Sechs Wochen nach Beginn der ukrainischen Offensive zeichnet sich eine Änderung der russischen Strategie ab. Anstatt sich auf das Empfangen feindlicher Vorstöße zu beschränken, geht die russische Armee nun wieder zum Angriff über. Zeichnet sich damit eine Wende im Krieg ab?
Obwohl oder vielleicht gerade wegen der zunehmenden Zweifel, die westliche Beobachter zuletzt am Erfolg von Kiews Offensivbemühungen geäußert hatten, ist Präsident Selenskyj nun zu einem verbalen Gegenangriff angetreten. So solle die Offensive jetzt an Tempo gewinnen. Schon bald werde sich das Momentum an der Front zugunsten der Ukraine drehen.
Es ist nicht das erste Mal, dass der ukrainische Präsident das Kampfgeschehen positiver darstellt, als es tatsächlich beschaffen ist. Das zeigt auch der Fall von Bachmut. Bis zuletzt hatte Selenskyj es vermieden, den Verlust der Stadt einzuräumen. Selbst als sich das von der Ukraine kontrollierte Gebiet Ende Mai nur noch auf wenige Häuserblocks im Westen beschränkte, zeigte sich Kiew weiterhin siegesgewiss.
Das ist natürlich insoweit nachvollziehbar, als es die Aufgabe der politischen Führung sein muss, die Kampfmoral der Streitkräfte auf einem hohen Niveau zu halten. Angesichts der russischen Übermacht ist dies in geradezu bemerkenswerter Weise gelungen. Dennoch wäre es fatal, das an westliche Medien gerichtete Narrativ vom Erfolg der eigenen Operationen einer ernst gemeinten militärischen Planung zugrunde zu legen. Zu brisant sind die Veränderungen, die man gegenwärtig in der russischen Strategie beobachten kann. Hatten sich Moskaus Truppen seit Anfang Juni lediglich auf vereinzelte Gegenangriffe kleinerer Einheiten beschränkt, erfolgen die russischen Attacken nun im Verbund an verschiedenen Frontabschnitten. Auch nimmt die Anzahl der beteiligten Kräfte kontinuierlich zu.
Immer mehr wird deutlich, dass der russische Generalstab das ukrainische Angriffspotenzial offenbar nicht mehr für stark genug hält, um an mehreren Frontabschnitten substanzielle Angriffe vorzutragen. Stattdessen scheint er davon auszugehen, dass sich die Pressionen Kiews nur noch auf den Süden und den Raum Bachmut konzentrieren werden. Das wiederum erleichtert es ihm erheblich, größere Gegenoffensiven zu planen und im richtigen Moment durchzuführen. Wer das aktuelle Kriegsgeschehen adäquat erfassen will, muss der Tatsache Rechnung tragen, dass die Sommeroffensive der Ukraine keine einheitliche Operation darstellt, wie man es in Kriegen eigentlich gewohnt ist. Stattdessen besteht sie aus einer Reihe lokaler Vorstöße, die jeweils an verschiedenen Abschnitten der Front erfolgt sind.
Reserven des Gegners aufzehren
Damit geht einher, dass keine dieser Offensivbemühungen weitreichende strategische Ziele verfolgte. Anstatt der sukzessiven Exekution eines Generalsplans war ein täglich wechselndes Abtasten der Front zu beobachten. Dies erfolgte in der Absicht, geeignete Schwachstellen für etwaige Durchbrüche zu identifizieren. Eine nennenswerte Auswirkung auf den Kriegsverlauf hatte dies jedoch nicht. Anstatt eines Konflikts, der durch wenige, dafür aber umfassende Schlachten bestimmt wird, haben wir es in der Ukraine mit einem Zermürbungskrieg zu tun. Beide Seiten zielen darauf ab, bis zum Ende des Sommers die Reserven des Gegners aufzuzehren. Demnach soll möglichst viel Ausrüstung und Personal des Feindes vernichtet werden.
Sobald sich in diesen Bereichen eine signifikante Schwächung der Gegenseite abzeichnet, können die eigenen Kräfte für einen durchschlagenden Angriff zusammengefasst werden. So zumindest lautet das Kalkül. Ob in vier bis sechs Wochen überhaupt noch die hierfür nötigen Kapazitäten vorhanden sein werden, ist gegenwärtig völlig unklar.
Auch wenn es auf den ersten Blick paradox erscheinen mag. Der Ansatz, den Gegner zu zermürben, macht aktuell sowohl für Moskau als auch für Kiew Sinn. Längst ist klar, dass keine der beiden Seiten über die Ressourcen für einen schnellen Sieg verfügt. Woher Selenskij also die Truppen nehmen will, um seine Ankündigung von einer Erhöhung des Tempos umzusetzen, bleibt fraglich. Das gilt umso mehr, als die Ukraine noch immer keine wirksame Antwort auf die russische Luftüberlegenheit gefunden hat.
