Burkhard Müller-Ullrich / 27.06.2008 / 12:46 / 0 / Seite ausdrucken

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Die Kleinen stammen von den Großen ab: das gilt nicht nur im Tier- und Menschenreich, sondern auch für Buchstaben. Jedes kleine a hat sich zur Karolingerzeit aus einem großen A entwickelt, jedes kleine b aus einem großen B. Bloß das Eszett, auch scharfes oder Straßen-S genannt, Buckel- oder Ringel- oder sogar Rucksack-S, dieser sehr sonderbare und ebensosehr deutsche Buchstabe ist ein Waisenkind. Das kleine Eszett hat keine Mama und keinen Papa, es stiefelt ganz allein durch unsere Texte, und wenn es mal in groß gebraucht wird, dann treten zwei normale S an seine Stelle.

Das ist nicht recht so, und deswegen sucht die Typografenzunft seit langem nach einer Lösung für dieses abwegige, wunderliche und doch irgendwie brennende Problem. Denn die Großschreibung als solche hat etwas Dringendes – nicht nur, weil sie eine deutsche Eigentümlichkeit ist, um deren Existenzberechtigung immer wieder gestritten wird, sondern weil die Großschreibung ganzer Wörter ihre stärkstmögliche Hervorhebung bedeutet. Großschreiben heißt Schreien – jedenfalls In E-Mails und beim Chatten. Großgeschriebenes schreit uns von Plakatwänden und Buchtiteln an; zum Beispiel gab es mal einen großen Duden, auf dem stand: „Der grobe Duden“ – zumindest sah es von weitem so aus, weil das kleine Eszett inmitten all der Großbuchstaben einem großen B heftig ähnelte.

Das war lange bevor die groben Duden-Reformer das arme, alleinstehende kleine Eszett am liebsten ganz aus der deutschen Sprache verbannt hätten und seine Verwendung schließlich stark einschränkten. Jetzt ist es schon fast ein Fall für Artenschützer geworden: kraftlos und kränklich hängt seine Wellenlinie neben dem senkrechten Anstrich herunter, ein persifliertes Apothekenzeichen, bei dem sich die Äskulapnatter vom Medizinerstab abgewickelt hat.

So konnte es auf keinen Fall weiter gehen. Das Eszett mußte endlich auch als Großbuchstabe vorliegen – egal, was die Computerleute dazu sagen. Natürlich kann man die Anzahl der Tasten auf einem Keyboard nicht beliebig erhöhen, aber erstens gibt es auf jedem Keyboard etliche völlig unnötige Tasten (wie zum Beispiel die berüchtigte Feststelltaste oder die Tasten „Rollen“ und „Pause“) und zweitens ist Deutschland im EM-Finale. Da darf eine deutsche Tastatur schon etwas anspruchsvoller ausfallen.

Computertechnisch heißt der neue Buchstabe 1E9E, und als solcher wurde er gerade von der Internationalen Organisation für Normung (ISO) zum Standard erhoben. Die Organisation sitzt übrigens in Genf, und in der Schweiz gibt es generell kein Eszett. Dort kann man folglich kein Gefühl haben für die poetische Lücke, die das bisherige Nichtvorhandensein des großen Eszetts unserer Schrift beschert. Es handelt sich nämlich um eine Anomalie, die unsere ästhetische Sensibilität immer wieder neu herausfordert.

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