Philipp Lengsfeld, Gastautor / 02.01.2015 / 10:01 / 25 / Seite ausdrucken

Wider den Wutjournalismus

Von Philipp Lengsfeld

Dem Wutjournalistenstatement von Thomas Rietzschel muss man vehement widersprechen.

Sie kritisieren die Neujahrsansprache der Kanzlerin. Das können Sie gerne tun. Aber was ist eigentlich Ihr Vorwurf? Ihnen missfällt, dass die Kanzlerin indirekt die einfachen Demonstranten von Dresden aufgefordert hat, den Organisatoren von PEDIGA nicht mehr zu folgen. Jetzt bin ich nicht sicher, ob ich selber - wäre ich denn in der Lage gewesen - der Kanzlerin zu diesem Schritt geraten hätte und der starke Beifall von taz und ND bestärken meine Zweifel, aber ist eine solche Aussage unzulässig? Keinesfalls! Der Kern Ihrer politischen Anwürfe ist schlicht substanzlos. Zehntausende Demonstranten sind sicherlich ein starker Auftritt, dies hat es in diesem Land aber schon häufiger gegeben. Das kann maximal der Anfang einer politischen Diskussion sein, die übrigens in der Gemengelage mehr als komplex ist.

Politisch ist ihr Anwurf ein dünnes Brett, dafür hat er es aber stilistisch in sich. Warum sachlich, wenn es auch persönlich sein kann? Dass Sie Angela Merkel die politischen Haltungen und Überzeugungen Ihres Vaters vorhalten, macht mich einfach nur sprachlos. Da ich es aber selber regelmäßig erfahre, wundere ich mich über Sippenhaft im öffentlichen deutschen Diskurs schon lange nicht mehr. Auf den Seiten der Achse des Guten finde ich sie aber besonders deplatziert. Viel schlimmer ist das Wiederaufkochen der ‚FDJ-Anwürfe’. Niemand außerhalb und auch innerhalb des DDR-Kontextes ist berechtigt, einem akademisch interessierten und begabten jungen Menschen die von Seiten des SED-Systems erpresste aktive FDJ-Arbeit zum Vorwurf zu machen, ob er oder sie später ‚nur’ Wissenschaftler oder DDR-Oppositioneller oder sogar Kanzler geworden ist. Das ist Russia Today- Niveau.

Der Kern der PEDIGA-Demonstrationen richtet sich übrigens nach meiner Ferndiagnose vor allem gegen die Medien. Eine freie Presse kann hier das verlorene Vertrauen nur durch Faktentreue und Ausgewogenheit wiedergewinnen. Ich würde der Achse des Guten empfehlen sich hier nicht als Außenstehende zu empfinden, sondern genau diesen Regeln auch möglichst oft zu folgen. Ihr Artikel kann da sicherlich nicht der Maßstab sein.

Der Autor ist MdB der CDU

Sie lesen gern Achgut.com?
Zeigen Sie Ihre Wertschätzung!

via Paypal via Direktüberweisung
Leserpost

netiquette:

Peter Meyer / 02.01.2015

“Der Kern der PEDIGA-Demonstrationen richtet sich übrigens nach meiner Ferndiagnose vor allem gegen die Medien.” Diese Demonstrationen sind nur ein Ventil, ein emotionaler Stauabbau, mehr nicht. Für alles, was in den letzten 15 Jahren durch neoliberale Poltik falsch gemacht wurde, HartzIV, Rentenkürzungen, globaler Sozialabbau, Beschneidung von Arbeitnehmerrechten, Finanzkrise, Umweltzerstörung, die Liste lässt sich beliebig fortführen. Kein Poltiker hat mehr den Mut unbequeme Fragen halbwegs realistisch und wahrheitsfindend zu beantworten. Der vorbildliche Sozialstaat BRD wurde durch die neoliberale Poltik unter Schröder, später unter Merkel, in ein ein potentielles Armenhaus reformiert. Und deswegen gehen Bürger auf die Straße und brüllen ihren Frust heraus, einfach um etwas aus ihren Inneren loszuwerden. Ich sehe darin auch keinen produktiven Sinn, aber ich kann den Frust gut nachvollziehen. Der Mensch braucht zum Leben eine Perspektive, einen Sinn, eine Hoffnung. Sich um die großen Probleme in der Welt zu drehen, ist eine schöne Sache, aber das eigene Volk mit den Sorgen und Nöten nicht mehr wahrnehmen zu wollen, das ist eine Negation der Realität. So etwas habe ich vor 26 Jahren schon einmal kennenlernen dürfen.

