Alexander Wendt / 26.12.2018 / 06:29 / Foto: Frank Vincentz / 17 / Seite ausdrucken

Warum wir von Drogen nicht loskommen

Jeder Drogenkonsum beruht auf einem Gegengeschäft. Wer sich darauf einlässt, der bietet eine selbstverständliche Funktion seines Körpers – selbstverständlich jedenfalls, falls sich alles dort in gutem Zustand befindet – um eine außergewöhnliche Fähigkeit einzutauschen. Ein gutes Hautbild beispielsweise kann zum Tauschobjekt werden, eine unproblematische Leberfunktion, ein zuverlässiges Gedächtnis. Möglicherweise auch Lebenszeit. Unter Umständen das Leben.

Derjenige, der sich auf den Tausch einlässt, verliert nicht immer. Aber wer Handel treibt, muss bereit sein, sich von etwas zu trennen, was ihm teuer ist. Im Gegenzug bekommt er etwas Großartiges: die Fähigkeit, über die Grenze des Normalbewusstseins zu treten. Einen Halbgottstatus ohne Müdigkeit, Hunger, Schmerz und Kränkung. Wer Drogen nimmt, der tritt als größerer, freierer, fähigerer Avatar seiner eigenen Person aus sich heraus. Es handelt sich um Geben und Nehmen, mal mit Gewinn, mal mit Verlust, aber immer ohne Chance, das Geschäft wieder auf null zu stellen. 

Unversehrtheit geben, Fähigkeiten im Gegenzug erhalten, das bildet den Kern etlicher sehr alter Erzählungen. Teresias wechselt sein Geschlecht und verrät unvorsichtigerweise seine Beobachtungen, die er dabei macht. Das kostet ihn zur Strafe sein Augenlicht. Zum Ausgleich bekommt er prophetische Fähigkeiten. Odin opfert ein Auge – immerhin nur eins –, um sich Welterkenntnis zu verschaffen. Als Kind springt der mit fantastischen Kräften ausgestattete indische Affengott Hanuman von der Erde zur Sonne, verbrennt in ihrer Nähe zu Asche, die Asche regnet auf Kontinente und Ozeane herab. Verwandte Götter sammeln seine Überreste auf, einer fügt sie wieder zu einem lebendigen Wesen zusammen. Aber trotz des großen Aufgebots der Mächte gelingt es nicht, einen Teil seines Kieferknochens wiederzufinden. Hanuman zahlt also im Nachhinein für seinen kosmischen Flug doppelt; einmal mit einem Akt der Selbstverbrennung, und nach seiner Auferstehung, die er einem Akt kollegialer Freundlichkeit verdankt, mit einem Stück seines Körpers. 

Er zahlt seinen Preis mit Haut und Haaren

Eine besondere Erzählung mit einem luziden Blick auf kommende Jahrhunderte gibt es über Li Tieguai, einen der acht Unsterblichen im daoistischen Pantheon. Als Schüler von Laotse verdient er sich durch seine Tugendhaftigkeit die Anerkennung seines Lehrers, der ihn mit einer weißen Pille belohnt. Sie nimmt ihm für immer das Hungergefühl und garantiert ihm ewige Gesundheit. Eine zweite Pille aus der Hand des Meisters schenkt ihm die Fähigkeit, schnell durch die Lüfte zu fliegen. Dafür zahlt er seinen Preis buchstäblich mit Haut und Haaren. Li begibt sich auf eine Reise zu anderen Unsterblichen, um mit ihnen eine Art Symposium im Himmel abzuhalten. Zu diesem Zweck fliegt der Meister nur als Seele oder als Energie oder als reines Netz seiner Gedanken – wie immer man Körperlosigkeit sehen möchte. Die Hülle gibt er in die Obhut seines Schülers Li Quing. Ihm schärft er ein, sie sieben Tage zu bewachen, sie aber zu verbrennen für den Fall, dass er nach Ablauf der Frist nicht zurückkehren sollte. Nach sechseinhalb Tagen erhält Li Quing die Nachricht, seine Mutter liege im Sterben, er eilt zu ihr und äschert Li Tieguais irdischen Teil vorzeitig ein. Dem pünktlich zurückgekehrten Meister bleibt nur ein Weg, um als Mensch weiterzuleben, er fährt in den Körper eines verkrüppelten Bettlers, der gerade vor seinem Haus an Hunger stirbt. In dieser Gestalt muss er bleiben, aus ihm wird der Schutzpatron der Armen und Siechen, ausgerüstet mit seinem Wissen und einer eisernen Krücke, an der ihn fortan jeder erkennt. 

