Vince Ebert / 16.10.2009 / 18:46 / 0 / Seite ausdrucken

Wie erzieht man Kinder?

Die meisten jungen Familien in meinem Bekanntenkreis sind der festen Überzeugung, Erziehung und Mutterschaft sei eine hochkomplizierte Wissenschaft, die in etwa so brisante Anforderungen stellt wie das Management eines Kernkraftwerkes. In unzähligen Handbüchern wird akribisch beschrieben, wann genau das Kleinkind mit Kuhmilch, Englischunterricht oder einer Psychotherapie beginnen sollte. Eigentlich unglaublich, wie Kinder über Jahrtausende hinweg ohne Selbsthilfebücher, Erziehungschoaches und Supernannys überhaupt das dritte Lebensjahr erreichen konnten. Mein Nachbarin Sabine erzählte mir neulich, dass es im Falle von Eltern-Kind-Problemen als Therapieart inzwischen sogar Bogenschieß-Kurse gibt. Meine Frage, wer da auf wen schießen darf, überhörte sie geflissentlich.
Wann haben Eltern nur aufgehört, ihren gesunden Menschenverstand zu benutzen? Statt dessen versuchen Tausende von Diplompädagogen den Erziehungsberechtigen zu vermitteln, wie man Kinder erzieht. Wenn man sich dagegen hinstellt und sagt: „Lass’ doch die Kinder einfach mal in Ruhe machen“, gilt man in intellektuellen Kreisen als verantwortungsloser Assi. „Denn unsere Gesellschaft ist ja eh’ schon so kinderfeindlich“ heißt es dann. Zwar verfügt mittlerweile jede Kleinstadt über einen Kinderladen, ein Kinderkino, ein Kinderseelsorgentelefon, diverse Kindernotdienste und Kinderbauernhöfe – aber das zählt irgendwie nicht.
Sabine jedenfalls plädiert dafür, Kinder in allem ernst zu nehmen. Und zwar um jeden Preis. Was im wesentlichen bedeutetet, sie darauf abzurichten, sich mit den Problemen der Erwachsenen herumzuschlagen. Früher hat man als Kind einfach nur „Kaufladen“ gespielt. Heute diskutieren die Eltern mit ihren Achtjährigen darüber, ob die Kaffeepreise in ihrer Auslage den Bauern in Guatemala schaden könnten.
Nichtsdestotrotz stellt sich die Frage: Welchen Einfuß hat Erziehung tatsächlich? Wie formbar oder frei sind wir in unserer kindlichen Persönlichkeitsentwicklung? Diese Frage beschäftigt seit Jahrhunderten Heerscharen von Fachleuten.
Jean-Jacques Rousseau, der Vater aller Erziehungswissenschafter, betrachtete Erziehung als den Versuch, die urwüchsige Natur des Kindes zur Entfaltung zu bringen. Rousseau war der Auffassung, dass der Mensch schon bei seiner Geburt ein moralisch ideales und sozial vollkommenes Wesen darstellt. Eine These, an der alle jungen Eltern zweifeln, die einen kleinen Tyrannen haben, der ihnen jede Nacht das Leben zur Hölle macht. Rousseau jedoch war fest davon überzeugt, dass der von Natur aus gute Mensch durch Gesellschaft und Zivilisation in seiner Ursprünglichkeit und Vollkommenheit verdorben wird. Um seine eigenen Kinder mit dieser schwachsinnigen Idee nicht zu verderben und ihre Ursprünglichkeit zu erhalten, schob er sie kurzerhand alle in ein Waisenhaus ab.
Obwohl viele Pädagogen auch heute noch auf den herzlosen französischen Spinner abfahren, weiß man inzwischen ziemlich genau, welchen Einfluss gute oder schlechte Erziehung wirklich hat. Nämlich nicht so allzu viel. Zum Beispiel ist unsere Persönlichkeit sehr viel mehr ein Produkt unserer Gene. Persönlichkeitszüge wie musisches Talent, Religiosität oder politische Überzeugungen von Adoptivkindern korrelieren viel mehr mit denen der leiblichen Eltern als mit denen der Adoptiveltern. Bezogen auf einige Aspekte unseres Charakters haben wir also so viel Wahl wie bei unserer Schuhgröße (chinesische Frauen ausgenommen).
