Auf dem Weg von meinem Haus im Norden Hamburgs Richtung Elbbrücken und weiter zur Autobahn durchquert man einen Stadtteil, in dem man vielleicht nicht so gut und gerne lebt. Dort im letzten Herbst, an einer Ampel wartend, schweift mein Blick nach rechts und bleibt hängen an einer Litfaßsäule, und zwar an einem von mir unfreiwillig mitfinanzierten Plakat des Hamburger Senats mit der Überschrift: „Vielfalt bereichert“. Abgebildet ist, in einem Rollstuhl sitzend, ein lachender Junge. In dem Moment, ungelogen, überquert auf dem Fußgängerübergang ein Paar die Straße in Richtung Plakat, ein Mittelding zwischen Karre und Rollstuhl schiebend, in dem ein erkennbar schwer oder schwerst mehrfach behindertes älteres Kind halb sitzt, halb liegt. Es wird grün und die Fahrt geht weiter. Dieses Bild aber werde ich seitdem nicht mehr los.
Vielfalt hat zu bereichern!
Bei der späteren Recherche erweist sich das Plakat als Teil der damaligen Senats-Kampagne: „Zeit für Inklusion – Vielfalt bereichert die Stadt“. Abgesehen davon, dass unklar bleibt, was oder wer genau mit Stadt gemeint ist, wird das Thema Behinderung und Inklusion natürlich mit einem für solche Anliegen typischen Rollstuhlmotiv visualisiert – auch wenn das mit der Praxis und ihren Problemen nur wenig zu tun hat. Denn so ein Junge wurde meist schon vor der Inklusionspädagogik in Regelschulen beschult, sofern die baulichen Voraussetzungen dort vorhanden waren.
Das auch vom Hamburger Senat in Anspruch genommene Konzept der Diversität oder Vielfalt wird bekanntlich auf verschiedene Kategorien bezogen, nämlich Kultur oder Ethnie, Religion, Alter, Geschlecht, sexuelle Orientierung und eben Behinderung. Es ist eng verbunden mit dem Kampf gegen entsprechende Diskriminierungen. Im politisch getönten Kontext gilt: Je vielfältiger oder bunter, desto bereichernder. Und das hat das Publikum nicht etwa nur als Möglichkeit zu verstehen, sondern als Imperativ. Es geht also nicht darum, dass mich der Kontakt mit einem behinderten Menschen durchaus auch bereichern kann – und der Autor weiß, worüber er da schreibt –, sondern dass das so zu sein hat.
Allerdings würde man auf Bereicherung durch Behinderung mit gesundem Menschenverstand nicht ohne weiteres kommen. Und die Eltern des schwer behinderten Kindes sicher erst recht nicht. Denn wäre es ganz überwiegend selbstverständlich, sozusagen aus sich selbst heraus erklärend, bräuchte man keine Kampagnen und Propagandaplakate. Wäre die DDR damals tatsächlich auf der ökonomischen Überholspur gewesen, hätte man sich Plakate mit „Der Sozialismus siegt“ oder routinemäßige Floskeln wie „womit abermals die Überlegenheit des wissenschaftlichen Sozialismus bewiesen wäre“ und vielleicht sogar FDJ-Agitpropsekretärinnen sparen können.
Ein geradezu zynischer Diskurs
Beim Thema Behinderung ist die weitgehende Sinnfreiheit einer Bereicherung auf Grund damit vermeintlich zusammenhängender Vielfalt besonders deutlich – außer für Ideologen mit der Fähigkeit, die störende Realität völlig ausblenden zu können. Sie hängen der Überzeugung an, mit der bloßen Veränderung der schulischen Organisationsformen würden sich Behinderungen weitgehend erledigen. Zu Überzeugungen dieser Art gehört oft auch der Glaube, durch neue Begriffsbildungen bzw. Vermeidung von diagnostischen Zuschreibungen auch die Wirklichkeit in ein neues Format bringen zu können, so dass man dann, wenn überhaupt, nur noch von sogenannten Behinderungen spricht. Gerne wird auch noch der Normalitätsbegriff so weit gefasst, dass außerhalb davon praktisch kein Raum mehr bleibt. Man mag es kaum glauben, aber diese Art von Realitätsflucht ist nicht nur linksgrünen Bildungspolitikern eigen, sondern bestimmt in weiten Teilen auch den wissenschaftlichen behindertenpädagogischen Diskurs.
