„Jeden Morgen, wenn ich in den Spiegel schaue, weiß ich gar nicht, wen ich eigentlich vor mir sehe”, sagt Wadie Abunassar. Der Politologe aus Haifa ist nicht geisteskrank. Sein Identitätsproblem ist typisch für die Lage der rund 110.000 Christen in Israel, die im Konflikt zwischen Israelis, Palästinensern, Muslimen und Juden zwischen allen Fronten stehen. Den muslimischen Palästinensern und den Juden sind sie suspekt, weil sie Christen sind. In europäischen Kirchen haben sie kaum Einfluss, weil sie Araber sind. So wissen die Christen nicht, zu wem sie eigentlich gehören. In den anhaltenden Konflikten in Nahost werden die Kirchen im Heiligen Land zusehends zerrieben.
Trotzdem sind sie unfähig, gemeinsam zu agieren. Persönliche Rivalitäten und theologische Debatten, in Israel gibt es mehr als 20 verschiedene christliche Denominationen, haben die Christen in kleine, irrelevante Gruppen zersplittert. „Die Vertreter der arabischen Parteien haben sich in den vergangenen zwei Jahren nur zwei Mal getroffen. Sie können sich auf nichts einigen”, sagt Abunassar.
Als der Friedensprozess vor einem Jahrzehnt seinen Höhepunkt erreichte, sahen sie in ihrem Minderheitsstatus einen Vorteil. Man wollte als Brücke zwischen allen Beteiligten des Konflikts und der westlichen Welt fungieren. Abunassar, der unter anderem an der Universität in Tel Aviv studierte und dort heute lehrt, verkörpert in seiner Person die Fähigkeit, Brücken zu schlagen:„Bei den Juden gelte ich als Experte für Palästinenser”, sagt er in akzentfreiem Hebräisch. Unter Palästinensern ist er als Kenner der Israelis bekannt.
Doch wenn es im Nahen Osten zu Spannungen kommt, sind die Christen die ersten, die leiden. Als vor zwei Jahren der zweite Libanonkrieg zwischen Israel und der schiitischen Hisbollahmiliz tobte, erfuhr Abunassar dies am eigenen Leib:„In Haifa wurden Mitglieder meiner Gemeinde von Raketen der Hisbollah getötet. Im Libanon fielen israelische Soldaten, von denen einige meine Studenten waren, während israelische Kampfflugzeuge Bomben auf Dörfer warfen, in denen Verwandte meiner Mutter leben.”
In der einst von Christen dominierten Stadt Nazareth, die größte arabische Stadt Israels, ist das nahende Weihnachtsfest kaum zu spüren. Nur wenige Geschäfte in unmittelbarer Nähe zur Verkündigungsbasilika haben sich mit Bäumchen und Weihnachtsmännern geschmückt. Die Basilika ist die wichtigste Pilgerstätte Nazareths. Sie erhebt sich über der Grotte, in der der christlichen Überlieferung nach Erzengel Gabriel Maria die Geburt des Erlösers ankündete.
Gerade den zentralen Platz neben der Kirche hat sich die Muslimbruderschaft ausgewählt, um zwei große Trotzbanner auf Englisch und Arabisch aufzuhängen. Sie sollen deutlich machen, wer jetzt Herr im Hause ist, und zitieren die Ichlas, die 112. Sure des Koran, die die Einheit Gottes als Gegensatz zum Christentum erklärt:„Allah ist der einzige, ewige, absolute Gott. Er hat nicht gezeugt, und niemand hat ihn gezeugt, und niemand kommt ihm gleich!”. Tagtäglich müssen die Christen auf ihrem Weg zur Basilika unter der Hetzschrift hindurch:„Am besten man ignoriert sie, sonst verschafft man den Extremisten Genugtuung”, sagt Abunassar. Doch Christen in der Stadt berichten hinter vorgehaltener Hand über die Spannungen, die die Beziehungen mit der muslimischen Mehrheit charakterisieren.
Der Umstand, dass Christen im Nahen Osten eine Minderheit sind, ist nicht neu. Spätestens seitdem die Araber im Jahr 638 Palästina eroberten, werden die Geschicke der Kirchen hier von anderen bestimmt. Doch Fuad Farah, ein 80-jähriger griechisch-orthodoxer Christ aus Nazareth und Buchautor, sieht zu Weihnachten schwarz:„Unsere Lage war noch nie so prekär wie heute. In wenigen Jahrzehnten wird es hier keine Christen mehr geben.” Die imposanten Gebäude einer 2000 Jahre alten Tradition würden zu leeren Fassaden, Kulisse für die rund 2 Millionen Pilger, die dieses Jahr ins Land strömten. Ein aktives Gemeindeleben gehöre der Vergangenheit an, so Farah.
Neben dem politischen Druck ist die schrumpfende christliche Minderheit in Israel zunehmend wirtschaftlichem Druck ausgesetzt. Einst war sie die urbanste Schicht mit dem höchsten Bildungsstand. Christen bildeten die geistliche und politische Elite. Doch mit dem hohen Bildungsstand sank die Geburtenrate, ihr Anteil an der Bevölkerung nimmt kontinuierlich ab. Waren Christen vor 60 Jahren noch 10% der Bevölkerung, machen sie heute noch knapp 2% aus. In der israelischen Demokratie fallen sie deswegen kaum noch ins Gewicht:„Vom Staat erhalten wir nur die Reste”, sagt Abunassar. Hinzu kommt, dass die Muslime immer gebildeter werden. „Sie konkurrieren um die Jobs, die früher nur Christen machten. Und wir können nirgends ausweichen”, sagt Farah.
So ist es kaum ein Wunder, dass immer mehr Christen sich für die Emigration entscheiden. Dieser Trend ist nicht neu, schon vor 120 Jahren begann die Auswanderung angesichts von Hunger, Not und Unterdrückung durch die damals muslimischen Machthaber des osmanischen Reichs. Ziele sind die etablierten palästinensischen Gemeinden in Amerika und Australien. Doch inzwischen sind nur noch so wenige hier im Land, „dass wir die Auswanderung jeder Familie spüren”, sagt Abunassar.
Rettung könnte überraschenderweise vom Judenstaat kommen. Der brachte im Rahmen einer großen Einwanderungswelle aus der Sowjetunion hunderttausende Menschen ins Land, die zwar eine lose Verbindung zum Judentum nachweisen können, trotzdem aber mit christlichen Traditionen verbunden sind. „Nicht selten kommen meine russischen, vermeintlich jüdischen Nachbarn in Haifa zu mir, damit ich ihnen heimlich bei uns eine Taufe organisiere”, lacht Abunassar. So weigert er sich, pessimistisch zu sein:„Wenn wir uns auf unseren Glauben besinnen, werden wir hier überleben. Daran glaube ich ganz fest.”