Alexander Wendt / 16.10.2015 / 10:00 / 2 / Seite ausdrucken

“Wir schaffen das” - ein Dejà-vu

Es ist kein größeres Problem, eine bis eineinhalb Millionen Einwanderer unterzubringen. Die Neuankömmlinge kommen schnell in Arbeit, füllen die Steuerkassen, erledigen unser demografisches Problem; nicht so Qualifizierte werden geschult - der weltweite Elends- und Flüchtlingsstrom, so muss man die Reden der Regierenden deuten, ist im Grunde ein Segen für Deutschland. Zweifellos ein Großprojekt, aber eins, das gelingt,wenn alle nur wollen und anpacken. Ganz ungewohnt ist die Rhetorik der Selbstbegeisterung nicht. Auch die Energiewende wurde so aufs Gleis gesetzt, begleitet von Studien und Prognosen, die den Bürgern vor allem die Angst vor den Kosten nehmen sollten.

Deshalb ist es jetzt an der Zeit, noch einmal den Blick auf die schönsten Soundbites und Versicherungen von damals zu werfen.

Bundesumweltminister Jürgen Trittin 2004:

„Es bleibt dabei, dass die Förderung der erneuerbaren Energien einen durchschnittlichen Haushalt nur rund einen Euro pro Monat kosten – so viel wie eine Kugel Eis.“

Das Bundesumweltministerium unter Sigmar Gabriel 2005:

„Der Anstieg der Ökostrom-Umlage nimmt in Zukunft ab und wird den Durchschnittshaushalt selbst bei sehr dynamischem Ausbau nicht mehr als drei Euro im Monat kosten. Ab Mitte des nächsten Jahrzehnts geht die EEG-Umlage wieder zurück.“

Claudia Kemfert, Thure Traber und Jochen Diekmann vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung 2011:

„Obwohl sich die Stromerzeugung aus erneuerbaren Energien bis 2020 mehr als verdoppelt, wird die EEG-Umlage als Bestandteil des Verbraucherpreises dann mit real 3,64 Cent pro Kilowattstunde nur wenig höher sein als gegenwärtig.“

Angela Merkel 2011:

„Die EEG-Umlage soll nicht über ihre heutige Größenordnung hinaus steigen; heute liegt sie bei 3,5 Cent pro Kilowattstunde.“

Norbert Röttgen 2011:

„Es wird Faktoren geben, die preiserhöhend wirken, und Faktoren, die preissenkend sind. Das wird sich alles sehr moderat verhalten.“

Zum 1. Januar 2016 steigt die Ökostromumlage von gegenwärtig 6,17 auf 6,35 Cent pro Kilowattstunde und damit auf einen historischen Höchststand. Experten rechnen mit einem Anstieg auf acht Cent bis 2020. Daneben klettern auch die Netzgebühren kräftig. Die Summe, die von den Verbrauchern entweder schon für die Ökostromsubvention gezahlt oder in Zahlungsverpflichtungen festgeschrieben wurde, überstieg 2015 deutlich die 400 Milliarden Euro. Dafür tragen die erneuerbaren Energien heute etwa drei Prozent zur Gesamtenergieerzeugung in Deutschland bei. Deutschlands Kohlendioxidausstoß sank nur marginal; die Zahl der so genannten grünen Jobs fällt dafür seit 2013. In diesem Jahr investierte die energieintensive chemische Industrie erstmals seit langem mehr im Ausland als in Deutschland. Der deutsche Industriestrompreis liegt heute 19 Prozent über dem Schnitt der Europäischen Union.

Jürgen Trittin, Sigmar Gabriel und Angela Merkel halten die Energiewende auch heute noch für ein Erfolgsprojekt,das wir alle auch weiter schaffen. Es darf eben nur nicht schlechtgeredet werden.