Walter Adler / 02.01.2015

Wenn Sie schreiben: “Der Kern Ihrer politischen Anwürfe ist schlicht substanzlos” kann ich das nicht nachvollziehen. Die aus meiner (Leser-)Sicht entscheidende Aussage war: “Doch eine Neujahrsansprache, in der es die Regierungschefin aller Deutschen darauf anlegt, das Volk zu spalten, indem sie die Bürger warnt, von ihrem grundgesetzlich verbrieften Demonstrationsrecht Gebrauch zu machen, das gab es noch nicht, nicht in der Bundesrepublik Deutschland.” Der Rest des Beitrages war sicher vorsichtig formuliert überflüssig. Aber auch er zeigt eines deutlich: Hier ist eine Spaltung des Landes im Gange. Eine Spaltung die sich daran zeigt, dass das nahezu gesamte linke Lager (und viele lt. Parteibuch konservative Politiker) schon seit Wochen zu sachlicher Diskussion nicht mehr in der Lage ist, sondern sich in Schimpfworten und Beleidigungen ergeht. Eine Spaltung, die sich daran zeigt, dass auch die besonnensten Vertreter anderer Auffassungen kaum noch sachliche Argumentationen hinbekommen. (Sie kritisieren zu Recht die Instrumentalisierung der Vergangenheit von Frau Merkel. Wo aber ist Ihre Kritik der Instrumentalisierung der Vergangenheit von Herrn Bachmann?) Eine Spaltung, die sich daran zeigt, dass die Debatte von radikalen Kräften beider Seiten erfolgreich auf ein “Ausländer rein” versus “Ausländer raus” reduziert wird und beispielsweise eine inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Pegida-Programm nicht erfolgt. Hier wäre es die natürliche Aufgabe der Bundeskanzlerin (und erst Recht des Bundespräsidenten) zu EINEN und den Weg zu einer sachlichen Auseinandersetzung zu weisen.

Dirk Ahlbrecht / 02.01.2015

Es ist zweifellos Ihr gutes Recht, Herr Lengsfeld, Thomas Rietzschel für dessen pointierte Ausführungen zu kritisieren, keine Frage. Ich hätte diesbezüglich nur gerne gewusst, ob Sie in den letzten Wochen und Monaten auch entsprechende Kommentare in Richtung Ihrer Politikerkollegen verfasst haben, wegen all jener Unverfrorenheiten, Beleidigungen und Schmähungen gegenüber der PEGIDA-Bewegung, die ich hier nicht wiederholen möchte. Sollten Sie dies getan haben, wäre dies zumindest ein Beitrag zur Ausgewogenheit. Was die PEGIDA-Bewegung anlangt, so habe ich mich anfangs nicht sonderlich damit beschäftigt. Als allerdings die Schmierereien und Schmähungen von Teilen der Medien und der Politik ihren Anfang nahmen (von der von Ihnen zu Recht angemahnten sachlichen Kritik konnte keine Rede sein) kam in mir ein Gefühl hoch, das meine Großmutter wohl mit dem Satz “Das macht man nicht!” umschrieben hätte. Mittlerweile drücke ich PEGIDA ganz fest die Daumen und denke über meine eigene Teilnahme an den montäglichen Spaziergängen nach. Zum Ende hin noch etwas zum eigentlichen Thema: Das lesenswerte Buch des Verhaltensforschers Irenäus Eibl-Eibesfeldt mit dem Titel “In der Falle des Kurzzeitdenkens” enthält ein sehr interessantes Streitgespräch zwischen ihm, Eibl-Eibesfeldt, und Daniel Cohn-Bendit, das beide im Stern (Ausgabe 52/1992 S. 32-42) geführt haben. In diesem Gespräch werden all jene Themen behandelt, die unter anderem in Dresden die Leute an Montagen auf die Straße treiben; und die unsere Kanzlerin mit “Hass”-Hinweisen und ähnlichem Unsinn mehr zu unterbinden trachtet. Als ehemaliger Hauptschüler erwarte ich von einer Kanzlerin mehr intellektuelles Niveau, nämlich sich der dahinterstehenden komplexen Thematik das Thema Migration und Zuwanderung betreffend zu stellen. Wenn die Kanzlerin nicht Willens oder auch in der Lage dazu ist, dann gehört sie dort nicht hin. PS: Schmunzeln musste ich bei Ihrer “Ferndiagnose” PEGIDA und die Medien betreffend. Entgegen Ihrer Diagnose steht bei PEGIDA ganz klar die Politik im Focus der Demonstranten. Wäre dem nicht so, dann würden sich die Leute wohl eher beispielsweise in Berlin vor dem Axel-Springer-Hochhaus treffen; tun sie aber nicht. PPS: Faktentreue und Ausgewogenheit ist in meinen Augen ein Markenzeichen der “Achse des Guten”. Deshalb lese ich hier bzw. bin entsprechend Pate.

