Viel Wirbel um Ostpreußen

Während Moskaus Truppen im Donbass vorrücken, hat Litauen ein Transitverbot gegen die Oblast Kaliningrad verhängt. Welche Wirkung hat diese Blockade, und was bringen die Sanktionen gegen Russland überhaupt? 

Nur wenigen Deutschen dürfte noch bewusst sein, dass das Kaliningrader Gebiet, also das nördliche Ostpreußen, mehr als 700 Jahre lang deutsch geprägt war. Wie alle nach Kriegsende verlorenen Reichsprovinzen ist auch Ostpreußen bis heute weitgehend in Vergessenheit geraten. Seine Menschen, deren Kultur und Sprache sind für immer verschwunden. Als der Schriftsteller Erich Hannighofer vor etwa 90 Jahren den Schluss-Choral zu Herbert Brusts berühmtem Ostpreußenlied verfasste, worin er seine Heimat liebevoll als „Land der dunklen Wälder und kristallnen Seen“ beschrieb, war diese Katastrophe noch nicht absehbar.

Vom einstigen Glanz der maritimen Hansemetropole Königsberg, die jahrhundertlang das kulturelle und wirtschaftliche Zentrum des Deutschtums im baltischen Raum gewesen war, ist heute nichts mehr übrig. Exakt vierhundert Jahre nach der 1544 erfolgten Gründung der altehrwürdigen Albertus-Universität, an der noch Immanuel Kant gelehrt hatte, wurde das alte Königsberg für immer vernichtet. Dafür verantwortlich waren zwei Großangriffe, welche die Royal Air Force zwischen dem 26. und 30. August 1944 flog und bis zu 1.000 Tonnen Bomben abwarf. Als die Rote Armee die verbliebenen Ruinen nach wochenlangen Häuserkämpfen schließlich am 9. April 1945 in Besitz nahm, traf sie auf den verbrannten Leichnam der vormals pulsierenden Stadt.   

Die Vertreibung der Deutschen

Stalin hatte die geostrategische Bedeutung Ostpreußens bereits früh erkannt, weshalb er die Annexion seines nördlichen Teils 1943 auf der Konferenz von Teheran durchgesetzt hatte. Demnach sollte die nach Westen expandierende Sowjetunion in der Ostsee einen dauerhaft eisfreien Hafen erhalten, der künftig als Stützpunkt der Baltischen Flotte genutzt werden konnte. Um dieses Ziel zu erreichen, ergriff Moskau drastische Maßnahmen. Am 7. April 1946 wurde per Dekret des Obersten Sowjets die Oblast Königsberg gegründet; ihr Territorium erklärte der Kreml unverzüglich zu militärischem Sperrgebiet; die autochthone deutsche Bevölkerung wurde bis 1947 in die sowjetische Besatzungszone vertrieben und durch Zuwanderer aus Russland ersetzt.

Damit wurden nun Menschen in Ostpreußen angesiedelt, die weder über eine ideelle noch eine kulturelle Beziehung zu einem Land verfügten, das seit dem 13. Jahrhundert deutsch geprägt war. Diese totale Bezugslosigkeit zeigte sich auch am neuen Namen, den Königsberg am 4. Juli 1946 bekam – Kaliningrad. Dass die ostpreußische Hauptstadt ausgerechnet nach dem kommunistischen Revolutionär Michail Iwanowitsch Kalinin (1875–1946) benannt wurde, war eine politische Entscheidung ohne tieferen Sinn. Der aus dem Gouvernement Twer stammende Bauernsohn war von 1923 bis zu seinem Tod im Jahr 1946 Staatsoberhaupt der sowjetischen Diktatur. Er hatte im Gegensatz zu den meisten Bolschewiki der ersten Stunde die großen Säuberungen der 1930er Jahre überlebt. Nach ihm wurden in der ganzen Sowjetunion Städte benannt. In Ostpreußen oder gar Königsberg war Kalinin jedoch nie gewesen. Der deutschen Sprache mächtig war er ebenfalls nicht.