Aber keine Mutter und kein Vater wünscht sich ein behindertes Kind. Kein Erwachsener wünscht sich einen Unfall, um qua Querschnittslähmung und Rollstuhl zunächst sich und dann andere bereichern zu können. Und Eltern, die bei der Überbringung der schlechten Botschaft durch den Kinderarzt beglückt ausrufen: „Super, jetzt wird unsere Familie noch vielfältiger!“ dürften nicht mal in den kühnsten Vorstellungen von Claudia Roth existieren, die sich ansonsten in diesem Video gar nicht mehr einkriegt, wenn es um die bereichernde Wirkung von Buntheit und gesellschaftlicher Vielfalt geht. Aber dass beispielsweise der Lehrkörper in Hamburg und NRW, nachdem man ihm unter der Überschrift Inklusion zusätzlich noch (u.a.) Schüler mit besonders schwierigem Sozialverhalten aufgedrückt hat, das zuvorderst als Bereicherung empfindet, darf man getrost bezweifeln.
Vielfalt und Buntheit haben immer noch Konjunktur
Bereichernde Vielfalt und der dazu oft synonym verwendete Begriff Buntheit sind immer noch schwer angesagt. Man begegnet ihnen sozusagen auf Schritt und Tritt. Die Grünen etwa „stehen für Toleranz, Vielfalt und Selbstbestimmung“, die Bühnengenossenschaft Hamburg „bekennt Farbe für Demokratie, Toleranz und Vielfalt“, die Bundeswehr verpflichtet sich im Weißbuch 2016 nicht etwa zur Steigerung von Abwehrbereitschaft und Kampfkraft, sondern zur „Förderung von Vielfalt“. Auch Kardinal Marx ist in der Welt online mit dabei, wenngleich für den theologischen Halblaien etwas kryptisch: Die Kirche solle zeigen, dass Vielfalt bereichere und “Einheit dann nicht gefährdet ist, wenn alle vom Heiligen Geist her am geistlichen Nutzen der anderen interessiert sind.“ Und ein besonders rühriger Lobbyverband von Landsleuten mit Migrationshintergrund, der sich Neue deutsche Organisationen nennt und deren Vorsitzende Ferda Ataman seit jüngstem und ziemlich schräg bei SpOn kommentiert, entschied sich für das markige Motto „Wer die Vielfalt in Deutschland hinterfragt, ist realitätsblind“.
Haben Sie, lieber Achse-Leser, mitbekommen, dass der Verein Charta der Vielfalt am 5. Juni 2018 bereits den 6. Deutschen Diversity-Tag organisiert hat? Schade, wieder eine Gelegenheit verpasst, Flagge zu zeigen. Ziel des einschlägig gesponserten Vereins ist es, die im Wirtschaftsleben vorhandene Vielfalt von Belegschaft, Kunden und Geschäftspartnern zu erkennen und zu nutzen. In der Rubrik Best Practice wird als Portrait des Monats ein aufwändiges Ausbildungsprojekt der Berliner Wasserbetriebe vorgestellt: Im Januar 2016 startete man mit je sechs „Berlinern“ und „geflüchteten“ Jugendlichen. 2017 waren insgesamt noch sieben dabei, davon zwei „Geflüchtete“. Für den Verein ist das Programm dennoch ein „voller Erfolg“. Vielfalt bereichert eben, egal was dabei tatsächlich rauskommt.
Die mit dem Videoauftritt von Claudia Roth unterstützte Kampagne „So bunt ist Deutschland“ von GoVolunteer wirbt vollmundig: „Wir alle profitieren von der Vielfalt der Menschen und den unterschiedlichen Kulturen und Einflüssen“. Schaut man sich die dazugehörigen Bilder von südländisch wirkenden und tatsächlich ganz entzückenden Kindern an, entsteht allerdings der Verdacht, dass man dort vor allem weiß, wie man gutmeinenden Spendern das Geld aus den Rippen leiert.
Beim Betrachten des Videos mit der freudig-erregt und völlig gaga daherkommenden Frau Roth erlangt man nicht ohne weiteres die Erkenntnis, dass Vielfalt auch – oder vielleicht besser: vor allem – ein politischer Kampfbegriff ist. Da dem linksgrünen Mainstream die einheitliche Ideologie fehlt, seine einzelnen Strömungen sich bestenfalls auf ideologische Versatzstücke berufen (können), kommt dem Vielfalts-Mantra auch die Funktion einer einigenden Klammer zu. Es ist sozusagen das gemeinsame Lagerfeuer, an dem man sich wärmt und sich seiner vergewissert.
Dass dabei nicht alle so euphorisiert daherkommen wie Claudia Roth, liegt in der Natur der Sache. Zumal es natürlich auch hier Mitläufer gibt, denen es vielleicht weniger um die Sache, als vielmehr um den Zugang zu Fördertöpfen geht. Letzteres möchte ich mal im Fall der Deutschen Jugendfeuerwehr annehmen, die unter dem Motto „Vielfalt – Auf geht’s in eine bunte Jugendfeuerwehr“ ein Zeichen setzen will. Man möchte jetzt Jugendliche mit Migrationshintergrund, aber auch „Behinderte“ und „schwierige“ Jugendliche sowie, na klar, Mädchen integrieren. Außerdem wolle man sich deutlich gegen rechtes Gedankengut positionieren. Da kann man den Lesern nur empfehlen, zur Sicherheit demnächst den einschlägigen Versicherungsschutz zu überprüfen.
