Mit der Zivilcourage, schrieb kürzlich Jennifer Nathalie Pyka in einem Beitrag für die „Achse des Guten“, verhalte es sich ein wenig wie mit Gott: Sie sei praktisch nie da, wenn man sie einmal brauche.
Ich glaube, sie tut Gott damit Unrecht, aber ich werde mich hüten, mich zu diesem Thema zu äußern. Die auffällige Seltenheit von Zivilcourage ist dagegen auch aus sozialwissenschaftlicher Sicht interessant. Was ist Zivilcourage eigentlich?
Sicherlich gehört das Wort „Zivilcourage“ zur Kategorie der gestohlenen Begriffe. Sie wird gerne von Menschen reklamiert, die Forderungen erheben, die sich im Einklang mit der öffentlichen Meinung befinden. Als Ausweis von Zivilcourage gilt es beispielsweise, an Massendemonstrationen für soziale Gerechtigkeit oder gegen den Rechtsextremismus teilzunehmen. Doch das ist ein Missverständnis. Die Teilnahme an solchen Veranstaltungen mag löblich sein und dem Gemeinwesen dienen, doch ein Zeichen für Zivilcourage ist sie nicht, denn es erfordert keinen Mut, sich so zu verhalten. Es ist leicht, eine Meinung zu vertreten, wenn man sich von tausenden Gleichgesinnten umgeben und der Unterstützung der Öffentlichkeit sicher weiß.
Wenn der Begriff der Zivilcourage überhaupt einen Sinn machen soll, dann kann er nur bedeuten, dass sich jemand auch dann öffentlich für das Gemeinwesen einsetzt, wenn er damit rechnen muss, dass er mit seiner Meinung allein dasteht, dass er also seine Furcht vor Isolation überwindet. Das erfordert gewaltigen Mut. Nicht ein Mensch unter zehntausend, schrieb einmal der englische Philosoph John Locke, sei so unempfindlich, als dass er die fortgesetzte Zurückweisung seines Umfeldes ertragen könne.
Elisabeth Noelle-Neumann hat in ihrem Buch „Die Schweigespirale“ die gesellschaftliche Funktion der Isolationsfurcht beschrieben. In freien Gesellschaften müssen die Regeln des Zusammenlebens, Werte, Normen, immer wieder neu ausgehandelt werden, damit das Gemeinwesen handlungsfähig bleibt. Das geschieht jederzeit und unbewusst: Die Menschen registrieren aufmerksam, mit welchen Meinungen und Verhaltensweisen sie sich im Rahmen des Akzeptierten bewegen und mit welchen nicht. Wer sich außerhalb der Norm wiederfindet, wird in aller Regel versuchen, sich anzupassen, um Isolation zu vermeiden. Es kostet große Kraft, diesem Drang zu widerstehen.
Will man also verstehen, welche Kräfte in einer Demokratie vorherrschen, lohnt es sich, sich mit ihren ungeschriebenen Gesetzen auseinanderzusetzen. Welche Meinungen und Verhaltensweisen werden geduldet und welche nicht? Wo gibt es Intoleranzen und Tabus? Aufschluss bietet hier eine Allensbacher Umfrage vom Frühjahr 2013, in die ein kleines Experiment eingebaut wurde: Die eine Hälfte der Befragten bekam Karten mit „moralisch unkorrekten“ Aussagen überreicht wie zum Beispiel „Die Ausländer nehmen den Deutschen die Arbeitsplätze weg“, „Man sollte die Mauer wieder aufbauen“ oder „Frauen gehören an den Herd.“
Die Befragten wurden gebeten, diese Aussagen in drei Kategorien zu sortieren, nämlich einmal Aussagen, die sie richtig fanden, zweitens Aussagen, die sie zwar nicht richtig fanden, von denen sie aber meinten, es müsse erlaubt sein, so etwas zu sagen, und schließlich drittens Aussagen, von denen sie fanden, es müsse verboten sein, so etwas zu sagen. Die andere Hälfte der Befragten bekam dieselben Karten vorgelegt. Sie wurden jedoch gefragt, mit welchen dieser Aussagen man in der Öffentlichkeit anecken, sich „leicht den Mund verbrennen“ könne.
Es zeigte sich, dass es in der Bevölkerung ein bemerkenswert großes Maß an Intoleranz gegenüber Meinungen gab, die den eigenen Vorstellungen widersprachen. Bei zehn der insgesamt 21 Aussagen waren erhebliche Teile von mindestens einem Drittel der Bevölkerung der Meinung, man müsse sie verbieten. Der Gedanke, dass das im Grundgesetz verankerte Prinzip der Meinungsfreiheit auch für abseitige Meinungen, für Tabubrüche und moralisch vielleicht schwer erträgliche Positionen gilt, liegt vielen Menschen offensichtlich fern.
Aufschlussreich ist nun vor allem der Vergleich der tatsächlichen mit den „gefühlten“ Tabuzonen. Es liegt zunächst nahe anzunehmen, dass die Meinungsäußerungen, bei denen besonders viele Menschen sagen, sie sollten verboten werden, auch die sind, bei denen die meisten sagen, man könne sich mit ihnen den Mund verbrennen. Doch das war bei der Umfrage nur zum Teil der Fall. Zwar gab es Äußerungen, die viele verboten sehen wollten, und die viele Menschen auch als heikel in der Öffentlichkeit empfanden, doch es gab auch einige Punkte, bei denen das Gefühl, dort könne man sich den Mund verbrennen, wesentlich ausgeprägter war, als die tatsächliche gesellschaftliche Intoleranz. Dies war besonders bei Aussagen der Fall, die das Thema Einwanderung oder auch die Geschlechterrollen betrafen. Da in diesen Fällen der Einruck, man könne sich mit einer Aussage zu diesen Themen den Mund verbrennen, nicht hauptsächlich auf der Beobachtung des persönlichen Umfelds beruhen konnte, bleibt als Erklärung letztlich nur die Berichterstattung der Massenmedien übrig, die neben persönlichen Kontakten die zweite bedeutende Quelle der Information über das Meinungsklima ist.
Nun gibt es ohne Zweifel gerechtfertigte, aber sicherlich auch ungerechtfertigte Tabus. Wer sich letzteren trotz des von Gesellschaft und Medien ausgeübten Isolationsdrucks entgegenstellt, etwa indem er sich öffentlich für das Recht auf freie Meinungsäußerung auch derer einsetzt, die vom Konsens abweichende Haltungen vertreten, der beweist damit echte Zivilcourage.