Hier und Jetzt / 27.01.2020 / 06:07 / Foto: Flickr CC BY-SA 2.0 / 27 / Seite ausdrucken

Steinmeier in Jerusalem: Menschen und Deutsche

„Gepriesen sei der Herr, […] dass er mich heute hier sein lässt.“

Welche Gnade, welches Geschenk, dass ich heute hier in Yad Vashem zu Ihnen sprechen darf.

Hier in Yad Vashem brennt die ewige Flamme der Erinnerung an die Toten der Shoah.
Dieser Ort erinnert an ihr millionenfaches Leid. Und er erinnert an ihr Leben – an jedes einzelne Schicksal.

Dieser Ort erinnert an Samuel Tytelman, ein begeisterter Schwimmer, der bei Makkabi Warschau Wettkämpfe gewann, und an seine kleine Schwester Rega, die ihrer Mutter beim Kochen für den Schabbat half.

Dieser Ort erinnert an Ida Goldiş und ihren dreijährigen Sohn Vili. Im Oktober wurden sie aus dem Ghetto Chișinău deportiert, und im Januar, in bitterster Kälte, schrieb Ida ein letztes Mal an ihre Eltern und an ihre Schwester: „Ich bedaure aus tiefster Seele, dass ich beim Abschied die Bedeutung des Augenblicks nicht erfasste, […] dass ich Dich nicht fest umarmt habe, ohne loszulassen.“

Deutsche haben sie verschleppt. Deutsche haben ihnen Nummern auf die Unterarme tätowiert. Deutsche haben versucht, diese Menschen zu entmenschlichen, zu Nummern zu machen, im Vernichtungslager jede Erinnerung an sie auszulöschen.

Es ist ihnen nicht gelungen.

Samuel und Rega, Ida und Vili waren Menschen. Und Menschen bleiben sie in unserer Erinnerung. Hier in Yad Vashem wird ihnen – wie es im Buch des Propheten Jesaja heißt – „ein Denkmal und ein Name“ gegeben. Vor diesem Denkmal stehe auch ich als Mensch – und als Deutscher. Ich stehe vor ihrem Denkmal. Ich lese ihre Namen. Ich höre ihre Geschichten. Und ich verneige mich in tiefer Trauer.

Samuel und Rega, Ida und Vili waren Menschen.

Und auch das muss ich hier und heute aussprechen: Die Täter waren Menschen. Sie waren Deutsche. Die Mörder, die Wachleute, die Helfershelfer, die Mitläufer: Sie waren Deutsche.
Der industrielle Massenmord an sechs Millionen Jüdinnen und Juden, das größte Verbrechen der Menschheitsgeschichte – es wurde von meinen Landsleuten begangen.
Der grausame Krieg, der weit mehr als 50 Millionen Menschenleben kosten sollte, er ging von meinem Lande aus.

75 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz stehe ich als deutscher Präsident vor Ihnen allen, beladen mit großer historischer Schuld. Doch zugleich bin ich erfüllt von Dankbarkeit: für die ausgestreckte Hand der Überlebenden, für das neue Vertrauen von Menschen in Israel und der ganzen Welt, für das wieder erblühte jüdische Leben in Deutschland. Ich bin beseelt vom Geist der Versöhnung, der Deutschland und Israel, der Deutschland, Europa und den Staaten der Welt einen neuen, einen friedlichen Weg gewiesen hat.

Die Flamme von Yad Vashem erlischt nicht. Und unsere deutsche Verantwortung vergeht nicht. Ihr wollen wir gerecht werden. An ihr sollt Ihr uns messen.

Weil ich dankbar bin für das Wunder der Versöhnung, stehe ich vor Ihnen und wünschte, sagen zu können: Unser Erinnern hat uns gegen das Böse immun gemacht.

Ja, wir Deutsche erinnern uns. Aber manchmal scheint es mir, als verstünden wir die Vergangenheit besser als die Gegenwart.

Die bösen Geister zeigen sich heute in neuem Gewand. Mehr noch: Sie präsentieren ihr antisemitisches, ihr völkisches, ihr autoritäres Denken als Antwort für die Zukunft, als neue Lösung für die Probleme unserer Zeit. Ich wünschte, sagen zu können: Wir Deutsche haben für immer aus der Geschichte gelernt.

Aber das kann ich nicht sagen, wenn Hass und Hetze sich ausbreiten. Das kann ich nicht sagen, wenn jüdische Kinder auf dem Schulhof bespuckt werden. Das kann ich nicht sagen, wenn unter dem Deckmantel angeblicher Kritik an israelischer Politik kruder Antisemitismus hervorbricht. Das kann ich nicht sagen, wenn nur eine schwere Holztür verhindert, dass ein Rechtsterrorist an Jom Kippur in einer Synagoge in Halle ein Blutbad anrichtet.