Vielfalt vs. Einfalt
Es dürfte kein Zufall gewesen sein, dass sich in Deutschland ausnahmsweise weder der angloamerikanische Ausdruck diversity noch das deutsche Pendant Diversität im politisch-kulturellen Kontext anstelle von Vielfalt durchgesetzt haben. Denn beiden fehlt ein griffiges Wort für das Gegenteil. Bei Vielfalt drängt sich dagegen sofort die negativ besetzte Einfalt auf. Vielfalt ist bunt, modern, fortschrittlich. Bei Einfalt – auch wenn das letztlich ein bloß fiktiver Kontrapunkt ist – wird dagegen eher so etwas wie grau, beschränkt, provinziell und rückschrittlich assoziiert.
Die dem Vielfalts-Gedanken innewohnende Annahme einer Dynamik im Sinne von „je mehr, desto besser“ steht auch deshalb auf tönernen Füßen, weil psychisches Empfinden – und darum geht es bei Bereicherung ja wohl auch – nicht unbedingt einem einfachen linearen Modell gehorcht, bei dem ein Zuwachs von x zu einem stetigen Zuwachs von y führt. Dieses schlichte Modell gilt bekanntlich nicht einmal für die Beziehung zwischen Geld und Glück, vielmehr nähert man sich hier erstaunlich rasch einer Glückssättigung. Und nach einem Autokauf steigt der Glückslevel zwar an, hat sich nach zwei Wochen aber meist schon wieder auf das alte Niveau eingependelt. Auch der Bereicherungslevel der Bevölkerung in Abhängigkeit von der Zahl der Eingewanderten in den, sagen wir, vergangenen drei Jahren dürfte eher nicht durch einen steten Anstieg charakterisiert sein.
Null Toleranz gegenüber Abweichlern
Während im wissenschaftlichen (soziologischen) Kontext die Beschäftigung mit Diversität zumindest grundsätzlich die gesamte Gesellschaft und ihre Untergruppen zum Forschungsgegenstand macht, geht Vielfalt im politischen Kontext à priori mit dem Ausschluss bestimmter Gruppen einher. Bloß anzuerkennen, dass die Gesellschaft in den letzten Jahrzehnten tatsächlich vielfältiger geworden ist, dadurch aber vielleicht nicht nur gewonnen hat, reicht als Mitgliedsticket selbstverständlich nicht aus. Auch wenn man beteuert, den §175 wirklich nicht wieder etablieren zu wollen.
Dabei steht der vielzitierte alte, weiße und heterosexuelle Mann bei den Vielfalts-Aposteln selbstverständlich unter Einfalts-Generalverdacht. Kommt er auch noch aus dem Osten, hat er praktisch keine Chance mehr. Es sei denn, als Kapitän eines „Flüchtlingsrettungs“-Schiffs im Mittelmeer, Arzt mit einer Praxis für Gefälligkeitsatteste oder linker Rechtsanwalt, der noch jedem Asylbewerber zur Anerkennung verholfen oder die Abschiebung erspart hat. Aber klar ist: Null Toleranz für Kritik, die irgendwie rechts verortet werden kann. Da wird man ganz schnell zum „Menschenfeind“ erklärt, der aktuellen Variante des Untermenschen.
Man denke in diesem Zusammenhang nur an den Amok nach einem Zeit-Artikel und an das Otterndorfer Preisverleihungsdrama. Über ein weiteres Lehrstück dieser Art in Schleswig-Holstein berichtete kürzlich die FAZ und bereits einen Tag vorher Dr. Frank Brodehl für die AfD-Landtagsfraktion. Die dortige Jamaika-Koalition hatte sich für das Amt eines stellvertretenden Richters am Landesverfassungsgericht auf Vorschlag der CDU bereits auf einen Hamburger Staatsrechtler geeinigt, dann aber kurz vor der Wahl den Vorschlag zurückgezogen. Denn der Jurist hatte doch tatsächlich 2016 ein verfassungsrechtliches Gutachten über schulische Sexualerziehung erstellt, mit dessen Tendenz die Grünen nicht einverstanden waren. Rasmus Andresen, immerhin grüner Landtagsvizepräsident, bezeichnete den Ex-Kandidaten daraufhin als „Sprachrohr von Menschenfeinden und Rechten“.
Sexualität – wer bereichert wen?
