Zum Weltkrebstag Anfang Februar verkündete das EU-Parlament, dass die EU jetzt mit aller Kraft in den Krieg gegen den Krebs ziehen werde – neben der Klimarettung und dem Kampf gegen Plastikmüll in den Ozeanen, versteht sich. Offizielle EU-Bezeichnung für dieses Kommando: „Plan für die Besiegung des Krebses.“
Der gesundheitspolitische Sprecher der Europäischen Volkspartei, Peter Liese von der CDU, konkretisiert: „Wir wollen unseren Beitrag leisten, dass in 20 Jahren niemand mehr in Europa an dieser schrecklichen Krankheit sterben muss.“ Und Ursula von der Leyen, die Vorsitzende des EU-Politbüros, betont bei dieser Gelegenheit gegenüber der Welt, wie wichtig ihr ganz persönlich gerade der Kampf gegen den Krebs sei. Dabei käme es auch darauf an, „in der gesamten EU eine gleichmäßig gute Krebsversorgung sicherzustellen.“ Kurzum: Da man mit solchen Themen gemeinhin keine Scherze treibt, meinen es die EU-Kommission und ihre Chefin offenbar ernst. Das allerdings begründet aus psychiatrischer Sicht eindeutig den Verdacht auf Größenwahn.
Ein solcher Wahn ist durch – wie es im einschlägigen Schrifttum heißt – starke Selbstüberhöhung gekennzeichnet, meist in Form eines logisch geschlossenen Systems. Bloß mit der Ausgangsvoraussetzung dieses Systems, also über ganz groß- und einzigartige Kräfte zu verfügen, hapert es in der Praxis dann regelmäßig.
Nun sind solche an einen Wahn gemahnende Größenideen für totalitäre Regimes nichts Besonderes. Man denke nur an Nordkorea, Maos großen Sprung nach vorne oder auch an die Genossen aus dem SED-Politbüro in ihrem unerschütterlichen Glauben an das Eintreffen der Fünf-Jahres-Pläne. Und zweifelsohne wohnt auch den einer demokratischen Kontrolle völlig oder weitgehend entzogenen, riesigen supranationalen Organisationen wie der UNO und ihren diversen Unterorganisationen oder eben auch der EU mit ihrem riesigen Beamtenheer etwas Totalitäres inne.
Ein schönes Beispiel für in solchen Biotopen gedeihenden Größenwahn stammt von der WHO, die 1977 als Hauptziel kurz und bündig formulierte: „Gesundheit für alle bis zum Jahr 2000.“ Im Vergleich dazu wirkt das EU-Ziel, den Krebs besiegen und in der Gesamt-EU gleiche Behandlungsqualität etablieren zu wollen, fast schon solide und zurückhaltend. Gleichwohl bleibt das Versprechen natürlich ein Riesen-Fake.
Die Wissenschaft hat nicht auf die EU gewartet
Bei den Krebserkrankungen handelt es sich um eine hinsichtlich Risikofaktoren, Entstehungsmechanismen, betroffenen Organen, Prognosen und Therapieoptionen doch recht heterogene Gruppe. Zu versprechen, dass diese Erkrankungen in zwanzig Jahren entweder gar nicht mehr vorkommen, sie ansonsten aber früher diagnostiziert oder aber therapeutisch drastisch besser beeinflusst werden können, ist schon ausgesprochen ambitioniert.
Das Problem ist nur, dass genau daran seit Jahrzehnten weltweit eine ganze Armada von Wissenschaftlern arbeitet. Und das insgesamt durchaus mit Erfolg. Zwar nehmen bei uns die Krebserkrankungen aufgrund der Alterung der Gesellschaft weiter zu. So hat sich die jährliche Neuerkrankungsrate in Deutschland seit 1970 auf fast 500.000 nahezu verdoppelt. Aber: Starben vor 1980 noch zwei Drittel aller Krebspatienten an ihrer Erkrankung, sind es heute weniger als die Hälfte.
Die ebenfalls von Größenwahn geprägte deutsche Energiewende legt sich bekanntlich besonders mit der Physik und deren ehernen Gesetzen an. Im Vergleich dazu hat der Versuch, den medizinisch-onkologischen Fortschritt politisch zu beeinflussen, zumindest noch einen gewissen Realitätsbezug. Dieser verliert sich allerdings zunehmend bei der Absicht, wissenschaftlichen Fortschritt zu erzwingen, da er sich typischerweise nur in kleinen Schritten vollzieht und zudem immer wieder durch Rückschläge unterbrochen und verzögert wird. Große Schritte in die richtige Richtung gelingen der Medizin nur selten, und wirkliche Durchbrüche sind eine Rarität. Daran vermögen auch zusätzliche Milliarden nichts Substanzielles zu ändern.
