jahr 2010 hielt dagegen nur ein Viertel der Deutschen eine - nun konkret abgefragte - gesetzliche Frauenquote von 30 Prozent in Führungspositionen für sinnvoll, auch bei den Frauen stimmten lediglich 32 Prozent dafür, eine klare Mehrheit von 55 Prozent war dagegen. Seitdem ist die Frage noch zweimal gestellt worden, beide Male mit praktisch dem gleichen Ergebnis. Mag ja sein, dass es Frauen gibt, die „keine Geduld mehr“ haben. Vermutlich Frau Künast selbst und ihre politischen Freundinnen. Aber als Pauschalaussage über die weibliche Bevölkerung in Deutschland insgesamt ist der Satz eine durch Fakten nicht zu rechtfertigende Falschbehauptung.
Dennoch habe ich bisher nirgendwo gesehen, dass jemand in der Öffentlichkeit den Behauptungen, wonach die Frauen mehrheitlich Frauenquoten befürworteten, ernsthaft widersprochen hätte. Man erkennt: Frechheit siegt. Aber nur dann, wenn man sich von solchen Anmaßungen ins Bockshorn jagen lässt. Wer sich aber nicht ins Bockshorn jagen lassen will, muss die Dreistigkeit als solche erkennen. Und dazu braucht er die Umfrageforschung