In den deutschen Medien war zuletzt zu vernehmen, die Ukraine habe erfolgreich an drei verschiedenen Frontabschnitten operiert. Dadurch ist der Eindruck entstanden, die Befreiung des Landes gehe kontinuierlich voran. Wie ein Blick auf die Hauptschwerpunkte der Kampfhandlungen zeigt, ist das allerdings nicht der Fall. Dabei sollen im Folgenden die Südfront und der Raum Bachmut betrachtet werden.
Im Süden, wo sich in den letzten Wochen das Gros der Kämpfe ereignet hat, sind die ukrainischen Streitkräfte weiterhin bemüht, den fünf bis sechs Kilometer breiten Streifen zu durchbrechen, der ihre Stellungen von der ersten russischen Abwehrlinien trennt. Wie bereits mehrfach geschildert, ist diese Grauzone von Minenfeldern übersät und weist vereinzelt russische Panzerabwehr sowie dicht stehende Garnisonen in den dort gelegenen Dörfern auf. Sechs Wochen nach Beginn von Kiews Offensive ist dieses Gebiet noch immer nicht unter Kontrolle gebracht. Das ist insofern schlecht, als es eigentlich das Aufmarschgebiet für größere Operationen in südliche Richtung sein müsste. Im Umkehrschluss bedeutet das: Solange die Grauzone nicht vollständig gesäubert ist, kann von einem weiteren Vordringen nicht die Rede sein.
Was wird aus einem nennenswerten Erfolg gemacht?
Wenig erfolgreich stellt sich die Lage auch im Westen der Oblast Saporischschja dar. Hier sind die Ukrainer nach der medial stark überzeichneten Befreiung der Dörfer Lobkowoje und Pjatschatki auf einen russischen Stützpunkt gestoßen. Dieser ist südwestlich des Dorfes Scherebjanki gelegen und bereitet den Angreifern große Probleme. So sind sämtliche Versuche, von Pjatschatki aus in diese Richtung vorzustoßen, abgeschlagen worden. Es ist unklar, warum der ukrainische Generalstab die betreffende Stoßrichtung in diesem Gebiet nicht geändert hat. Ob das Erscheinen ukrainischer Truppen am Dnjeprufer zwischen Kamenskoje und dem russisch kontrollierten Wassyliwka mit einer infolgedessen vorgenommenen Umgruppierung zu tun hat, bleibt fraglich. Fest steht lediglich, dass weitere Angriffe im Raum Scherebjanki keinen Sinn machen.
Etwas besser, jedoch ebenfalls nicht ungetrübt, sieht es bei Orechow aus. Unter schweren Verlusten an Ausrüstung konnte das ukrainische Militär hier nach sechswöchigen Kämpfen die Grauzone vor der ersten russischen Abwehrlinie überwinden. Der dabei gelungene Vorstoß erfolgte in eine Tiefe von sieben bis zehn Kilometer, reicht bis an den Ort Rabotino heran und stellt das bislang weiteste Vordringen der Ukrainer im Süden dar. Das ist zwar ein durchaus nennenswerter Erfolg für Kiew. Dieser kann allerdings nur dann Nutzen bringen, wenn weitere Operationen aus ihm resultieren.
Dabei ist es wichtig zu verstehen, dass der gelungene Vorstoß erst nach der Umstellung auf eine neue Taktik erzielt wurde. Nach den verheerenden Verlusten der ersten Angriffe wurden keine gepanzerten Fahrzeuge mehr für Durchbruchsversuche eingesetzt. Stattdessen kamen nur noch hochmobile und äußerste wendige Stoßtruppen zum Einsatz. Ihr Ziel ist es, in die feindlichen Grabensysteme einzudringen und diese in minutiöser Handarbeit zu säubern. Diese Methode stellt eine maximale Belastung für die beteiligten Soldaten dar, weil sie die Fähigkeit zum Kampf auf engstem Raum erfordert. Ihr Vorteil besteht jedoch darin, dass sie den Russen ihren größten Trumpf bei der Verteidigung nimmt: nämlich die Artillerie.
Die zuvor von ihrem Beschuss schwer getroffenen gepanzerten Fahrzeuge der Ukraine fungieren jetzt nur noch als Transportmittel, um die Infanterie schnell an die Front zu bringen und sie mit Verstärkung und Munition zu versorgen sowie um Verwundete abzutransportieren. Sobald die Kampftruppen abgesetzt wurden, ziehen sich die Fahrzeuge sofort zurück. Ihre Mannschaften indes dringen unverzüglich in kleinen Stoßgruppen in die bewaldeten Gebiete um Rabotino vor.