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Bernd Manz / 16.10.2015

Herr Wendt! Wie kann man nur so einen Unsinn zur Energiepolitik und zur “Energiewende” schreiben? Bin weder Grün-Parteigänger, noch Öko-Idealist, noch Mittelstandslobbyist, noch wegen “Teuer-Strom” leidender Jammerbürger, noch doof gemacht im Kopf von der Hirnwäsche der Energiekonzernlobby und der Generationen von ihr kräftig angetriebenen deutschen Energiepolitik(erInnen). Bin bzw. war in der Branche, handwerklich, war als Ein-Mann-Selbständiger Solarstromtechniker, im Hauptberuf fachlich und existentiell mit der Erneuerbaren-Materie, der Technik, den Marktbedingungen, mit der Politik, mit den Medienkampagnen, mit den Kunden- und “Bürger"fragen, etc. professionell befaßt, und “nebenbei” einigermaßen selbständig denkend geblieben. Beruflich leider nur bis zum erzwungenen Aus meiner Kleinfirma letztes Jahr kurz nach dem Inkrafttreten des branchenkillenden letzten EEG 2014, in bester Gesellschaft mit zahllosen anderen Klein- und Großunternehmen in D und den mit ihnen vernichteten 100000 Jobs in der Solar-Energie-Branche. (Jobs, die sie ja simpel abtun in einem ihrer Traktate als etwa “bloße grüne Propaganda-Hirnschlösser…” - danke auch für diese tiefen Analysen!) Als eine der größten Verdrehungen und Meinungsmache-Strategien der Energiekonzern-Lobby stach jedem Sehbegabten schon seit Jahren die interessengeleitete Interpretation der in ihrem Artikel thematisierten Strompreisdynamik durch die Vorgaben des EEG und der damit verbundenen Energiemarkt-Mechanismen ins Auge. Wie können sie diese Dinge so populistisch vereinfacht auf einen Aspekt beschränken, um dann auch noch Parallelen zu ziehen zur “Flüchtlingspolitik”? Was hat dieser Artikel überhaupt unter dieser Rubrik zu suchen, da ja null relevante Aussage bietend zum Thema? Und wenn schon sowas zur Energiepolitik hier hin mußte: Kann es nicht auch so sein, daß die sog. Energiewende von CDU-SPD (“Atomausstieg” inkl.) neben Partei- und Wählerpolitischen Zwängen und anderen Widersprüchen auch nie ganz ernst gewollt war und real wieder rückabgewickelt wird mit jedem EEG-Update? Kann es sein, daß auch sie in diesem Spiel ihr liberales Süppchen kochen, zumindest um ihre Ideen und Bücher gut zu verkaufen, auch wenn deren Kontakt mit den Fakten der widersprüchlichen Realität zur Ratz-Fatz-Verdampfung führt wie der AKW-Reaktor bei der Kernschmelze? Kann es sein, daß ich mich weniger ärgern würde, wenn sowas besser weiterhin in den markt- und meinungs-machenden wie -konformen Mainstream-Medien zu finden wäre wie Focus, Wirtschaftswoche, Stern, Tagesspiegel,... oder in einem hippen Seminar vor hochkritischen Wirtschaftswissenschftsstudenten…? Fragen über Fragen. Mangels Überzeugungskraft ihrer Argumentation und meiner Verstehversuche an sie ganz schlicht die Frage: Haben sie schon (wie ich unterstelle dann rein nachträglich) schon überlegt, bei RWE/ENBW und Co einen Obulus für die sicher hochwillkommene Schützenhilfe einzufordern? Oder schlicht den Platz hier zu räumen für mit den “Achgut”-Leitgedanken kompatibleren Geistern (... für unabhängiges Denken und für Autorinnen und Autoren, die die Freiheit lieben und die Werte der Aufklärung schätzen, populären Mythen auf den Grund gehen, und skeptisch gegenüber Ideologien sind…!!!?!!!). Sorry für diese Entgleisung, die sich in etwa auf demselben Abstraktionsniveau wie ihr Artikel bewegt. Also würde es auch ein schlichtes “Sorry für meinen Mist” ihrerseits hier tun. Mit skeptischem Gruß Bernd Manz

Max Wedell / 16.10.2015

Erstklassiger Artikel! Vielen Dank! Fragt sich nur, wie später das Scheitern der jeweiligen Experimente erklärt wird… in der Energiewende wird es wohl an der jetzt schon oft unterstellten angeblichen Sabotagehaltung der großen Energieerzeuger hängen bleiben… bei der Armutsimmigration ist absehbar, daß das Scheitern dereinst dem Unwillen der einheimischen Bevölkerung zugeschrieben wird, die Neubürger zu akzeptieren und integrieren. Alles, nur nicht den Wahnsinn der Idee an sich zugeben…

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