Richard Wagner / 26.03.2012 / 16:18 / 0 / Seite ausdrucken

Sokrates in Auschwitz und Kolyma. Zur Ideologie des Vergleichens

Dass der Kommunismus mit dem Nationalsozialismus verglichen wird, und nicht der Nationalsozialismus mit dem Kommunismus, zeigt überdeutlich an, wo man grundsätzlich die größtmögliche Dichte des Bösen annimmt. Der Ruf des Nationalsozialismus ist um ein Vielfaches schlechter als der des Kommunismus. Das Vergleichen ihrer Doktrinen gilt bis heute als skandalös. Es sei denn, der Denkansatz ist, wie im Fall Hannah Arendt, erfolgreich historisiert.

Tabuisierungen sollen das Tabuisierte schützen, sie sind aber auch eine Herausforderung, sie provozieren den Pöbel und verleiten den Biedermann zum Pöbeln. Wer auffallen will, bedient sich bei der Randale des Hitlergrußes. Die Tabuisierungen ermuntern den Populisten, der unversehens zum polternden Lokalpolitiker wird, und die Ortschronisten fressen den Reim, den sie sich darauf gemacht haben. Man könnte meinen, alles drehe sich um das Kriegerdenkmal hinter der Ortskirche, neben dem jetzt noch ein Gedenkstein an die ermordeten Juden erinnern soll. Außerdem möchte eine Bürgerinitiative die Agnes -Miegel-Straße, in der die Kirche im Dorf zu finden ist, umbenennen.

Soviel steht fest: Der Gulag ist nicht mit Auschwitz zu vergleichen. Der Gulag war ein Zwangsarbeitssystem unter unmenschlichen, ja, unter menschenverachtenden Bedingungen.
Obwohl er nicht ausdrücklich dem Massenmord diente, jedenfalls nicht dem ingenieurstechnisch durchgeführten, bleibt trotzdem hinzuzufügen, dass der Tod der Inhaftierten durch Hunger und Erschöpfung erwünscht war. Man braucht nicht den Auschwitzvergleich, um das Verbrecherische des Gulag zu veranschaulichen. Dafür genügen die Bücher von Solschenizyn und Schalamow.

Mit Auschwitz aber ist auch Buchenwald nicht vergleichbar, und Theresienstadt schon gar nicht. Auch die Realität der KZ- Lagerwelt ist nicht mit ihrer Symbolik identisch. Auschwitz markiert die Mitte zwischen Theresienstadt, dem Vorzeigelager, und den Orten der Vernichtungsmaschine im Osten, Treblinka, Belzec und Sobibor, für die es kaum Zeitzeugen, kaum Überlebende gab.

Die Vernichtung hat die wenigsten Zeugen. Das fördert die Spekulation. Seit Jahrzehnten streitet man sich über die Opferzahlen und über die Existenz der Gaskammern. Die Leugner stellen nicht den Massenmord in Frage, sondern die Kapazität der Gaskammern.

Beide, der Gulag und das KZ-System, dienten der Organisation der Zwangsarbeit, aber auch der Isolation und Ausschaltung gegnerischer Eliten. Zur ideologischen Selbstdarstellung gehörte auch die Verklausulierung. Ihr Adressat war die Weltöffentlichkeit. Martin Niemöller, einer der führenden Köpfe der Bekennenden Kirche, die sich den Nazis verweigerte, wurde offiziell als „Ehrenhäftling“ Hitlers bezeichnet. Der Totalitarismus versucht die Sprache der Offenen Gesellschaft zu imitieren und zu parodieren. Die Parteizeitung der Sowjetkommunisten hieß bekanntlich „Prawda“, die Wahrheit. Ob darin jemals die Wahrheit eine Rolle spielte, wäre bestenfalls Gegenstand einer Frage an Radio Eriwan, die Witzestation Nummer eins im Kommunismus, bekannt durch die Standardantwort: Im Prinzip ja.