Wolf-Dieter Schleuning / 02.01.2015

Wider die Wutpolitiker. Rietzschel ist nicht wütend, sonder zornig und sein Zorn ist berechtigt. Zorn über Politiker die über Bürger herfallen die nichts anderes tun, als ihr verfassungsmäßig garantiertes Grundrecht wahrzunehmen sich zu versammeln und zu demonstrieren und deren Forderungen von immerhin 30% der Bevölkerung geteilt werden. Ich kann mich selbst nicht an eine Diktatur erinnern, die jemals über das eigene Volk derartige Kübel von Unrat ausgegossen hätte: Hetzer, Ratte, Rassist, Schande, Islamhasser, Fremdenfeind, Mishpoke, Rechtspopulist, Nazi, Hass im Herzen tragender, usw. ohne Ende. Liebe Politiker, erinnert Euch dass Ihr Volksvertreter und nicht Volkserzieher seit! Schämt Euch Wutpolitiker!

Karl Krähling / 02.01.2015

Werter Herr Lengsfeld! Sie unterschätzen das Zusammenspiel zwischen den Eliten in Politik und Medien! Der Vertrauensverlust „draußen im Land“ reicht tiefer, als Ihnen das in Berlin bewusst ist. Als Konservativer habe ich in der CDU schon lange keine Heimat mehr. Frau Merkel ist zwar derzeit alternativlos, das heißt aber nicht, dass sie eine besondere Qualität aufweist, das Land in die Zukunft zu führen, die offenbar überall brüchiger wird, nicht nur bezüglich einer schon seit Kohls Zeiten ungeregelten Zuwanderung. Vernünftige Forderungen an und Lösungen für Migranten unter Einbezug einer offenen Debatte haben die Eliten in Politik und Medien immer nur als Populismus abgetan. Kritiker wurden persönlich angegangen, die stärksten Argumente waren und sind Beschimpfungen und üble, ehrabschneidende Unterstellungen. Das Wort vom Rassisten, Fremdenfeind, Nazi geht den Eliten heute leicht über die Lippen. Vermutlich beschleicht unsere Eliten schon eine Ahnung, dass auch diese Entwicklung einmal für Deutschland böse enden könnte.

Peter Meyer / 02.01.2015

“Der Kern der PEDIGA-Demonstrationen richtet sich übrigens nach meiner Ferndiagnose vor allem gegen die Medien.” Diese Demonstrationen sind nur ein Ventil, ein emotionaler Stauabbau, mehr nicht. Für alles, was in den letzten 15 Jahren durch neoliberale Poltik falsch gemacht wurde, HartzIV, Rentenkürzungen, globaler Sozialabbau, Beschneidung von Arbeitnehmerrechten, Finanzkrise, Umweltzerstörung, die Liste lässt sich beliebig fortführen. Kein Poltiker hat mehr den Mut unbequeme Fragen halbwegs realistisch und wahrheitsfindend zu beantworten. Der vorbildliche Sozialstaat BRD wurde durch die neoliberale Poltik unter Schröder, später unter Merkel, in ein ein potentielles Armenhaus reformiert. Und deswegen gehen Bürger auf die Straße und brüllen ihren Frust heraus, einfach um etwas aus ihren Inneren loszuwerden. Ich sehe darin auch keinen produktiven Sinn, aber ich kann den Frust gut nachvollziehen. Der Mensch braucht zum Leben eine Perspektive, einen Sinn, eine Hoffnung. Sich um die großen Probleme in der Welt zu drehen, ist eine schöne Sache, aber das eigene Volk mit den Sorgen und Nöten nicht mehr wahrnehmen zu wollen, das ist eine Negation der Realität. So etwas habe ich vor 26 Jahren schon einmal kennenlernen dürfen.