Weniger Verluste an gepanzerten Fahrzeugen
Die Vorteile dieser Taktik führten dazu, dass die Verluste an gepanzerten Fahrzeugen im Juli im Vergleich zum Vormonat erheblich verringert werden konnten. Gleichzeitig arbeiteten die ukrainische Artillerie und die Drohnenflotten daran, systematisch russische Ausrüstungsdepots im Hinterland und Nachschubkonvois zu zerstören. Die russische Artillerie versuchte wiederum, in derselben Weise zu antworten. Offenbar geht es bei dieser Taktik nicht um tiefe Durchbrüche. Stattdessen soll der Gegner materiell und logistisch abgenutzt werden.
Im Bezirk Welyka Nowosilka konnten die ukrainischen Streitkräfte im Juni mehrere im Flusstal von Mokrye Jaly gelegene Dörfer befreien. Weitere Vorstöße waren in diesem verengten Gebiet allerdings nicht möglich. Dafür waren vor allem die zahlreichen Minenfelder, Panzerabwehrraketenstellungen, der intensive Hubschrauberbeschuss sowie die dicht stehenden russischen Garnisonen in den Dörfern Uroschajnoje und Staromajorskoje verantwortlich.
Um trotzdem weiter vorzudringen, mussten die Ukrainer die westlich des Flusstals gelegenen Höhen einnehmen. Anfang Juli wurde infolgedessen das Dorf Rownopol befreit, wonach die ukrainischen Truppen mehrere Kilometer nach Süden vorstießen und Staromajorskoje von Nordwesten her erreichten. Der in der vergangenen Woche begonnene Angriff auf das Dorf scheint jedoch bisher gescheitert zu sein. Die gepanzerten Fahrzeuge, die die Infanterie an den Stadtrand brachten, gerieten unter Beschuss der russischen Artillerie und mussten sich unter schweren Verlusten zurückziehen.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass im Süden zwar durchaus noch Bewegung herrscht, diese sich jedoch lediglich auf einzelne Orte beschränkt. Entscheidend ist die Feststellung, dass die russische Abwehrlinie nach wie vor stabil steht, während die Ukraine nicht in der Lage ist, einen nennenswerten Durchbruch zu erzielen. Unter dem Eindruck dieser Situation haben die ukrainischen Streitkräfte zuletzt einen neuen Versuch unternommen, die russischen Stellungen im Norden und Süden von Bachmut zu durchbrechen. Im Süden wäre dieser Versuch beinahe geglückt. Ukrainische Einheiten konnten eine große Festung in den Hügeln nahe dem Dorf Klischtschijiwka erreichen. Die Anlage wurde gestürmt, jedoch gerieten die darin befindlichen Einheiten bereits kurze Zeit später unter schweren Artilleriebeschuss und mussten sich zurückziehen.
Aktuell ist noch unklar, ob es den ukrainischen Einheiten gelungen ist, am Stadtrand von Klischtschijiwka Fuß zu fassen. Ein Sieg könnte der Ukraine den Weg zu den südlichen Bezirken von Bachmut und den Verbindungsstraßen zwischen der Stadt und der Region Luhansk verschaffen. Die strategische Bedeutung eines solchen Erfolgs sollte jedoch nicht überbewertet werden. Bachmut ist eine Ruine, die Verkehrsnetze im Umland teilweise schwer zerstört. Nördlich von Bachmut versuchte Kiew wiederum, die Dörfer Berchowka und Jagodnoje zu besetzen, konnte in ihren neuen Stellungen aber nicht Fuß fassen. Wie bereits in Klischtschijiwka mussten sich die Ukrainer auch hier unter schwerem Artilleriebeschuss zurückziehen. Trotz allem versucht Kiew jedoch weiterhin, die russische Verteidigung bei Berchowka und Klischtschijiwka zu durchbrechen.
Sammelsurium aus verschiedenen Regimentern
Hierzu zielt sie darauf ab, die russische Artillerie durch Angriffe auf ihre rückwärtigen Stellungen niederzuhalten. Dem vorliegenden Videomaterial nach zu urteilen, kommt dabei die gesamte Bandbreite verfügbarer Kampfmittel zum Einsatz: und zwar von Kamikaze-Drohnen bis hin zu HIMARS-Raketenwerfern. Grundsätzlich ist zu beobachten, dass die von beiden der Parteien bei Bachmut eingesetzten Kräfte kontinuierlich zunehmen. So verlegt der russische Generalstab weiterhin Reserven nach Berchowka und Klischtschijiwka. Dabei handelt es sich um eine Entwicklung, die an den Fronten in der Südukraine nicht zu beobachten ist, wo die russische Armee die Verteidigung noch immer ohne den Einsatz operativer Reserven durchführt.