Die Lager hatten für die totalitäre Gesellschaft in beiden Fällen die Rolle von Abschreckungsbildern. Das Wissen in beiden Gesellschaften, im Dritten Reich und in der Sowjetunion, über die Existenz der Lagerwelt sollte die Bevölkerung von Protest und Verweigerung abhalten. So hatten die Machthaber in Berlin und Moskau ein Interesse daran, dass die Bürger um die Existenz der Lager wußten, das Ausland aber je weniger davon erfahren sollte. Das KZ ist in der Exilliteratur nur selten ein Thema, etwa bei Anna Seghers. Die Existenz des Gulag aber wird noch um 1949 im sogenannten Krawtschenko-Prozess von linken Pariser Intellekteullen wie Sartre verharmlost. Krawtschenko war ein Überläufer im Kalten Krieg, seine Darstellung der Sowjetverhältnisse wurde von den westlichen Linksintellektuellen der Zeit bezweifelt. Aus der Denkerdachstube ließ damals kein geringerer als Merleau- Ponty verlauten: „Das Todesurteil gegen Sokrates unde die Dreyfus-Affäre beschädigten den ‚humanistischen’ Ruf Athens und Frankreichs nicht. Es gibt keinen Grund, warum man auf die UdSSR andere Kriterien anwenden sollte.“

Spricht man heute vom Totalitarismus, meint man in der Regel das Gemeinsame, die Schnittmenge zwischen dem deutschen Nationalsozialismus und dem russischen Bolschewismus. Beide Ideologien waren gegen die westliche Demokratie gerichtet. In beiden wurden Rivalitäten gepflegt, es gab eine interne Opposition und Machtkämpfe, die mit dem Tod der jeweils Unterlegenen endeten. Sie kulminierten bei den Nazis im Röhm-Putsch der SA, im Sommer 1934, bei den Bolschewiken in der Ermordung Kirows, des populären Leningrader Parteisekretärs, im Dezember des selben Jahres. Die darauf folgenden Moskauer Prozesse hingegen haben bei den Nazis kein Pendant.

Die Vergleichbarkeit der beiden totalitären Systeme schrumpft zwar durch                     Konkretisierung, ist damit aber nicht zu widerlegen.  Je allgemeiner man die Systeme betrachtet, je theoretischer man die Auslegung vornimmt, desto mehr gemeinsame Merkmale wird man herausfinden. Beispiele: das Ein-Parteiensystem, das Bild vom Neuen Menschen, das Paramilitärische, die Ideologisierung des Alltagslebens, Bespitzelung und Denunziation.

Die Vergleichbarkeit aber endet mit einer schlichten Erkenntnis, und zwar jener, dass der Nationalsozialismus eine Kurzzeit-Diktatur war, mit dem dazugehörenden ideologischen Furor, während der Bolschewismus alle Hindernisse und Widerstände einer Langzeitdiktatur zu bewältigen hatte. Die Langzeitdiktatur büßt nicht nur ihre Attraktivität in ideologischer Hinsicht ein, ihre Instrumente verlieren auch den Abschreckungswert. Generationen, die in der Diktatur nachrücken, lassen sich von dem, was ihre Eltern noch eingeschüchtert hatte, kaum aus der Fassung bringen.

Die Jungen trugen ihre Unvernunft auch in die Parteistrukturen hinein, selbst die Einheitspartei veränderte sich, sie ließ Reformen und Reförmchen zu und erlahmte. Was die Diktatur fortan am Leben erhielt, waren die Interessen der von ihr erzeugten Oberschicht, der Nomenklatura. Das wichtigste Instrument bei der Machterhaltung war, zumindest in der Nachkriegszeit, aber kein innenpolitisches, es war ein außenpolitisches: der Kalte Krieg. Ohne ihn wäre das Sowjetimperium viel früher zusammengebrochen.

Wie der Nationalsozialismus sich in einer Langzeitdiktatur entwickelt hätte? Darüber lässt sich nicht einmal spekulieren. Wie sollte man sich auch einen „Nürnberger Frühling“ in Analogie zum „Prager Frühling“ vorstellen können? Einen Carl Schmitt als Reichspräsidenten und einen Reichskanzler namens Albert Speer oder gar Wernher von Braun oder doch nur Schneider-Schwerte? Es gibt keine Anhaltspunkte, weder historischer Provenienz, noch aus dem politischen System Abzuleitendes. Wahrscheinlich ist es aber so, dass die ihm innewohnende Aggressivität den Nationalsozialismus automatisch in den Untergang geführt hätte.