Kjonig 

Nach der formellen Auflösung der Sowjetunion am 31. Dezember 1991 wurde die Oblast Kaliningrad zu einer russischen Exklave, die nur durch eine Bahnverbindung über Litauen mit dem Kernland verbunden war. Diese Isolation hat das Bewusstsein der Bewohner geprägt. Als ich Königsberg in den Jahren 2005 und 2006 mehrfach besuchte, zeigten zahlreiche Russen großes Interesse an der deutschen Vergangenheit ihrer Heimat. Viele von ihnen bezeichneten Kaliningrad im Alltag liebevoll als „König“. Die Reisebusgesellschaft „König Auto“ trägt das Wort bis heute in ihrem Namen, und es gab sogar eine Initiative, die Stadt in Königsberg umzubenennen. Manche meiner Gesprächspartner bekannten indes, dass die Oblast Kaliningrad „eigentlich gar nicht Russland ist.“ „Das hier ist deutsche Erde, und wir wissen das“, lautete ein in solchen Unterhaltungen häufig zu vernehmender Statz, der mir bis heute in Erinnerung geblieben ist.

Ein Bekenntnis zum historischen Erbe des alten Königsbergs hatte auch die Politik formuliert. Seit den mittleren 2000er Jahren bemühte sich die russische Verwaltung, die hanseatische Tradition von Kaliningrad wieder aufleben zu lassen. In diesem Zusammenhang erfolgte beispielsweise der schrittweise Aufbau des alten Fischerdorfs. Dass diese und andere Maßnahmen nichts mit der „Stadt Kalinins“, sondern mit dem preußischen Königsberg zu tun hatten, ist eine Tatsache. Gleiches gilt für den Befund, dass sich die Bewohner der Oblast Kaliningrad nach 1991 immer stärker auch als Europäer verstanden.

Empörung über Litauen

Mit dieser Öffnung nach Westen könnte es bald endgültig vorbei sein. Seit dem 17. Juni 2022 verweigert Litauen Moskau den Transitverkehr von Waren durch sein Staatsgebiet. Dabei beruft es sich auf die geltenden EU-Sanktionen gegen Güter wie Baumaterialien, Metalle und Kohle. Die zwischen der Oblast Kaliningrad und dem Mutterland bestehende Bahnstrecke wurde hierzu geschlossen. In Russland hat die Blockade Empörung und Wut ausgelöst. Auf dem zehnten internationalen Petersburger Justizforum erklärte Dmitrij Medwedjew, die Entscheidung Litauens stehe weder im Einklang mit europäischem Recht noch sei sie von der EU angeordnet worden; daher sei es naheliegend, dass sie entweder „über den Ozean geflogen“ – also von den USA verfügt – oder aber Ausdruck eines russophoben Reflexes der litauischen Regierung sei.

Viel entscheidender als dieser polemische Kommentar jedoch war die Aussage Medwedjews, wonach die Blockade der Oblast Kaliningrad eine Bedrohung Russlands darstellt. Sollte sie Bestand haben, sei man gezwungen, eine Antwort zu finden. Und man werde ein solche dann auch geben. Diese Worte haben bei zahlreichen westlichen Beobachtern Besorgnis über eine etwaige militärische Intervention Russlands im Ostseeraum ausgelöst. Dabei dürften Erinnerungen an die Worte von Kremlsprecher Dmitrij Peskow aus den ersten Kriegswochen wach geworden sein. Peskow hatte damals gesagt, Russland werde gemäß dem geltenden Protokoll der Nuklearstreitkräfte Atomwaffen einsetzen, wenn es unmittelbar bedroht sei. Der weißrussische Diktator Alexander Lukaschenko sprach am 25. Juni 2022 im Beisein von Wladimir Putin sogar von einer Kriegserklärung an Russland.

