Zwei Jahre lang hatte Karnit Goldwasser eine eiserne Miene bewahrt. Nach der Entführung ihres Gatten Ehud durch die libanesische Hisbollahmiliz hatte sie sich geschworen, unermüdlich zu kämpfen, bis ihr „Udi” wieder heimkehrte. Gestern fruchtete ihr Kampf, doch als die Militärs ihre Wohnung betraten und ihr mitteilten, dass ihr Mann zwei Tage vor seinem 33. Geburtstag in einem schwarzen Holzsarg heimkam, brach die Witwe Karnit weinend zusammen.
Bis zur letzten Sekunde hatte die Hisbollah mit den Gefühlen der Familien der zwei entführten israelischen Soldaten gespielt und sich über ihr Schicksal ausgeschwiegen. Sie wollte Raum für Hoffnung lassen um so die Regierung zum Gefangenenaustausch zu drängen. Gestern war es so weit: Zwei israelische Leichen wurden gegen fünf lebendige Libanesen und 199 arabische Leichen, zumeist Palästinenser, die bei Angriffen auf Israel ums Leben gekommen waren, eingetauscht. Um 9:40 Morgens, als zwei Holzsärge auf dem Fernsehkanal der schiitischen Hisbollahmiliz erschienen, herrschte in Israel Klarheit. Vor den Häusern der Familien sammelten sich Menschen, weinten und zündeten Gedächtniskerzen an. Ein Sprecher der Familien dankte besonders dem von den Vereinten Nationen beauftragten deutschen Vermittler Gerhard Conrad, der den Austausch mit der libanesischen Hisbollah-Miliz ausgehandelt hatte.
Jenseits der Grenze herrschte hingegen eine von Premierminister Fuad Seniora öffentlich verordnete Festtagsstimmung. Ein Plakat der Hisbollah fasste die Atmosphäre treffend zusammen:„In Israel fließen Trauertränen, bei uns Freudentränen”, stand darauf schadenfroh. Hisbollahführer Hassan Nasrallah ließ seinen „göttlichen Sieg” über Israel feiern. Während israelische Sender in Sondersendungen Trauer bekundeten, tönte auf der Fernsehstation der Hisbollah „Al Manar” fröhliche Marschmusik. Selbst die Erzfeinde Nasrallahs, darunter Drusenführer Walid Jumblatt, konnten sich den Feiern nicht entziehen und verkündeten ihre Unterstützung für den Gefangenenaustausch.
Neben Nasrallah erhielt Samir Kuntar, ein libanesischer Druse der seit 29 Jahren in israelischer Haft saß, die meiste Aufmerksamkeit. In Israel gilt Kuntar als der „am meisten verhasste Häftling”. Im Jahr 1979 hatte der damals 16-jährige die Stadt Nahariyah infiltriert, einen Polizisten erschossen, und war später in eine Wohnung eingedrungen. Dort entführte er Dan Haran und dessen vierjährige Tochter Einat. Kuntar erschoss Dan vor Einats Augen und schlug dann ihren Schädel mit einem Gewehrkolben ein.
Kuntar hat niemals Reue für seine Tat bekundet, und soll laut Berichten in der arabischen Presse vor kurzem in einem Brief an Nasrallah erklärt haben, am Weg des Dschihad festhalten zu wollen. Arabische Zeitungen beschreiben Kuntar als „authentisches Vorbild” und „leuchtendes Beispiel”. Die Zeitung der Hisbollah verlieh dem „Helden des Freiheitskampfes” gar 30 verschiedene Medaillen und ignorierte geflissentlich den Mord an der vierjährigen Einat. Sie lobte stattdessen die „Prinzipientreue unseres Helden”. Die Straßen von Kuntars Heimatdorf Abbey waren mit Bannern geschmückt, die ihn als „Gewissen Libanons, der Palästinenser und der gesamten arabischen Welt” bezeichneten. „Nasrallah garantiert Freiheit, Olmert garantiert Erniedrigung”, hieß es auf der Bühne neben dem Grenzübergang, auf der Kuntar, bereits in Uniform der Hisbollahkämpfer gekleidet, feierlich begrüßt wurde.
Die Leichen wurden in einem Lastwagenkonvoi von der Grenze nach Beirut gefahren, Kuntar und die vier lebenden Hisbollahkämpfer erhielten eine Sonderbehandlung. Sie wurde in Helikoptern des internationalen roten Kreuzes und der UNIFIL Truppe zum Beiruter Flughafen geflogen. Nasrallah suchte mit dem Gefangenenaustausch sein Ansehen im Libanon zu heben. Nachdem er ungefragt den zweiten Libanonkrieg verursacht und im Mai Teile Beiruts gewaltsam in seine Gewalt gebracht hatte, will er nun als Vorkämpfer aller Libanesen gelten. Vor diesem Hintergrund ereignen sich die Anstrengungen des Schiitenführers, den Drusen Kuntar freizupressen, und die symbolischen libanesischen Flaggen, die bei den Siegesfeiern neben den gelben Hisbollahfahnen wehten. Deswegen schien er auch darauf bestanden zu haben, dass Libanons Premier und Präsident den entlassenen Häftlingen der Hisbollah am Flughafen in Beirut auf rotem Teppich einen Staatsempfang bereiten.
Für den Abend kündigte die Hisbollah eine große Siegesfeier in Südbeirut an, auf der Nasrallah eine Ansprache halten soll.