Auch was schulische Leistungen angeht, ist es interessanterweise nicht besonders ausschlaggebend, ob ein Kind streng oder antiautoritär erzogen wird, ob es viel oder wenig fern sieht, ob man mit ihm ins Museen geht oder es in den Geigenunterricht schickt. Viel bedeutender ist der „Buchregaltest“. Es existiert eine starke Korrelation der Leistung eines Schülers mit der Anzahl der Bücherregale im elterlichen Haushalt. Ein Kind, das in einer Wohnung mit einer Bücherwand aufwächst, ist entwicklungspsychologisch vier Jahre vor einem Kind ohne. Falls Sie bei den Gelben Seiten arbeiten und leidenschaftlicher Telefonbuchsammer sind, vergessen sie den letzten Gedanken.
Im Allgemeinen jedoch ist der Besitz von Büchern ein Indiz für Intelligenz und Bildung. Und der Intelligenzquotient ist stark erblich. Das gilt im Positiven wie im Negativen. Wenn sie strohdoof sind, bringt es demnach eher wenig, ihr Kind dreimal die Woche zum Ballett oder in eine Quantenphysikvorlesung zu schleppen. Auch wenn’s hart klingt: Zwei Millionen Jahre Evolution lassen sich nicht durch zwei Monate Blockflötenunterricht beeindrucken.
Es kommt bei der Erziehung also nicht so sehr darauf an, was Eltern tun, sondern es geht mehr darum, wer die Eltern sind. Wenn sie gut ausgebildet, erfolgreich und gesund sind, können sie sich schon mal zurücklehnen. Eltern, die sich übertrieben um ihre Kinder kümmern, sind ähnlich wie Politiker, die meinen, mit viel PR und Werbung lassen sich Wahlen gewinnen. Aber hätten sie für Steinmeier gestimmt, wenn er zehnmal mehr Geld in den Wahlkampf gebuttert hätte?
Bei mir jedenfalls haben sich viele Interessensgebiete von ganz alleine ohne elterlichen Druck entwickelt. Besonders die Liebe zur Physik. Schon als 12jähriger führte ich selbständige Studienreihen durch und untersuchte das „Druckverhalten von vierachsigen 30-Tonnern auf froschhafte Organismen an der B47“. Meine zweite Arbeit „Aspirin-Überdosierungen von japanischen Ziergoldfischen“ reichte ich sogar bei Jugend Forscht ein.
Damals meinten meine Eltern nur: So sind Kinder nun mal. Das wächst sich schon noch aus. Heutzutage wäre das ein glasklarer Fall für den Kinderpsychologen. Das meint zumindest Sabine. Unter 40 Einzelsitzungen wäre da ihrer Einschätzung nach gar nichts gegangen. Und dann zog sie wissend die Augenbrauen hoch: „Wahrscheinlich warst Du ein hochbegabtes Kind. Aber weil das Deine Eltern tragischerweise nicht erkannt haben, hast Du eben rebelliert.“ Verdutzt schaute ich sie an. Doch noch bevor ich etwas dazu sagen konnte, fuhr sie fort: „Bei meinem Frederic wäre ich ohne seine Therapeutin Dr. Schmidt-Wegener auch nicht darauf gekommen, dass er ein kleines Genie ist!“ Aber warum kann er dann mit 11 Jahren immer noch nicht richtig lesen? Fragte ich.
„Weil es seine Lehrer nicht erkennen! Dr. Schmidt-Wegener meint, das sei ganz typisch bei Genies. Die meisten wurden – genau wie Frederic auch – am Anfang ausgelacht.“ Na ja, dachte ich bei mir. Die Tatsache, dass manche Genies ausgelacht wurden, impliziert nicht, dass alle, die ausgelacht werden, Genies sind. Sicherlich, man lachte über Galileo, über Darwin und lachte über die Gebrüder Wright. Aber man lachte eben auch über Edmund Stoiber.
Sabine jedenfalls ist sich sicher. Ihr unerzogener kleiner hypermobiler Fratz ist hochbegabt und sie hat es – Gott sei Dank – erkannt. „Besonders was Mathematik angeht“, schwärmte sie. „Da hat der Frederic ein unglaubliches Zahlengedächtnis!“ Erst gestern hat er sich die „Fünf“ gemerkt – und Du wirst es nicht glauben: Die weiß er heute noch!“ Einfach genial.

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