General Kujats Bedenken

Dass die Blockade der Oblast Kaliningrad von Moskau durchaus als existenzielle Bedrohung wahrgenommen werden könne, hat zuletzt auch Harald Kujat (Anm. d. Red.: der baltische Familienname Kujat stammt von den Prussen, den Ureinwohnern des späteren Ostpreußens) bekannt. In einem Interview mit dem Fernsehsender Phoenix bezeichnete er die Blockade als verantwortungslos. Eskalieren könne man eine Situation nämlich nur, sofern man über die nötige Eskalationsdominanz verfüge. Dies sei aber nicht der Fall, da sämtliche militärische und geostrategische Vorteile aufseiten Russlands lägen. Unter diesen Umständen sei die von Litauen verhängte Blockade dumm und gefährlich. Aber wie realistisch ist eine militärische Reaktion Russlands im Falle einer dauerhaften Aufrechterhaltung des Transitverbots? Und was würde ein russischer Angriff im Baltikum bedeuten?

Wie erwähnt, hat die Oblast Kaliningrad für Moskau eine immense geostrategische Bedeutung. Als Heimathafen der Baltischen Flotte hat Russland von Kaliningrad aus Zugang zu Ost- und Nordsee sowie zum Atlantik. Der Ostseeraum, den Zar Peter der Große einst im Großen Nordischen Krieg (1700–1721) gegen Schweden erobert hatte, ist damit nicht gänzlich unter der Kontrolle der NATO. Die Notwendigkeit, das nördliche Ostpreußen zu behaupten, ergibt sich zudem auch aus der baldigen Aufnahme von Schweden und Finnland in die Nordatlantische Allianz. Die lediglich 15.000 km² große Oblast Kaliningrad wäre dadurch noch stärker von Moskau isoliert als bisher – ein Zustand, der für das Leben ihrer etwa 1 Mio. Einwohner nichts Gutes bedeutet.

Atombomben lagern dort

Um Ostpreußen zu behaupten, hat Russland moderne Waffen in die Region verlegt. Dazu zählt auch ein Nukleararsenal, welches im Falle eines Krieges mit der NATO auf die europäischen Länder abgefeuert werden könnte. Die in der Oblast Kaliningrad stationierten Streitkräfte gehören zum Kaliningrader Verteidigungsbezirk, der seit dem 27. Juli 1998 zudem als Kaliningrader Sonderbezirk fungiert. Dabei handelt es sich um einen operativen und taktischen Zusammenschluss von Teilstreitkräften aus Marine, Luftwaffe, Flugabwehr und Heer. Ihr militärisches Ziel besteht in der Verteidigung des Kaliningrader Gebiets und der Interessen Moskaus in der südlichen Ostsee.

Zwischen 1991 und 1992 hat der Stab der Baltischen Flotte auf Grundlage der Erfahrungen des „Großen Vaterländischen Krieges“ (Anm. d. Red.: der erst 1941 begann, weil die Sowjetunion zuvor noch Verbündete Hitlers war) sowie unter Berücksichtigung der besonderen geostrategischen Lage des Kaliningrader Gebiets verschiedene Analysen über die Schaffung und einen möglichen operativen Einsatz der vor Ort stationierten Streitkräfte durchgeführt. Von Juni bis September 1993 wurden mehrere Vorschläge für die Organisation eines einheitlichen Kommandos der Teilstreitkräfte ausgearbeitet. Zum Kaliningrader Sonderbezirk gehörten damals die Baltische Flotte, die Truppen des Kaliningrader Luftverteidigungsbezirks, die 11. Unabhängige Gardearmee, die Kaliningrader Gruppe der Grenztruppen des FSB, Einheiten der Inneren Truppen des Innenministeriums sowie weitere Formationen.