Natürlich: Unsere Zeit ist nicht dieselbe Zeit. Es sind nicht dieselben Worte. Es sind nicht dieselben Täter. Aber es ist dasselbe Böse. Und es bleibt die eine Antwort: Nie wieder! Niemals wieder! Deshalb darf es keinen Schlussstrich unter das Erinnern geben.

Diese Verantwortung ist der Bundesrepublik Deutschland vom ersten Tage eingeschrieben.
Aber sie prüft uns – hier und heute! Dieses Deutschland wird sich selbst nur dann gerecht, wenn es seiner historischen Verantwortung gerecht wird:

Wir bekämpfen den Antisemitismus!
Wir trotzen dem Gift des Nationalismus!
Wir schützen jüdisches Leben!
Wir stehen an der Seite Israels!

Dieses Versprechen erneuere ich hier in Yad Vashem vor den Augen der Welt.
Und ich weiß, ich bin nicht allein. Hier in Yad Vashem sagen wir heute gemeinsam: Nein zu Judenhass! Nein zu Menschenhass!

Im Erschrecken vor Auschwitz hat die Welt schon einmal Lehren gezogen und eine Friedensordnung errichtet, erbaut auf Menschenrechten und Völkerrecht. Wir Deutsche stehen zu dieser Ordnung und wir wollen sie, mit Ihnen allen, verteidigen. Denn wir wissen: Jeder Friede bleibt zerbrechlich. Und als Menschen bleiben wir verführbar.

Verehrte Staats- und Regierungschefs, ich bin dankbar, dass wir heute gemeinsam bekennen: A world that remembers the Holocaust. A world without genocide.

„Wer weiß, ob wir noch einmal den zauberhaften Klang des Lebens werden hören können? Wer weiß, ob wir uns in die Ewigkeit werden einweben können – wer weiß.“

Salmen Gradowski schrieb diese Zeilen als Häftling in Auschwitz und er vergrub sie in einer Blechbüchse unter einem Krematorium.

Hier in Yad Vashem sind sie eingewoben in die Ewigkeit: Salmen Gradowski, die Geschwister Tytelman, Ida und Vili Goldiş.

Sie alle sind ermordet worden. Ihr Leben ging im entfesselten Hass verloren. Aber die Erinnerung an sie besiegt das Nichts. Und das Handeln, unser Handeln, besiegt den Hass.
Dafür stehe ich. Darauf hoffe ich.

Gepriesen sei der Herr, dass er mich heute hier sein lässt.

Foto: Flickr CC BY-SA 2.0

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Leserpost

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Martin Landvoigt / 27.01.2020

@dr. michael kubina: ‘Das ist verlogen, das Gegenteil von Verantwortung.’ Ich stimme ihnen voll zu. Noch immer habe ich das Entsetzen in mir, dass der Bundestag mit großer Mehrheit den Antrag der FDP mit großer Mehrheit zurückwies, dass sich Deutschland nicht weiter an den Resolutuionen der UN gegen Israel beteiligen mögen. Da ist die Rede Steinmeiers, die so tut als wäre das nie geschehen, dreist.

Gudrun Dietzel / 27.01.2020

Mir wird speiübel beim Lesen dieses Mists (Entschuldigung, aber das Gefasel verdient kein anderes Urteil.). Ganz offensichtlich reicht das Sprachvermögen des Herrn nicht aus, um seine Gefühle und Gedanken (und die unseren als Deutsche, dafür ist er Bundespräsident) in solche Worte zu kleiden, daß man ihm abnimmt, was er in Yad Vashem sagen will (oder hätte sagen sollen). Stattdessen Versatzstücke, plump und primitiv aneinandergereiht, Beispiele von Menschenschicksalen, die die Juden viel besser verinnerlicht haben als wir Deutschen. Uns brauchen die Juden nicht, um zu wissen, wieviele Menschen unsere Vorväter durch die Gaskammern gejagt haben. Und wir können auch nicht darauf hoffen, daß man uns vergibt, wenn wir wie Steinmeier mit Aufzählungen kommen. Das ist Statistik, mehr nicht. Wieder einmal beweist sich hier: Was im Hirn und im Herzen nicht angekommen ist, kann auch sprachlich nicht geäußert werden.

Peter Holschke / 27.01.2020

Macht dieser Mensch an so einem Ort tatsächlich fein eingewickelte Propaganda! Was waren das für hässliche Zungenschläge? Igitt. Besorgt der Kerl doch seinen Kumpanen den Superpersilschein und das ultimative moralische Exekutivrecht! Und dabei lügt er, indem er Tatsachen unterschlägt. Der Ton macht die Musik. Ich verstehe nicht, warum der Typ nicht vor Ort gleich ins Loch geworfen wurde.

