Gastautor / 02.09.2010 / 16:15 / 0 / Seite ausdrucken

Tief in den Tabus

Peter Keller

Er sorgt mit seinem Buch «Deutschland schafft sich ab» für maximale Erregung: Thilo Sarrazin, 65-jährig, ehemaliger Spitzenpolitiker der SPD. Die von ihm lancierte Debatte um Zuwanderung, demografische Entwicklung und Verdummung der Gesellschaft ist längst einer Jagd auf den Verfasser gewichen. Eine nüchterne Rückkehr zum Buch und zum Inhalt von Sarrazins Thesen tut not.

Der frühere Berliner Finanzsenator hält sich zunächst einmal an statistische Werte. Seit den 1960er Jahren hat sich die Geburtenzahl in Deutschland von über 1,3 Millionen jährlich auf 650 000 halbiert. «Geht das so weiter – und warum sollte sich etwas ändern an diesem Trend, der schon über vier Jahrzehnte anhält , dann wird [. . .] in 90 Jahren die Zahl der Geburten bei rund 200 000 bis 250 000 liegen.» Das reproduktionsfaule Deutschland schafft sich selber ab. Generation für Generation.

Gleichzeitig steht der Staat unter einem un- geheuren «Bevölkerungsdruck über die Grenzen hinweg». Sarrazin spricht von einer «ungesteuerten Migration». Die deutsche Ein- wanderungspolitik der letzten Jahrzehnte habe nicht die Leistungsträger fremder Völker angelockt, sondern vornehmlich «Landbewohner aus eher archaischen Gesellschaften», die sich in ihren Heimatländern am unteren Ende der sozialen Hierarchie wie auch der Bildungs- skala befanden. Auf diesem demografischen Fundament argumentiert Sarrazin – und zündet die nächste Erregungsstufe: Die bildungsfernen «Armutsmigranten» bekommen wesentlich mehr Kinder, und da Intelligenz, wie Untersuchungen zeigten, zu fünfzig bis achtzig Prozent vererbbar ist, werde Deutschland immer dümmer. «Wir verlieren als Volk an durchschnittlicher Intelligenz, wenn die intelligenteren Frauen weniger oder gar keine Kinder zur Welt bringen.» Besonders diese Entwicklung beschäftigt den Bildungsbürger und Hugenottenspross Sarrazin.
Er sieht sein Land der Dichter und Denker in Gefahr und zwar hauptsächlich durch eine islamisch geprägte Bevölkerungsverschiebung, was er auch ohne die üblichen Verwedlungen bekennt: «Ich möchte nicht, dass das Land meiner Enkel und Urenkel zu grossen Teilen muslimisch ist, dass dort über weite Strecken Türkisch und Arabisch gesprochen wird, die Frauen ein Kopftuch tragen und der Tagesrhythmus vom Ruf der Muezzins bestimmt wird.»

Viele Schulabbrecher

Jedes Land habe das Recht, auf die Wahrung seiner Kultur und seiner Traditionen zu achten und die Zuwanderung entsprechend zu regulieren. Menschen sind unterschiedlich, hält der Sozialdemokrat Sarrazin fest, «nämlich intellektuell mehr oder weniger begabt, fauler oder fleissiger, mehr oder weniger moralisch gefestigt». Daran würden noch so viel Bildung und Chancengleichheit nichts ändern. Steckt der Mensch folglich im Käfig seiner Gene?

Sarrazin vergleicht die Integrationsfähigkeit verschiedener Zuwanderungsgruppen. Am schlechtesten schneiden muslimische Migranten ab. Nicht nur in Deutschland, auch in allen anderen betroffenen Ländern Europas, die Schweiz nicht ausgenommen. Der Autor zählt Merkmale auf: wesentlich mehr Arbeitslosigkeit, überdurchschnittliche Abhängigkeit von Sozialtransfers (im türkisch geprägten Nord-Neukölln leben 45 Prozent der unter 65-Jährigen von Hartz IV), viele Schulabbrecher, Tendenz zur Bildung von Parallelgesellschaften, fundamentalistische Strömungen, hohe Kriminalität. «Besorgniserregend ist, dass die Probleme der muslimischen Migranten auch bei der zweiten und dritten Generation auftreten, sich also quasi vererben.»