Der Kaliningrader Sonderbezirk ist eine unabhängige militärische Verwaltungseinheit, die nicht zu den gewöhnlichen Militärbezirken gehörte. Moskau hat die Bedeutung seiner Streitkräfte in der Oblast Kaliningrad immer wieder betont. Im Jahr 2006 nahmen Truppen des Kaliningrader Verteidigungsbezirks an der strategischen Einsatzübung „Sapad-2009“ (Sapad bedeutet „Westen“ auf Deutsch) teil. Nach der von Verteidigungsminister Anatoli Serdjukow (2007 bis 2012) initiierten Militärreform wurde die Oblast Kaliningrad schließlich als separate militärische Verwaltungseinheit Teil des westlichen Militärbezirks.

Moskau zeigte guten Willen zur Entspannung

Die Annahme, Moskau habe die Oblast Kaliningrad nach 1991 als Vorposten gegen die NATO aufgerüstet, ist falsch. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion wurde das militärische Potenzial der Region drastisch reduziert, was nicht zuletzt auch in der Auflösung der 11. Sowjetarmee zum Ausdruck kam. Im Jahr 1999 waren noch folgende Truppengattungen mit einer Gesamtstärke von 25.000 Mann im Einsatz: die Boden- und Küstenstreitkräfte der Flotte mit einem Arsenal von 850 Panzern, 550 Mehrfachraketenwerfern und 350 Artilleriesystemen; die Baltische Flotte mit 99 Schiffen verschiedener Klassen sowie sechs U-Booten; die Marineluftwaffe mit mehr als 180 Kampf- und Transportflugzeugen und Hubschraubern; und die Luftverteidigungstruppen, die auf das raketengestützte Boden-Luft-Abwehrsystem S-300 PS zurückgreifen konnten.

In den Jahren 2008 und 2009 wurde dann wiederum eine beträchtliche Anzahl von Truppen und militärischem Gerät aus dem Kaliningrader Gebiet abgezogen. Davon betroffen waren mehr als 600 Panzer, 500 Schützenpanzer und Truppentransporter sowie 600 Geschütze und Mörser. Zu Beginn des Jahres 2010 belief sich die Zahl der Landstreitkräfte in der Oblast Kaliningrad nur noch auf 10.500 Soldaten zuzüglich 1.100 Marinesoldaten. Natürlich bestand dieses Material überwiegend aus veraltetem Kriegsgerät aus sowjetischen Beständen. Dies ändert jedoch nichts daran, dass Moskau mit ihrem Abzug seine friedfertigen Absichten unter Beweis stellte.

Mit dem neuen Raketenschild der USA begann die Wiederaufrüstung

An militärischen Formationen verblieb eine motorisierte Schützenbrigade, ein später aufgelöstes motorisiertes Schützenregiment, eine Raketenbrigade mit bis zu 18 Totschka-U-Raketensystemen, eine Artilleriebrigade, ein Hubschrauberregiment sowie eine Flugabwehrbrigade. Im Jahr 2010 umfassten die Landstreitkräfte der Oblast Kaliningrad noch 811 Panzer, 1.239 Schützenpanzer und Schützenpanzerwagen verschiedener Typen sowie 345 Artillerie- und Raketensysteme. Bis heute werden dort nukleare Gefechtsköpfe aufbewahrt, die im Falle eines Krieges zum Einsatz kommen könnten.

Die Reduktion des russischen Militärs war allerdings nicht auf begrenzte Ressourcen zurückzuführen, sondern entsprach geltenden internationalen Vereinbarungen. Im Rahmen des Vertrags über Konventionelle Streitkräfte in Europa (KSE) von 1990 hatte sich Russland verpflichtet, die Zahl seiner Truppen, Waffen und militärischen Ausrüstungen in der Oblast Kaliningrad zu begrenzen. Demnach war vorgesehen, dass Moskau dort nicht mehr als zwei motorisierte Schützenbrigaden mit geringer Verstärkung unterhalten würde. Dies änderte sich erst, als die USA erklärten, ihr ABM-Raketenschild in Europa zu stationieren. Als Reaktion beschloss Russland 2011 nun, seine Truppen in Kaliningrad wieder aufzustocken.