Andrea Nöth / 27.01.2020

Man kann Menschen nicht zwingen die Wahrheit zu offenbaren, aber man kann sie zwingen - immer dreister zu lügen. Vielleicht wollte Israel genau das dokumentieren - hochoffiziell. Der selbstgerechte dumme Deutsche, der parallel zu dieser Rede gegen Israel arbeitet und sein eigenes Land mit muslimischen Antisemiten überschwemmt.

Wilfried Cremer / 27.01.2020

Hört sich so an wie Paulchen Pinkels Ausdrucksweise.

Sabine Schönfelder / 27.01.2020

Das tut schon weh. Kein Wunder, daß die weibliche Mainstream-Pressevertreterin sofort mit der medialen Aufwertungskampagne begann. Der lieblos-naive Redenschreiber orientierte sich an Religionsbüchern seines kleinen Neffen, und der geht in die Grundschule. Die theatralische Komponente ist verpackt in triefend-schluchzenden Pathos, eine Rede voller Versprechen, Verantwortung, Bekenntnis und mit jeder Menge ´eingewobener Ewigkeitˋ. Sie betont das nachdrückliche, fast schon hysterische NEIN,-  nein zum Menschenhass,  ja sogar zum JUDENHASS!! (thumbs up im Publikum) Mit ´nie wieder,... niemals wiederˋ, proklamiert unsere SPD-Steinschleuder Betroffenheit und schließt quasi einen Bund mit Gott und der Wahrheit. Hier setzt unser Redenschreiber endgültig zum literarischen Sturzflug an, ergriffener Leser: Täter, Zeit und Worte sind nicht DIESELBEN, aber das BÖSE. (ich bitte jetzt um Ruhe…setzen lassen) Ja, Herr Steinmeier, es sind dieselben bösen Iraner, die viele Gradowskis,Tytelmans, Idas und Vilis Goldis gerne selber ausgelöscht hätten, wenn nicht das Werk der braunen Faschisten längst mit deutscher Gründlichkeit vollendet wäre. Es sind wieder Millionen von Muslimen, deren Sozialisation und unversöhnliche Religion den Juden in ständiger Angst leben lassen, alter Schwätzer. „Aber die Erinnerung an sie besiegt das Nichts“. Richtig, Herr Steinmeier, das war NICHTS, vielleicht eine mittlere Peinlichkeit und lassen Sie bitte Gott, den Herrn, aus dem Spiel, aus Respekt vor allen gläubigen Menschen. Ihre verlogene Schamlosigkeit enthält blasphemische Züge. Wohnen Sie im Schloß, aber halten Sie den Mund. Bitte.

Dr. Gerhard Giesemann / 27.01.2020

Die Rede ist für sich genommen gar nicht schlecht. Aber das geht eben nicht mehr so einfach, nach allem, was vorher war und wohl weiter fortgesetzt wird, das Abstimmungsverhalten der Deutschen bei der UN-Vollversammlung, das Verhalten gegenüber Iran, all das, was Henryk Broder in seinem Video anspricht. Ich war vor mehr als 10 Jahren in Israel mit einer geführten Reisegruppe, unser israelischer Reiseführer war ein polnischer Jude, mit einem herrlichen Jiddisch. Joshi, der immer ganz fein lächelte, wenn ihn ein Teilnehmer in seinem Deutsch korrigierte. Er war damals gerade 70 geworden, ich hoffe, es geht ihm gut. Am Krieg 1967 hat er als Fallschirmspringer teil genommen - wir hatten so ein Gesprächsthema, zB am Berg der Seligpreisungen, wo der kath. Pfarrer eine Messe unter freiem Himmel abhielt und ich mit Joshi abseits spazieren ging so lange. Er als Springer, ich als Flieger - bin selbst nie gesprungen, obwohl wir immer einen Schirm dabei hatten. Er fragte: Du bist auch nicht so mit dem Zeugs vom Pfarrer? Und ich: Und du, mit dem Zeugs vom Rebbe? Dann haben wir gesungen, wie von ihm beigebracht: Wenn der Rebbe lacht, lachen alle Kassidim ..., wenn weint, wenn säuft, wenn fürckt usw. Nicht koscheres Essen hat er trotzdem als “sehr gut” gelobt, wenn in Bayern mal aus Versehen serviert. In Jerusalem habe ich den Turm mit dem Konterfei des Hadschi Kaiser Willem Zwo mit Pickelhaube als Dach bewundert und einmal stand ein Mädchen am Vorabend des Schabbes da, ich sah sie an und sie: Schabbes Shalom - habe ich gerne erwidert. Bin sehr dankbar über die freundliche Aufnahme dort, sie wussten, dass wir Deutsche waren. In Haifa als Stadt der Jecke so wie so.

Wilfried Cremer / 27.01.2020

Wer den Keim des Schulhofjihad totschweigt, der ist mitverantwortlich für dessen Todesopfer. Und wenn er noch so oft mit zuem Arsch den falschen Teufel zückt.

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