Womit wir beim Thema Sexualität und der Frage angelangt sind, warum mich jemand bereichern sollte, nur weil der oder die nicht heterosexuell, sondern anders orientiert ist. Oder bereichere ich den homosexuellen Kosmos durch meine bloße Existenz als Heterosexueller? Gehört Homosexualität vielleicht gar nicht mehr zur Vielfalt, beginnt die erst jenseits davon? Fühlen sich Mitarbeiter eines Unternehmens deshalb bereichert, weil die Personalabteilung in puncto sexueller Orientierung sich angeblich dem Gebot der Vielfalt verpflichtet fühlt? Bereichert, nützt, fördert, hilft oder beglückt es gar, wenn in Hamburg eine Handvoll Menschen sich unsicher sind, ob sie nun besser auf der Herren- oder Damentoilette aufgehoben sind?
Ist die sexuelle Orientierung letztlich nicht Privatsache, wie es ja auch das Grundgesetz sieht? Was auch bedeutet: Die in den letzten Jahrzehnten teils rasante Enttabuisierung der Sexualität kann man sich vernünftigerweise nicht als Endlosspirale vorstellen, nach dem Motto: immer mehr, immer mehr. Bestimmte gesellschaftliche Entwicklungen nähern sich irgendwann einer Grenze. Ähnlich wie das bei der Befreiung der Frau der Fall ist. Das Problem dabei ist allerdings: wohin mit den ganzen Lobbyvereinen, Beauftragten und Gender-Professorinnen?
Wenn der Integrationsmotor stottert
Gegenwärtig ist hierzulande die Königskategorie beim Thema Vielfalt zweifellos Ethnie bzw. Kultur, eigentlich eng verbunden mit dem Thema Religion, was gerne verschwiegen, relativiert oder beschönigt wird. Die laut Wikipedia in Deutschland gegründete „Online-Community für ehrenamtliches Engagement“ GoVolunteer – laut Eigenwerbung als „wichtiger Integrationsmotor“ von der ehemaligen Migrationsbeauftragten Özoguz ausgezeichnet – hat sich in ihrem sehr professionell daherkommenden Auftritt immerhin Gedanken zu Vorteilen ethnisch-kultureller Vielfalt gemacht. Zunächst werden in diesem Zusammenhang, allen Ernstes, positive kulinarische Einflüsse, die Gelegenheit Freunde aus Eritrea oder Finnland (!) zu finden und das Entstehen von komplett neuen Musikrichtungen angeführt.
Dann wird es aber richtig wissenschaftlich, samt Quellenangabe aus Harvard. Aufgelistet werden, bemerkenswerterweise auf Englisch, fünf sogenannte „key benefits“: Immigration – gemeint ist immer die aus möglichst vielen verschiedenen Ländern – (a) macht uns innovativer, (b) führt zu höheren Löhnen bei Einheimischen, da diese sich wegen der zunehmenden Konkurrenz im Niedriglohnsektor besser qualifizieren müssen, (c) vereinfacht die Integration im Vergleich zur Masseneinwanderung aus nur einem Land, (d) verbreitet unsere Werte in den Heimatländern der Migranten und – als Krönung – (e) macht uns offener für eine liberalere Immigrationspolitik. Das Ganze sei damit „a truly virtuous cycle“, also ein moralisch überlegener Kreislauf.
Da macht sich schon mal jemand der Engagierten Gedanken über den Segen von Vielfalt, und es kommt nichts dabei heraus, außer einigen ausgesprochen steilen Thesen, die es kaum wert sind, näher diskutiert zu werden. Auch fällt auf, dass man sich nicht unbedingt an der real erfolgenden Migration orientiert, sondern anders gearteten Idealvorstellungen anhängt. Ohne allerdings die aus dieser Sicht sich aufdrängenden Fehlentwicklungen und deren Probleme zu benennen. Aber dann hätte es natürlich weder öffentliche Gelder noch eine Auszeichnung von Frau Özoguz gegeben.
Völlig unbeantwortet bleibt auch hier die zentrale Frage, wie uns Migranten – wohlgemerkt nicht im Einzel-, sondern im Regelfall – bereichern sollen, die ganz überwiegend aus Staaten und Gesellschaften stammen, die in den letzten Jahrhunderten in puncto Wirtschaft, Kultur und Wissenschaft nichts bis wenig auf die Reihe gekriegt haben. Und aus denen zu allem Überfluss auch noch massenhaft die Ungebildeten und Ungelernten kommen. Und deren Islam, als sei das alles nicht schon genug, vielfach weder die Trennung von Religion und Gesellschaft noch die Gleichheit der Geschlechter kennt oder anerkennt. Da fällt den Buntheitsfanatikern in ihrer Ein- oder Blauäugigkeit dann oft nichts anderes mehr ein, als Burka, Kopftücher und Burkinis kulturell bereichernd zu finden.