Die Nazis waren nicht auf den taktischen Machterhalt aus, sondern auf emphatische Machtausübung. Die Kommunisten hingegen waren zwar auch Fanatiker, sie unterwarfen sich aber dem Selbsterhaltungstrieb. Während die Nazis die Welt erobern wollten, setzten sich die Kommunisten das Ziel, die Menschheit zu retten. Hitler wäre gerne Napoleon gewesen, aber ohne den Code Napoleon, und Stalin hätte mit Voltaire durchaus debattieren wollen, aber in Anwesenheit von Robespierre. Das sind Mißverständnisse von historischer Statur.

Beide Systeme, Hitlerismus wie Stalinismus, gaben vor, gesellschaftliche Grundprobleme lösen zu wollen. Auf das Versprechen der Demokratie, das Abenteuer der Freiheit zu gewährleisten, antworten beide mit dem propagandistischen Angebot der sozialen Sicherheit. In beiden totalitären Systemen gab es eine entschiedene Kritik des angelsächsischen Westens und der Kapitalgesellschaft, in der Einmischungsweise in das Wirtschaftsleben unterschieden sie sich aber grundsätzlich. Während die Kommunisten mit der Berufung auf Marx und Lenin, die Gesellschaft mit dem Großangriff auf die Eigentums-Idee umpolen wollten, gingen die Nazis niemals weiter, als es die Planung ihrer Kriegs -Maschinerie erforderte. Sie köderten vielmehr das Unternehmertum mit der Vergabe von Monopolen und Privilegien. So hatte der Reemtsma-Konzern eine Art Lizenz für die Zigarettenversorgung der Wehrmacht.

Beide Systeme scheiterten letzten Endes an sich selbst. Die Kurzzeitdiktatur am Größenwahn, an Expansion und Kolonisation, an der Kriegstreiberei. Die Langzeitdiktatur am Verschleiß, an der Abnutzung der Ideologie und ihrer Phrasen und der Abschreckungswirkung der Instrumente, und nicht zuletzt an der mangelnden Wettbewerbsfähigkeit im Vergleich mit der Offenen Gesellschaft. Die westliche Gesellschaft war nicht nur ökonomisch attraktiver, sondern auch kulturell. Wäre also der Vergleich mit der Offenen Gesellschaft nicht wichtiger und sogar produktiver? Schließlich würde er den Kern des westlichen Systems, die Demokratie, ins Blickfeld rücken, damit aber auch die Kritik an dieser Demokratie in einen neuen Kontext stellen.

Bleibt die Frage, warum der Totalitarismus-Streit immer wieder neu aufflammt. Nein, es ist nicht die mangelnde historische Aufarbeitung, oder das mangelnde historische Wissen über die Angelegenheit, auch wenn es manchmal so aussehen mag, es geht vielmehr um die Politisierung von Geschichts-Deutung, um ihren ideologische Sinn und Zweck für die Gegenwart. Mit anderen Worten, mit dem Totalitarismus wird Politik gemacht. Immer noch.

Aber weder die Umstände der Demokratie, noch die Fahrlässigkeiten der Utopie, lassen sich durch die Gefahren des Totalitarismus rechtfertigen. Die Demokratie muss ihre Brauchbarkeit durch das sinnvolle Management der aktuellen gesellschaftlichen Fragen beweisen. Man kann von der Demokratie und ihrem Zustand sprechen, ohne das Gespenst des Kommunismus bemühen zu müssen, so dass man auch den Vergleich mit dem Nationalsozialismus zumindest politisch nicht nötig hätte. Beide totalitären Systeme waren in der Machtausübung verbrecherisch, beide sind keine Alternativen zu einer ermüdeten Demokratie. Deren Existenzberechtigung beruht ausschließlich auf den eigenen Vorzügen, den vielfältigen Formen der Partizipation. Diese gilt es wieder zu beleben.

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