Die Präzision dieser Sage ist beachtlich, nicht nur, weil eine weiße Pille in einer Erzählung aus dem 13. oder 14. Jahrhundert extrem futuristisch wirkt. Der Legende nach lebte Li Tieguai in der Yuan-Dynastie, die von 1271 bis 1368 dauerte. Die Stoffe aus Laotses Drogenkästchen wirken exakt so wie Opioide (Opiumtinktur gab es in China schon zu Lis Zeiten) und Jahrhunderte später synthetische Drogen. Sie unterdrücken Hunger und Schmerz, sie geben dem Benutzer das Gefühl der Unverwundbarkeit, im Gehirn entsteht bisweilen das Gefühl, fliegen und außerhalb seines Körpers reisen zu können.

Auf der einen Seite die Freiheit, als Halbgott zu leben, auf der anderen die Verkrüppelung des Körpers – eine bessere Geschichte des Tauschs lässt sich unter den Legenden kaum finden. All diesen alten Erzählungen ist eins gemeinsam, nämlich die nirgends infrage gestellte Bedingung, dass jemand zahlen muss, wenn er über seine Grenze hinauskommen will.

Der Erwerb außergewöhnlicher weltlicher Fähigkeiten beruht übrigens auf dem gleichen Prinzip. Peter Schlemihl muss seinen Schatten geben, um grenzenlosen Reichtum zu erhalten, Tim Thaler sein Lachen für die Garantie, jede Wette zu gewinnen. In jedem Fall bieten keine Menschen den Tausch an, sondern fallweise Götter oder der Teufel. 

Unter den mythologischen Schichten von Griechenland bis China steckt noch eine grundsätzliche Frage: Könnte es sein, dass die Wünsche nach Freiheit von Beschränkungen wie Schmerz, nach Unverwundbarkeit, nach dem Herumspielen an der eigenen Standardeinstellung so ursprünglich und elementar sind, dass Narkotika zum Gehirn also passen wie ein Schlüssel zum Schloss? Dass Menschen und Drogen ein System bilden? 

Auszug aus dem Buch Kristall. Eine Reise in die Drogenwelt des 21. Jahrhunderts von Alexander Wendt.

Foto: Frank Vincentz CC BY-SA 3.0 via Wikimedia Commons

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armin wacker / 26.12.2018

Ich hatte MIT zwanzig einen Bandscheibenvorfall und zweiundzwanzig Jahre Gallenkoliken. Die wenigsten wissen wovon ich rede. Aber eins kann ich sagen die haerteste Droge, die der Mensch freisetzen kann ist durch Schmerz.

Gabriele Schulze / 26.12.2018

Leute, die auf irgendwas “drauf” sind, mögen ja biochemisch bedingt interessante Erfahrungen machen. Für mich als Nichtzugedröhnte waren sie in solchen Zuständen nach anfänglicher Faszination einfach nur gnadenlos langweilig. Egozentrik und Monothematik hoch 20. Not interesting.

Mike Loewe / 26.12.2018

Einige grundsätzliche Überlegungen lassen sich anstellen, auch ohne ein Spezialist auf dem Gebiet zu sein. Unsere Sinneseindrücke sichern unser Überleben. Gutes Gefühl bedeutet optimale Bedingungen, schlechtes Gefühl treibt das Individuum dazu, sich in eine Situation besserer Lebensbedingungen zu bringen. Drogen verändern die Sinneseindrücke chemisch in einer Weise, die trotz schlechter Bedingungen gute Gefühle vorgaukelt. Heroinabhängige berichten zum Beispiel, der Rausch fühle sich an wie eine Art dauerhafter Orgasmus. Drogen sind eine von der Natur nicht vorgesehene Abkürzung, zu einem guten Gefühl zu gelangen, ohne seine Bedingungen verbessert zu haben. Dass das grundsätzlich nicht gesund sein kann, versteht sich von selbst. Nun gibt es Drogen, die in der freien Natur vorkommen, zum Beispiel Alkohol in überreifen Früchten, die auch seit eh und je von Tieren konsumiert werden. Da wir durch die Evolution an Alkoholkonsum in gewisser Weise angepasst sein dürften, ist Alkohol (in Maßen genossen) eine der natürlichsten Drogen überhaupt. Religionen, die Alkoholkonsum strikt verbieten, sind dementsprechend weltfremd und unmenschlich. Von künstlichen, also sehr stark veränderten Drogen, sollte man dagegen besser die Finger lassen.