Vertrag ausgesetzt

In den vergangenen 10 Jahren, insbesondere aber seit 2014, hat Moskau das Potenzial seiner Streitkräfte im Ostseeraum zusätzlich verstärkt. Hierzu hatte es am 12. Dezember 2007 zunächst den KSE-Vertrag ausgesetzt. In diesem Zusammenhang wurde in der Nähe von Kaliningrad ein DM-Frühwarnradar des Typs „Woronesch“ gebaut, um Raketenstarts in ganz Europa und im Nordatlantik zu überwachen. Ferner wurden mobile Angriffssysteme für taktische Raketen des Typs Iskander-M in der Oblast stationiert. Diese Waffe zeichnet sich durch hohe Mobilität, kurze Vorbereitungszeit für den Raketenstart und eine nahezu vollständige Unsichtbarkeit für Radarsysteme aus. Im Jahr 2014 fanden sodann größere Militärübungen statt, an denen 9.000 Soldaten, mehr als 600 Fahrzeuge, darunter 250 Panzer und Schützenpanzer, 55 Schiffe und etwa 40 Flugzeuge sowie Iskander-Raketensysteme beteiligt waren.

Im April 2015 wurde auf einer Sondersitzung des russischen Verteidigungsministeriums als Reaktion auf die Ukraine-Krise und die Aufstockung des NATO-Kontingents im Baltikum und in Polen beschlossen, das Heer im Kaliningrader Gebiet sowie die Baltische Flotte zu verstärken. Infolgedessen umfasst der dort stationierte russische Truppenverband derzeit eine motorisierte Schützenbrigade, eine Marinebrigade sowie Artillerie- und Raketeneinheiten. Ferner hatte man begonnen, sie um eine weitere motorisierte Schützenbrigade zu ergänzen, wodurch die Oblast Kaliningrad über zwei motorisierte Schützenbrigaden verfügt, während die Artillerie- und Raketenstreitkräfte der küstennahen Schiffsabwehrsysteme ebenfalls verstärkt wurden.

Russland beim NATO-Bündnisfall konventionell chancenlos

Aus europäischer Sicht sind diese Truppen zwar keine Bedrohung der eigenen Sicherheit, wohl aber eine starke Garnison. Am 9. Januar 2022 meldete die russische Nachrichtenagentur „Ria Novosti“, die Oblast Kaliningrad sei einer der am stärksten bewachten Regionen Russlands und könne selbst in einem Sturmangriff nicht erobert werden. Dafür seien vor allem die Iskander-Raketenabwehrsysteme verantwortlich. Nahezu sämtliche NATO-Stützpunkte in Europa sowie US-Raketenabwehreinrichtungen befänden sich in ihrer Angriffsreichweite. Ferner schützten zwei Flugabwehrraketenbrigaden und drei Regimenter für elektronische Kampfführung die Region vor Luftangriffen. Was aber bedeutet das für eine etwaige militärische Konfrontation mit der NATO?

Im Falle eines russischen Angriffs könnten die im Kaliningrader Gebiet stationierten Streitkräfte die baltischen Staaten von Süden her abschneiden, würden dadurch aber ihre Grenze zu Polen entblößen. Hinzu kommt, dass in einem solchen Szenario innerhalb der NATO der Bündnisfall eintreten würde. Gegen eine derartige Übermacht hätte das russische Militär mit konventionellen Waffen nirgendwo auf dem Kontinent eine Chance. Dessen ist man sich auch im Kreml bewusst. Aus diesem Grund dürfte die von Medwedjew und anderen russischen Spitzenpolitikern beschworene Antwort weniger in der Eröffnung einer baltischen Front, als vielmehr in der Verstärkung der in Ostpreußen stationierten Truppen bestehen. Auch wenn weder die NATO noch Russland an einer militärischen Konfrontation in der Region interessiert sein dürften, steht doch außer Frage, dass sich dort in naher Zukunft zwei hochgerüstete Blöcke gegenüberstehen könnten – eine Situation, die an die düstersten Zeiten des Kalten Krieges erinnert.