Vielleicht kann der Fortschritt durch intelligente und weitsichtige Förderung punktuell beschleunigt werden, aber ob es wirklich so kommt, weiß man auch erst hinterher. Zielführender und vor allem preiswerter dürfte es dagegen sein, der medizinischen Wissenschaft Hemmnisse in Form von Überregulierungen aus dem Weg zu räumen. Aber mit einem solchen Anliegen braucht man der EU natürlich gar nicht erst zu kommen.
Nun will die EU nicht nur therapeutische, sondern auch diagnostische Fortschritte erzwingen. Aber auch hier gilt das oben Gesagte. Vielleicht sogar in noch stärkerem Maße, weil gerade auf dem Gebiet der Krebs-Früherkennung die Ergebnisse oftmals ausgesprochen enttäuschend ausfielen: Entweder gelang es bloß, den Diagnosezeitpunkt vorzuverlegen, ohne dass der Patient davon profitierte; er musste dann allerdings länger mit der Last einer potenziell todbringenden Diagnose leben. Oder es ergab sich durch die Früherkennungsmaßnahmen ein unvertretbar hoher Anteil von Verdachtsfällen, bei denen sich – durch genauere und nicht selten risikoreiche und teure Untersuchungen – das Vorliegen einer Krebserkrankung nicht bestätigen ließ. Hinzu kommt, dass auch hier die niedrig hängenden Äpfel – also die besonders für Frühdiagnostik infrage kommenden Krebserkrankungen – bereits weitgehend abgeerntet sind.
Ein Kampf gegen die Risikofaktoren
Was trübt die Aussichten auf einen Erfolg des EU-Vorhabens weiter ein? Die schlichte Tatsache, dass wir es in Deutschland, aber nicht nur hier, mit einer alternden Gesellschaft zu tun haben. Und das Alter ist nun einmal der größte Risikofaktor für die meisten Krebserkrankungen: Auf einen unter 15-Jährigen mit einer Krebsdiagnose kommen 200 bis 300 über 80-Jährige. Das Alter und genetische Faktoren sind zumindest gegenwärtig nicht zu beeinflussende Risikofaktoren. Interessanter für die EU sind da natürlich die zumindest grundsätzlich vermeidbaren Faktoren, die eine Krebsentstehung fördern können. Die wichtigsten sind laut WHO: Rauchen, Ernährung mit geringem Obst- und Gemüseanteil und hohem Anteil von rotem Fleisch und Wurst, Übergewicht, Bewegungsmangel und Alkohol.
In Übereinstimmung mit epidemiologischen Studien geht die EU davon aus, dass etwa 40 Prozent aller Krebserkrankungen vermeidbar wären, eben durch einen die oben gelisteten Risikofaktoren vermeidenden Lebensstil. Und genau darauf wird der EU-Kampfeinsatz gegen den Krebs wahrscheinlich in erster Linie hinauslaufen. Denn wenn die EU eines kann, dann ist es das Diktieren von irgendwelchen Quoten, Grenzwerten oder Substanzverboten in ihren Mitgliedsländern, um das alles – in dem hier interessierenden Falle – dann hochzurechnen in dadurch vorm Krebs gerettete Menschenleben.
Dazu gibt es einen Millionenregen, der über einigen Forschungsinstituten und Klinken niedergeht, aber ohne direkt messbaren Erfolg bleibt. Ergänzend wird es in den EU-Ländern mit niedriger Wirtschaftskraft Zuschüsse für die Einrichtung oder den Ausbau onkologischer Abteilungen geben. Aber natürlich ohne dass dadurch das medizinische Qualitätsgefälle innerhalb der EU aufgehoben würde. Länder wie Bulgarien, Rumänien oder auch Portugal können und wollen sich schlicht kein Gesundheitssystem leisten, in dem die Krebsmedizin vielleicht top, der Rest aber flop ist.
Aber die EU, sollte es sie in zwanzig Jahren überraschenderweise doch noch geben, wird aus den ernüchternden Ergebnissen ihres Feldzugs gegen den Krebs nichts lernen. Der Größenwahn in solchen Institutionen ist therapieresistent und hat sich dann längst ein neues Thema gesucht. Denn die Politik ist – im Großen wie im Kleinen – generell sehr anfällig für Selbstüberhöhungen beziehungsweise groteske Überschätzungen ihrer Möglichkeiten und Fähigkeiten. Ein ganz wesentlicher Risikofaktor für dieses polit-psychiatrische Problem ist dabei die Scheu, einen möglichst unverstellten Blick auf die Realität zu werfen und daraus die richtigen Schlüsse zu ziehen.
Dazu ein kleines Lehrstück aus dem kürzlich zu Ende gegangenen Hamburger Bürgerschaftswahlkampf: Die Grünen, vor fünf Jahren frisch in den Hamburger Senat gekommen, hatten damals angekündigt, jedes Jahr mindestens 50 Kilometer neue Radwege bauen zu wollen. Geschafft haben sie im Mittel nur gut 35 Kilometer pro Jahr. Und was versprechen sie ihren Wählern für die kommenden fünf Jahre? 100 Kilometer neue Radwege jährlich!