Philipp Lengsfeld, Gastautor / 18.02.2013 / 11:07 / 0 / Seite ausdrucken

Katja Kipping beleidigt die Ostdeutschen

Philipp Lengsfeld

Liebe Katja Kipping,
(bitte verzeihen Sie mir als Mitostdeutschem und dem leicht Älteren die etwas informellere Anrede)

mit Entsetzen und ja auch einer gewissen Wut habe ich gelesen, dass Sie in den Ermittlungen der Staatsanwaltschaft Hamburg bezüglich einer möglichen eidesstattlichen Falschaussage von Gregor Gysi von einer ‚Kampagne, die im Osten nicht verfangen wird’ reden und sich gar zu der folgenden Aussage versteigen: “Viele Menschen hier haben es einfach satt, dass ohne jede Ahnung vom Alltag in der DDR Urteile über ihr Leben gefällt werden.”(beide Aussagen aus TA vom 12. Februar 2013).

Bei allem Respekt: Ist es nicht vielmehr so, dass Sie ‚ohne jede Ahnung vom Alltag in der DDR’ Urteile über Ostdeutsche fällen? Als Jahrgang 78 haben Sie das Privileg, das DDR-System nur bis zum zarten Kindesalter erlebt zu haben (zum Zeitpunkt des Zusammenbruchs des SED-Systems waren Sie noch keine 12 Jahre alt). Jetzt bin ich nur wenige Jahre älter (Jg. 1972), trotzdem kann Ihnen versichern, dass man in diesen Jahren schon einiges mehr vom DDR-System mitbekommen hat: Mehr oder weniger freiwillige FDJ-Aufnahme und Jugendweihe mit 14, massiver Leistungs- und Anpasssungsdruck um einen gegehrten Abiturplatz oder eine gute Lehrstelle zu bekommen (8/9/10-te Klasse). Wehrunterricht, Wehrlager und als Mann 3-jähriger Wehrdienst um einen Studienplatz zu bekommen (dieser Kelch ging an mir dann glücklicherweise schon vorbei).

Mit welchem Recht urteilen Sie also über die Biographien von Ostdeutschen? Ist Ihnen nicht klar, dass in der Anschuldigung, die Diskussion über Gregor Gysis Biographie wäre eine ‚Kampagne’ mit der ‚Urteile über das Leben von Ostdeutschen gefällt’ werden, eine ganz schlimme Unterstellung mitschwingt? Durch Ihre Verteidigung wird doch geradezu so getan, als ob die DDR-Bevölkerung nur aus Spitzeln und SED-Karrieristen bestand. Das Gegenteil ist richtig. Trotz eines riesigen Überwachungsapparats waren die Mehrheit der Ostdeutschen eben keine Spitzel. Oder sie haben sich aus eigener Kraft wieder aus den Fängen des MfS befreit, in die sie z.B. in ihrer Jugend geraten waren. Und es ist auch nicht so, dass die Mehrheit der Ostdeutschen Unterstützer des SED-Regimes waren oder gar Mitglieder der SED. Auch hier ist das Gegenteil richtig – entgegen aller propagandistischen Bemühungen und sozialer Wohltaten (die die DDR ruiniert haben) ist das SED-Regime zu keinem Zeitpunkt vom Volk mehrheitlich akzeptiert worden. Muss ich Ihnen die historischen Meilensteine aufzählen: Stalinistischer Terror als Geburtshelfer der Staatsgründung, gewaltsame Niederschlagung des Volksaufstands 1953, Mauerbau 1961 um die anhaltende Fluchtwelle zu stoppen, breitgefächerter Protest der Künstler und umfangreiche Emigration in Folge der Biermannausweisung 1976 und schließlich zunehmende Opposition unter dem Dach der evangelischen Kirche in den 80-ziger Jahren und friedlicher Umsturz des SED-Regimes im Herbst 1989 durch die übergroße Mehrheit der Bevölkerung?

Der Versuch das DDR-System und die DDR-Bevölkerung aneinanderzuketten ist doch der eigentliche Skandal! Eine Verurteilung der DDR-Diktatur ist eben keine Verurteilung ostdeutscher Biographien. Da war die Linkspartei auch mehrheitlich schon mal deutlich weiter. Muss ich Ihnen erklären, dass es die DDR-Bevölkerung war, die unter einem System ohne echte Meinungsfreiheit, Pressefreiheit, Versammlungsfreiheit, Reisefreiheit, Freiheit der Berufswahl, Vereinsfreiheit, Religionsfreiheit und Kunstfreiheit (Aufzählung nicht vollzählig), ohne echte demokratische Teilhabe und Einflussnahme oder Möglichkeit der freien unternehmerischen Entfaltung leben musste? Es ist deshalb eine bare Selbstverständlichkeit, dass die führenden Funktionäre und Verantwortungsträger und eben auch die wirklich schlimmen Spitzel politisch und teilweise juristisch zur Verantwortung gezogen wurden und werden. Dies ist selbstverständlich insbesondere durch die Ostdeutschen selber getan worden. Und so sind auch sehr viele der vehementen Kritiker von Gregor Gysi Ostdeutsche. Und genau hier werde ich wütend: Obwohl Sie nominell eine Attacke auf Westdeutsche fahren, greifen Sie eigentlich die Ihnen politisch nicht genehmen Meinungen von Ostdeutschen an! Ich finde dies unerträglich und fordere Sie hiermit auf, diese ungeheuerlichen Vorwürfe zurückzunehmen.