Wolfgang Kaufmann / 26.12.2018

Drogen erfordern normalerweise eine immer größere Dosis bei immer kleinerem Ertrag; den Ruin von Körper und Geist bezahlen am Ende meist Angehörige oder alle Versicherten. Doch wer die Scham verliert, seine „Linien“ und seinen „Ischias“ offen auslebt, hat jede Bodenhaftung verloren und wird auch niemandem seine Jungfrauen neiden. Welch dekadente Elite nähren wir da von unseren Steuergeldern…

A.S. Sawa / 26.12.2018

Stimmt schon, man kann sich per Meditation auch einen Dachschaden antrainieren. Es geht nicht darum, “jemanden heuchlerisch zu verurteilen”, sondern aufzuklaeren worauf er sich einlaesst.( ein bestimmter Hustensaft war schon in den 70er Jahren unter Junkies gefragt, gegen cold Turkey) Zu meiner Zeit war Bewusstseinserweiterung das Zauberwort und das glaubt man auch gefunden zu haben,den gewissen Durchblick, ohne zu wissen durch Was eigentlich? Den “Halbgottstatus ohne Müdigkeit, Hunger, Schmerz und Kränkung” erreichen sie am besten durch Kokain - bis sie irgendwann vor Paranoia zusammenzucken sobald Jemand im Hausflur eine Tuer oeffnet.Verbote helfen natuerlich nicht weiter, weil sie eine offene Dskussion verhindern. Echte Aufklaerung aber waere noetig und Herr Wendt koennte sich eventuell mal daran beteiligen - in zwanzig Jahren….

Sebastian Beyer / 26.12.2018

Ich habe heute früh eine Tasse Kaffee getrunken und eine Zigarrette geraucht. Früher trank ich Tee als Aufputschmittel, aber aus Faulheit wurde ich Kaffeetrinker. In einigen Tagen werde ich Alkohol trinken. Letzten Monat war ich erkältet und nahm Codein gegen den Husten, das im Körper in Morphin umgewandelt wird, und erst dann wirkt. Ich konsumiere also ganz selbstverständlich Aufputschmittel, die mir die Fähigkeiten eines Halbgotts verleihen, sowie drei hochgradig suchterzeugende Substanzen, von denen Eine deliriöse Zustände hervorruft, die Zweite Andere Angst und Schmerzen hervorruft, während die Dritte eine höhere Abhängigenquote als Heroin hat. Vielleicht sollte man mal damit anfangen, Drogenkonsum als Normalität zu betrachten, und aufhören, sich daran zu stören. Ich würde mir jedenfalls ganz schön heuchlerisch vorkommen, wenn ich jemanden verurteilen würde, weil er illegale Drogen nimmt. Meiner Erfahrung nach sind diejenigen, die “drogeninduziert” abstürzen schon kaputt gewesen, bevor sie das erste Mal Drogen konsumiert haben, und wären aus anderen Gründen abgestürzt, wenn es keinen Schwarzmarkt gäbe. Manche Menschen stürzen einfach ab, weil sie kaputt sind. Dass man daraus schließt, man müsse im Zuge der “Volksgesundheit” die Freiheit derjenigen, die nicht abstürzen, ausgiebigst und mit Gewalt beschränken, und zudem noch einen Schwarzmarkt schaffen, zu dessen Nebeneffekten Terrorismusfinanzierung und Zwangsprostitution von Kindern gehören, halte ich für ziemlich bedenklich.

Heiner Selassi / 26.12.2018

Der Mensch, der mehr ist als bloße Biochemie, sucht die Entgrenzung aus der materiellen Ebene des Daseins. Er möchte das Mehr, das Sprituelle, ergründen u. kann dies mit Drogen schneller erreichen als mit Meditation. Dafür zahlt er den Preis d. Nebenwirkung. Alltagsdrogen fungieren als Flucht vor dem täglichen Einerlei, das immer spezialisierter, profaner wird. Die Entfremdungsmaschinerie befördert diesen Drogenkonsum um durchzuhalten. Zur Freude des Staates u. der Hersteller. Verdienen u. Ausbeuten laufen wie geschmiert.  

Martin Wessner / 26.12.2018

Tja, am Besten wird es wohl sein, man lebt stattdessen in Askese und entsagt sich aller Gelüste. Keine Unterhaltung, wie bsw. Fernsehen, Kino, Radio oder Konzertbesuch, kein lecker Essen und Trinken sondern nur Haferschleim mit Brandt-Zwieback und warmen Leitungswasser, keine Frau oder ein Mann oder auch ein\e Transgender(je nach Orientierung) und selbstverständlich keeeine Macht deeen Droooogen. Stattdessen nur schaffe, schaffe und Spitzensteuerli zahle, damit man sich auf Erden schon mal an die freud- und trostlosen Zustände im körperlosen Leben nach dem Tod mental gewöhnen kann. Ansonsten wünsche ich allen noch trübsinnige, rauschfreie Weihnachtsfeiertage. :-(((

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