Schwächt diese Blockade Russland überhaupt?

Schließlich stellt sich die Frage, ob die Blockade der Oblast Kaliningrad die russische Position im Ukraine-Konflikt überhaupt schwächt. Realistischerweise muss die Antwort „Nein“ lauten. Trotz ihrer geostrategischen Bedeutung ist die Region für Russland wirtschaftlich nicht von nennenswerter Bedeutung. Die Blockade triff also vor allem die dortige Bevölkerung. Bei dieser handelt es sich um Menschen, die für die Entscheidung ihrer Regierung, die Ukraine anzugreifen, keine Verantwortung tragen. Insofern hat Harald Kujat recht, wenn er die von Litauen forcierte Blockade als törichte Eskalation betrachtet. In der Tat wird die Isolation des Kaliningrader Gebiets nicht helfen, Russland zu bändigen. Stattdessen könnten auf sie bezogene Spannungen Anlass für weitere Auseinandersetzungen bieten.

So geboten es ist, der russischen Aggression in der Ukraine durch politischen Druck Einhalt zu gebieten – die Blockade der Oblast Kaliningrad ist dafür kein geeignetes Mittel. Sie trifft die Falschen und bietet dem Kreml die Möglichkeit, die EU als scheinheilig zu diffamieren. Derweil kursieren bei YouTube Videos, die die Moskauer beim sommerlichen Flanieren durch die Straßen ihrer Stadt zeigen. Diese Aufnahmen bestätigen, was ich seit Wochen immer wieder aus persönlichen Gesprächen höre: die Sanktionen greifen nicht. 

 

Christian Osthold ist Historiker und hat in russischer Geschichte promoviert. Seit 2001 hat er Russland mehr als 30-mal bereist sowie Archivaufenthalte in Moskau und Grosny absolviert. Im Rahmen seiner Forschungsarbeiten hat Osthold 2015 als einziger deutscher Historiker für mehrere Monate in einem tschetschenischen Dorf gelebt. Aus dieser Tätigkeit ist 2019 die erste vollumfängliche Gesamtdarstellung zum Tschetschenien-Konflikt hervorgegangen. Als intimer Russlandkenner schreibt Osthold für verschiedene Zeitungen und Journale, darunter Focus OnlineNZZ, Cicero etc. Darüber hinaus ist er regelmäßig in Fernsehsendungen zu sehen, zuletzt bei der Deutschen Welle. Christian Osthold spricht fließend Russisch und ist mit einer Russin verheiratet.  

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Wolfgang Richter / 11.07.2022

“Alexander Lukaschenko sprach am 25. Juni 2022 im Beisein von Wladimir Putin sogar von einer Kriegserklärung an Russland.” Der vertragswidrige Stopp des Waren- und Personenverkehrs von Rußland nach Rußland durch den litauischen Korridor wäre vor noch gar nicht langer Zeit als Kriegserklärung gewertet worden. Für mich schon erstaunlich, daß die Mini-Republik Litauen in der Meinung der Unterstützung durch den “Großen Bruder” sein Glück derart heraus fordert. 1991 entkamen sie relativ “schadensfrei” aus der zerbröselnden Sowjetunion in die Freiheit und staatliche Souveränität (die sie für mich unverständlich, sehr schnell der EU-Vormundschaft opferten). Daß sie dieses Glück jetzt leichtfertig aufs Spiel setzen….???