Und zum guten Schluss noch ein Wort zu Ihrem Hoffnungsträger Gregor Gysi. Ich kann verstehen, dass in der Linkspartei Panik herrscht, da offenbar die Personaldecke Ihrer Partei so dünn ist, dass Sie seit 24 Jahren den immergleichen Hoffnungsträger nach vorne stellen. Gregor Gysi ist momentan ihr Garant für den Wiedereinzug in den Bundestag, der nur über den Gewinn des dritten Direktmandats in Treptow-Köpenick durch Gregor Gysi wirklich sicher ist. Damit hängt auch Ihr eigener Job als MdB an Gregor Gysi. Soweit, so menschlich.

Aber Gregor Gysi ist wirklich kein Repräsentant typischer ostdeutscher Biographien (eine Bewertung seiner Nachwendezeit spare ich mir). Gregor Gysi ist als Sohn eines SED-Funktionärs (u.a. Botschafter, Minister und Staatssekretär) als Teil der privilegierten SED-Nomenklatur aufgewachsen (zu DDR-Zeiten nannte man dies gerne ‚Bonzen-Kind’). Er selber war ein klassischer SED-Karrierist: Parteimitglied mit 21, steile Karriere im Justizapparat, neben Medien und Verteidigung/Sicherheit das Berufsfeld mit der größten geforderten Staats- und SED-Nähe. Mitglied des sehr kleinen, exklusiven Kreises der Westreisekader (Gregor Gysi reiste vor dem Mauerfall Ende der 80-ziger regelmäßig in den Westen). Und einer der wenigen SED-ler, denen sogar Interviews in der Westpresse genehmigt wurden (das entsprechende Spiegelinterview aus dem Jahr 1989 scheint ja der Anlass für die Ermittlungen in Hamburg zu sein). Dass Gregor Gysi vor dem Mauerfall also auf Seiten des SED-Regimes stand, ist völlig unstrittig und wird ja auch von Gregor Gysi nicht wirklich anders dargestellt. Deshalb ist für mich die Frage über Charakter und Intensität einer Zusammenarbeit mit dem MfS fast nachrangig. Trotzdem hat der Immunitätsausschuss des Deutschen Bundestages dazu schon 1998 eine abschließende Einschätzung abgegeben, die auch heute noch so gilt – der Immunitätsausschuss hat 1998 eine “inoffizielle Tätigkeit des Abgeordneten Dr. Gregor Gysis für das Ministerium für Staatssicherheit der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik als erwiesen festgestellt”.

Trotzdem hat Gregor Gysi es über die 24 Jahre in der bundesdeutschen Öffentlichkeit versäumt mit seiner Vergangenheit und seinem Gewissen reinen Tisch zu machen. Stattdessen hat er diverse Medien und Einzelpersonen in rechtliche Auseinandersetzungen verstrickt, bei denen er auch eidesstattliche Erklärungen einsetzte. Jetzt fällt ihm diese aggressive Verteidigungsstrategie vielleicht auf die Füße. Und es ist schon eine Ironie der Geschichte, dass die Linkspartei jetzt darüber schäumt, dass es ein rechtliches Verfahren gibt, obwohl man sonst die vermeintlichen juristischen Erfolge immer triumphierend zur Verteidigung Gysis ins Feld geführt hat. Warten wir doch einfach ab, was in Hamburg passiert. Eines dürfte wohl klar sein: Einem wegen eidesstattlicher Falschaussage verurteilten Politiker wird auch die Linkspartei auch mit der abstrusesten Verteidigungsstrategie nicht halten können. Und dies sollten Sie sich auch klar machen: Wenn Sie Ihre Worte nicht abmildern, ketten Sie Ihr eigenes politisches Schicksal an das von Gregor Gysi. Ich würde mir dies an Ihrer Stelle noch mal ernsthaft überlegen. Gregor Gysi ist jetzt im Rentenalter – er hat seinen politischen Zenit in jedem Falle überschritten. Ostdeutschland und selbst die Linkspartei brauchen ihn nicht – es wäre strategisch wesentlich klüger für Sie sich rechtzeitig zu distanzieren.

Mit freundlichen Grüßen,


Philipp Lengsfeld

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