Darauf verlässt Sarrazin das genetische Korsett seiner Analyse. Den relativen Misserfolg könne man kaum allein auf angeborene Fähigkeiten und Begabungen zurückführen, «denn er betrifft muslimische Migranten unterschiedlicher Herkunft gleichermassen». Die Zuwanderer aus dem ehemaligen Jugoslawien, der Türkei und den arabischen Ländern bildeten den Kern des Integrationsproblems. Es gebe jedoch keinen erkennbaren Grund, schreibt Sarrazin weiter, weshalb diese Immigranten es schwerer haben sollten als andere. «Ihre Schwierigkeiten im Schulsystem, am Arbeitsmarkt und generell in der Gesellschaft ergeben sich aus den Gruppen selbst, nicht aus der sie umgebenden Gesellschaft.»

Diskriminierung schliesst der Autor als Ursache aus. Inder, Chinesen, Vietnamesen würden eher noch fremdartiger aussehen als Türken und Araber, schneiden in ihren Leistungen teilweise aber sogar besser ab als die Deutschen.

Das sind alles keine neuen Erkenntnisse. Nur wühlt hier einer tief in deutschen Tabus, wenn er von genetischen Vorzügen und kulturellen Fesseln redet. Dies erklärt wenigstens teilweise die Vehemenz, mit der Medien und Politik den Autor niederwalzen.

Allerdings lieferte Sarrazin seinen Gegnern Munition, als er in einem Interview von gemeinsamen «jüdischen Genen» sprach. In diesem hochemotionalen Terrain kann er als Deutscher nur verlieren, unabhängig davon, ob die Gen-These stimmt (siehe Artikel links). Vizekanzler Westerwelle witterte jedenfalls umgehend Antisemitismus. Dabei ist Sarrazins Buch alles andere als judenfeindlich. Es streicht sogar explizit die überragende Intelligenz europäischer Juden hervor. Sie würden «einen um 15 Punkte höheren IQ» aufweisen als Mitglieder anderer Völker in Europa. Bei der Erklärung dieses Phänomens greift Sarrazin zurück auf Darwin und den Vererbungstheoretiker Gregor Mendel. Die durchschnittlich höhere Intelligenz der Juden werde mit dem «ausserordentlichen Selektionsdruck» im christlichen Abendland erklärt. Handwerk und Landwirtschaft waren ihnen versperrt. Die Juden wurden in Handel, Banken und intellektuelle Berufe abgedrängt. Schriftgelehrte genossen besonderes Ansehen. Nicht selten bekam ein Rabbi die reiche jüdische Kaufmannstochter zur Frau. Diese über Jahrhunderte betriebene Familien- und Heiratspolitik, die «dem intellektuellen Element überdurchschnittliche Fortpflanzungschancen» gab, habe allmählich zur Ausbildung der überdurchschnittlichen Intelligenz geführt.
Realistischer Linker

«Für mich ist es wichtig, dass Europa seine kulturelle Identität als europäisches Abendland und Deutschland seine als Land mit deutscher Sprache wahrt.» Diese etwas holprig formulierte Sorge treibt Sarrazin an. Nun will ihn die deutsche Sozialdemokratie aus ihren Reihen ausschliessen, was der langjährige Berufspolitiker nicht hinnimmt – und seine im Buch vorgelegten Schlüsse auch nicht nahelegen.

Sarrazin zeigt sich als realistischer Linker. Um bei Migranten die Abhängigkeit von Sozialtransfers zu verringern, setzt er auf den «Dreiklang» Sprache, frühkindliche Erziehung und Bildung, also auf staatliche Interventionen. Konkret schwebt Sarrazin die flächendeckende Einführung von Ganztagesschulen und Kindergartenpflicht ab dem dritten Lebensjahr vor. Das Kindergeld soll gekürzt werden. Dafür erhielten die Schulen mehr Geld für Betreuungsangebote, für die Ausgabe gesunder Mahlzeiten und Deutschkurse für Migrantenkinder. So politisiert kein Konservativer.

Ganz am Anfang von «Deutschland schafft sich ab» schreibt Sarrazin, man habe jahrzehntelang nichts über die Folgen des Geburtenrückgangs sagen dürfen, wenn man nicht in Verdacht, völkisch zu denken, geraten wollte. «Das hat sich inzwischen geändert.» Da täuschte sich der sonst so strenge Analytiker. Die Kritik stellte ihn sofort in die rassistische Ecke. Deutschland schafft Sarrazin ab.
Erschienen in der Weltwoche Ausgabe 35/10

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