Wolfgang Richter / 11.07.2022

“Wie alle nach Kriegsende verlorenen Reichsprovinzen ist auch Ostpreußen bis heute weitgehend in Vergessenheit geraten.” Oder auch nicht. Da die gesamte “Sippschaft” meiner Frau väterlicherseits aus dem heute polnischen Teil Ostpreußens stammt, haben wir vor ein paar Jahren mal jeweils Personen bezogen Geburts- und Wohnorte nach deren noch auffindbaren handschriftlichen Notizen zusammen gestellt, die aktuellen polnischen Namen dazu gepuzzelt und danach eine entsprechende Rundreise zusammengestellt. Wir haben auch alles gefunden und danach ein neues “Familienfotoalbum” erstellt, alte Ansichtskarten und Fotos, die aktuellen dagegen gestellt. So bekommen die alten Geschichten für uns ein aktuelles Gesicht, zu Ehren der “Ahnen”.

giesemann gerhard / 11.07.2022

Heute an die SPD und an Gerhard Schröder geschickt: Eine attraktive UA mit westlichen Standards ist die größte Bedrohung für Russlands Kleptokraten. Dann müssten sie sich endlich der Konkurrenz stellen – etwas, das sie fürchten wie der Teufel das Weihwasser. Die jungen RussInnen zieht es eh nach Westen, was sollen sie auch in der Taiga, wo der GULAG lauert. Die gehen lieber zu Wladimir-Berlin in die Russendisko als für die Räuber im Kreml, mit dem anderen Wladimir zu kämpfen. Russland ist so unendlich reich, nicht nur an Rohstoffen – und mit Europa sind sie unschlagbar, sie müssen es nur wollen. Der Westen unterstützt sie dabei, auch aus eigenem Interesse. Denn was ist Europa, die EU ohne Russland? Insofern war die bisherige Politik à la NS2 absolut richtig – leider hat Putin das torpediert, zum großen Schaden Russlands, gewiss, aber eben auch zum großen Schaden Europas. Die Russen werden das korrigieren, helfen wir ihnen, sich das klar zu machen. Schaumermal.

W. Renner / 11.07.2022

Komisch nur, dass der ehemalige NATO General bisher keine Bedenken gegen den Überfall Russlands auf die Ukraine geäussert hat. Wer von solchen Generalen verteidigt wird, kann sich auch gleich selbst erschiessen.

W. Renner / 11.07.2022

Schon wieder einer, der den Putin irgendwie versteht. Dann hoffen wir mal, er versteht ihn auch noch, wenn die Rote Armee in Berlin steht. Obwohl, deren Statthalter regieren dort ja schon. Weiter viel Spass mit denen.

giesemann gerhard / 11.07.2022

@Thomas B.: Sie haben natürlich recht; dabei ist selektive Wahrnehmung und Realitätsverleugnung eher das Geschäft von Polytickern ... . Aber wer tickt schon recht.l

Dirk Jungnickel / 11.07.2022

@Frau Grimm Ich habe mir auf Spitzbergen dieses sowj. “Pyramiden”  angesehen.  Auf Spitzbergen gab es schon zu Zeiten des Kalten Krieges ein seltsames aber friedliches Nebeneinander von Nato - Norwegen und der SU. Vertraglich geregelt. Die Sowjets bauten dort aus Prestige - Gründen Kohle ab, weil sie keine im eigenen Land haben. -; Die mußte dann schwachsinnigerweise per Schiff nach Russland überführt werden . Um 2013 wurde dort die gesamte Ausrüstung verschrottet, man war auf dem Rückzug. Das damals schon vergammelte “Kulturhaus” dürfte inzwischen eingefallen sein. Die Norweger haben sich m.W. nie dafür interessiert. Warum sollten sie sich denn für Barentsburg interessieren, das keine Enklave in eigentlichen Sinne war.

Roland Müller / 11.07.2022

Die Sanktionen greifen schon. Aber nicht in Russland, sondern vor allem in Deutschland.

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