Wer Ostmitteleuropa und dessen kulturhistorisch gewachsene Idiosynkrasien kennt, brauchte sich über den Ausgang der Präsidenten-Stichwahl vom Wochenende in Tschechien keine Illusionen zu machen. Den Sieg hat der sozialdemokratisch hin und her gewendete Milos Zeman höchstwahrscheinlich eingefahren, weil sein konservativer Kontrahent, Karl Schwarzenberg, die sogenannten Benes-Dekrete aus heutiger Sicht als Gegenstand für das internationale Tribunal im Haag bezeichnet hat.
Schwarzenberg kommt aus dem altösterreichischen Adel in Böhmen. Er ist der Liebling der Partei der kosmopolitischen Jugend (TOP), die Prag für einen Ableger Manhattans hält, und in einem Dauerstreit mit dem provinziellen Schrebergarten-Milieu liegt, das nach wie vor das Rückgrat der tschechischen Gesellschaft bildet, seine Helden sind die Protagonisten der Prosa von Hrabal, und die Sache erinnert uns daran, dass man nicht jeder literarischen Figur auch real begegnen möchte.
Mit den Benes-Dekreten, die nach dem nationalistischen Premierminister der Zwischenkriegszeit Eduard Benes benannt wurden, hat man die rechtliche Begründung der Enteignung und Vertreibung der Sudetendeutschen geschaffen und bis heute beibehalten.
Es sind Überbleibsel der selbstgerechten, das Absurde streifenden Ergebnisse der Pariser Vorortverträge von 1919. Der erzwungene Auszug der Sudetendeutschen wird bis heute mit deren kollektiver Kollaboration mit dem Dritten Reich erklärt. Als ob sie allesamt in Henleins NS-Ablegerpartei aktiv gewesen wären. Bis heute ist kaum ein Wort der Anerkennung für die sudetendeutsche Sozialdemokratie ausgesprochen worden. Ihren prominentesten Sprecher, Wenzel Jaksch, ließ man bei seiner Rückkehr aus dem Londoner Exil nicht mehr einreisen. Er ging erst danach in die Bundesrepublik.
Der Webfehler in der Verfasstheit der damaligen Tschechoslowakei hat mit Hitler nur wenig zu tun, er geht vielmehr auf die Staatsgründung aus der k. und k.-Hinterlassenschaft zurück, wo als Staats-Subjekte nur die slawischen Volksgruppen zugelassen waren. Das hat nicht nur Benes zu verantworten, sondern auch der Patriarch der Politik jener Jahre, der erste Staatspräsident des Landes, der mythenumwobene Masaryk, den auch in seinem politischen Amt der Mantel des Geistes verhüllte.
So trat selbst ein Havel nach 1989 im falschen Kostüm auf, er aber hat es geschafft, die moralische Kür aus dem Widerstand gegen die kommunistische Diktatur auf dem Hradschin, Burg und Amtssitz des Präsidenten, bei der unvermeidlichen Show, die die neue Freiheit mit sich brachte, beizubehalten.
Havel und sein zeitweiliger Berater Schwarzenberg, der 40 Jahre seines Lebens im Exil verbrachte, und dort u.a. das Helsinki- Komitee in Wien leitete, eine der einflussreichsten Menschenrechtsorganisationen im Kalten Krieg der siebziger und achtziger Jahre, sind Ausnahmen in der tschechischen Politik.
Taktisch betrachtet, hätte Schwarzenberg besser auf seine Auslassungen zur Vertreibung verzichtet, seine Glaubwürdigkeit besteht aber vorrangig darin, „in der Wahrheit zu leben“, wie das seinerzeit Havel in einem seiner großen Essays formulierte. Zeman wird nie an diesen Kriterien gemessen werden, er mag Schlitzohr oder sogar Schurke sein, er gehört dem Stammtisch an. Schwarzenberg aber sitzt im Club.
Die Tschechoslowakei hatte immer beides. Den Club für das Image und den Stammtisch für den Spießer, der den schlechten Geschmack auch noch mit Bier bekämpfte. Der Mann aus dem Club kann Außenminister sein, aber nicht Staatspräsident. Während der Außenminister auf diverse Ausländer zugeht, richtet das Volk seinen Blick auf den Staatschef. Die Konstellation ist Ausdruck der ethnisch korrekten Demokratie in Mitteleuropa, der Rest steht durchaus zur Wahl.