Markus Hahn / 02.01.2015

Herr Lengsfeld moniert Majestätsbeleidigung, scheint mir. Diffamiert man Menschen, die friedlich demonstrieren, partei- und medienübergreifend wahlweise als Nagetiere (die Formulierung der Kanzlerin spielt ja wohl auch auf den Rattenfänger an) oder dämonisiert sie als Kryptofaschisten, ist das Ausdruck von Zivilcourage. Weist man auf die bedenkliche Tendenz hin, dass ein grosser Teil der Medien und der Parteipolitiker anscheinend des Kontakts zur Lebensrealität der Bürger verlustig gegangen sind und die, deren Interessen sie eigentlich zu vertreten haben, auch noch verleumden, ist das Wutjournalismus. Herr Lengsfeld, wie wäre es, wenn Sie sich einmal klar inhaltlich zu den konkreten Pegida-Forderungen positionieren würden?

Rudolf Borrmann / 02.01.2015

Sehr geehrter Herr Lengsfeld, viele Aspekte Ihres Beitrags sind durchaus vertretbar. Und was die in Sippenhaftnahme angeht, das ging tatsächlich m.E. am Ziel vorbei. In einem teile ich Ihre Ansichten jedoch mit Nachdruck nicht: Genau dieses opportunistische Verhalten, was die Kanzlerin in ihrem Werdegang in der DDR praktizierte, bestimmt mit das Übel der DDR. Dieses Handeln der sogenannten “Intelligenz” zum eigenen Vorteil (Mitläufertum) war weit verbreitet und hat die DDR in ihrem Dasein gestärkt, wenn nicht gar erst so lange möglich gemacht. Ob Ihre Empfehlungen an die Achse Wirkung zeigen? Hoffentlich nicht. Mit freundlichen Grüßen R. B.

Weitere anzeigen Leserbrief schreiben:

Leserbrief schreiben

Leserbriefe können nur am Erscheinungstag des Artikel eingereicht werden. Die Zahl der veröffentlichten Leserzuschriften ist auf 50 pro Artikel begrenzt. An Wochenenden kann es zu Verzögerungen beim Erscheinen von Leserbriefen kommen. Wir bitten um Ihr Verständnis.

Verwandte Themen
Philipp Lengsfeld, Gastautor / 26.02.2022 / 15:00 / 22

Xi, Putin, Harris: Erleuchtung nach Dirk Rossmann

Dirk Rossmanns Buch „Der neunte Arm des Oktopus“ ist eine durchaus unterhaltsame und lesenswerte Klimaweltrettungsschnurre des Drogerie-Königs. Vor allem ist es ein wirklich tolles Abbild…/ mehr

Philipp Lengsfeld, Gastautor / 12.01.2017 / 09:00 / 3

Affäre Andrej Holm: Da war doch noch was

Von Philipp Lengsfeld. Eigentlich sind alle die Affäre um den Berliner Bau-Staatsekretär Andrej Holm leid. Denn der Rücktritt, respektive die Entlassung hätte schon längst vollzogen…/ mehr

Philipp Lengsfeld, Gastautor / 18.02.2013 / 11:07 / 0

Katja Kipping beleidigt die Ostdeutschen

Philipp Lengsfeld Liebe Katja Kipping, (bitte verzeihen Sie mir als Mitostdeutschem und dem leicht Älteren die etwas informellere Anrede) mit Entsetzen und ja auch einer…/ mehr

Philipp Lengsfeld, Gastautor / 12.03.2012 / 12:36 / 0

Amtsbrüder und -schwestern unter sich: Diese Art von Klein-Klein schadet Ostdeutschland

Von Philipp Lengsfeld Elf halbwegs prominente Ostdeutsche stellen sich gegen Joachim Gauck und provozieren damit die gewünschte Schlagzeile ‘Bürgerrechtler kritisieren Gauck’ (z.B. Taz vom 8.…/ mehr

Unsere Liste der Guten

Ob als Klimaleugner, Klugscheißer oder Betonköpfe tituliert, die Autoren der Achse des Guten lassen sich nicht darin beirren, mit unabhängigem Denken dem Mainstream der Angepassten etwas entgegenzusetzen. Wer macht mit? Hier
Autoren

Unerhört!

Warum senken so viele Menschen die Stimme, wenn sie ihre Meinung sagen? Wo darf in unserer bunten Republik noch bunt gedacht werden? Hier
Achgut.com