Das Kontingent, welches die Gruppe Wagner bei Bachmut abgelöst hat, ist ein buntes Sammelsurium aus Regimentern der Luftlandetruppen und motorisierten Schützenbrigaden der „Volksrepublik Lugansk“ wie auch aus Truppen des westlichen Militärbezirks. Einzelne Bataillone anderer privater Militärkompanien und „Sturmtruppen“ aus vom Verteidigungsministerium rekrutierten Gefangenen kämpfen an ihrer Seite.
Es ist gänzlich unklar, wie sich die Kämpfe hier in den kommenden Wochen entwickeln werden. Allerdings steht zu vermuten, dass es zu einer neuerlichen Intensivierung kommen könnte, da Bachmut für beide Seiten von erheblicher Bedeutung ist. Während Moskau seinen Anspruch auf die Stadt durch ein Standhalten zu untermauern sucht, ist Kiew bestrebt, seine Einnahme zu einem Symbol der Befreiung seines Staatsgebiets zu nutzen.
Für Russland sind aber nicht nur die Kampfhandlungen auf dem Festland von Bedeutung. So hat Moskau seit letzter Woche eine Seeblockade gegen die Ukraine verhängt. Vor allem Odessa ist in den letzten Tagen verstärkt zum Opfer russischer Angriffe geworden. Kiew kann dem kaum mehr entgegensetzen, als Ziele auf der Krim zu beschießen.
Angesichts obigen Berichte lässt sich sagen, dass die Bilanz der ukrainischen Offensive ernüchternd ausfällt. Lediglich 253 Quadratkilometer konnten seit dem 4. Juni 2023 zurückerobert werden. Im September 2022 waren es noch dreitausend gewesen. Neben den gut ausgebauten russischen Verteidigungslinien kommt ein weiterer Faktor erschwerend hinzu: und zwar Russlands Rüstungsindustrie. Anders als zahlreiche Beobachter zunächst vermutet hatten, ist es Moskau gelungen, die hohen materiellen Verluste auf dem Schlachtfeld durch die Produktion neuer Waffensysteme zu kompensieren. In den russischen Staatsmedien war kürzlich ein Video aus einer Waffenschmiede zu sehen. Die Aufnahme stammt aus der weltgrößten Panzerfabrik „Uralwagonzawod“ in der Stadt Nischnij Tagil (Ural) und zeigt die Herstellung von Panzern des Typs T-72 B3M.
Wem gehen zuerst die Raketen aus?
Im März 2023 war Russland in der Lage, etwa 20 Panzer im Monat zu produzieren. Zur selben Zeit lieferte die Fabrik mehrere hundert von ihnen an die Armee aus, darunter zahlreiche neue wie auch instandgesetzte Panzer. Diese Kapazitäten dürften sich schon bald signifikant erhöhen. Für das Jahr 2023 werden insgesamt 1.000 neue T-90M erwartet. Das sind Größenordnungen, von denen die Ukraine gegenwärtig nur träumen kann.
Wie ernst die russische Führung es mit der Waffenproduktion meint, zeigt ein Kommentar von Dmitrij Medwedjew. In einem Interview von März 2023 erklärte er:
„Unsere Feinde dachten, dass unsere Industrie ersticken würde, dass wir alles aufbrauchen würden – das war ihr ständiges Gerede. Sie behaupteten, uns gehen die Granaten aus, uns gehen die Panzer aus, uns gehen die Raketen aus. Dieses Jahr werden wir allein 1500 Panzer produzieren.“
Da sich mittlerweile ein langwieriger Krieg in der Ukraine abzeichnet, gewinnt auch die russische Rüstungsindustrie immer mehr an Bedeutung. Sollte es Moskau gelingen, ihre Produktivität kontinuierlich zu steigern, werden Kiew und seine Verbündeten unter immensen Druck geraten. Die Reaktion darauf müsste in einer massiven Steigerung der westlichen Waffenlieferungen bestehen. Das wiederum erzeugt politischen Druck in den betreffenden Geberländern.
Inwieweit deren Regierungen einer solchen Belastungsprobe auf Dauer standhalten können, wird sich noch erweisen müssen.
Christian Osthold ist Historiker und als Experte für Tschetschenien und den Islamismus tätig. Darüber hinaus befasst er sich mit islamisch geprägter Migration sowie dem Verhältnis der Politik zum institutionalisierten Islam in Deutschland.