Rainer Bonhorst / 18.03.2014 / 00:38 / 2 / Seite ausdrucken

Putins Angst vor dem Volk

Die Einverleibung beziehungsweise Ausverleibung der Krim enthält viele Lehren. Eine, die nicht im Zentrum steht, aber vielleicht doch ganz interessant ist, handelt von der Angst des Diktators vor dem Volk.

Die bis zur Kenntlichkeit getarnten Nichtsoldaten, die Wladimir Putin auf die Halbinsel schickte, sorgten dafür, dass es dort zu einem ziemlich diktaturgerechten Wahlergebnis kam. 95,5 Prozent – darunter macht es ein Autokrat nicht, der noch durch die sowjetische Schule gegangen ist.

Wie wäre der Volksentscheid wohl ausgefallen, wenn er ohne Begleitung der uniformierten Einschüchterer stattgefunden hätte? Mein Tipp: 65 bis 70 Prozent hätten sich für einen Anschluss der Krim an die russische Föderation entschieden. Das wäre zwar völkerrechtlich immer noch fragwürdig gewesen. Aber es wäre nicht die erste völkerrechtlich anfechtbare Volksentscheidung dieser Art gewesen. Und es wäre eine klare, den Willen der Mehrheit widerspiegelnde Sache gewesen.

In demokratischen Staaten sind schon 65 Prozent ein fast peinlich hohes Ergebnis. Selbst die CSU in Bayern schafft nur stellenweise solche Höhenflüge. Und anderswo hat alles, was eine absolute Mehrheit so deutlich übersteigt, einen Beigeschmack von Obrigkeitshuldigung.

In der Nachfolge der real existierenden Sowjetunion herrscht bis heute offenbar ein anderes Zahlenverständnis. Traditionell legte man in Moskau und den Außenstellen des Imperiums Wert auf „Wahlergebnisse“ von 99 Prozent. Die hundert Prozent, die neulich der geliebte Führer in Nordkorea erreicht hat, galten zwar als Ideal. Man gab sich aber im allgemeinen mit einem Prozent weniger zufrieden. Ja, bei den klassischen Wahlen im osteuropäischen Kommunismus, hatte man sogar regelmäßig den Verdacht, dass auch das fehlende Prozent von der Obrigkeit organisiert war, um einen Hauch von Demokratie zu erzeugen. Hundert Prozent hätte man dann doch als zu ostasiatisch empfunden.

Und nun hat Putin seine Krim mit 95,5 Prozent bekommen. Diese organisierten 95,5 Prozent sind im Kern vergleichbar mit den früher üblichen 99 Prozent. Und nimmt man die beiden Zahlen als Kennziffern einer Demokratisierung, so hat sich Putin – jedenfalls in Sachen Krim – von diktatorischen 99 Prozent um 3,5 Prozentpunkte in Richtung Demokratie bewegt. Das ist keine sehr große Wegstrecke.

Hätte er sich ohne seine Rabauken mit geschätzten 65 Prozent begnügt, so hätte man ihn einen ordentlichen, wenn auch keinen lupenreinen Demokraten nennen können. So aber hat er sich selbst als Autokrat der alten Schule enttarnt, der sogar dann Angst vor seinem Volk hat, wenn es ihm mit großer Mehrheit und aus freien Stücken zustimmen würde. Der alte Lenin spukt leicht variiert weiter: Vertrauen ist gut, Einschüchterung ist besser.

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Frank West / 18.03.2014

In Sewastopol haben statistisch 123% der Einwohner für die Abtrennung der Krim gestimmt. Laut dem Vorsitzenden der Wahlkommission der Werchowna Rada der Krim, Mychajlo Malyschew, beteiligten sich in Sewastopol 474.137 Personen an dem Referendum. Nach Angaben der statistischen Webseite Sewastopols zählte die Stadt Ende letzten Jahres 385 462 Einwohner, Kinder eingeschlossen. Danach haben 123 % der Sewastopoler für den Anschluss an Russland gestimmt – Babys, Schüler und wahrscheinlich auch Tote. Das nennt man vorbildliche Planerfüllung! Aber viele Medien sind sich nicht zu blöde, von einem “überwältigenden Votum” der Krimbevölkerung zu sprechen. Dass auch die vierzig Prozent ukrainischer oder tatarischer Herkunft für ihre Ausbürgerung gestimmt haben sollen, stört keinen großen Geist: offenbar besteht die Krim nur noch aus großrussischen Nationalisten.

Petra Horn / 18.03.2014

Putin hat Angst vor dem Volk. Doch die westlichen Staaten haben diese Angst möglicherweise noch in viel höherem Maße. Die Regierungen haben vor den echten Willensbekundungen der Menschen eine Riesenangst. Sie wissen selbst am besten, welche Fehlentscheidungen sie jeden Tag treffen, und sie wissen, daß das Volk die meisten nicht billigt. Kohl sagte, wenn er über den Euro hätte abstimmen lassen, wäre das Ergebnis eindeutig dagegen gewesen. Cameron kennt das Ergebnis einer eventuellen Abstimmung über einen Ausstieg aus der EU. Deswegen gab es bisher keine und wird es vielleicht auch keine. Die Abstimmung der Schotten macht Angst, die Abstimmung in Venedig und Venetien, die bis zum Donnerstag stattfindet, über den Verbleib in Italien, Nato und EU macht soviel Angst, daß in keiner deutschen Zeitung darüber berichtet wurde. Die Abstimmung auf der Krim läßt die Demokratie- und Freiheit-Lippenbekenner schäumen vor Wut. Das Völkerrecht wird vorgekramt, wenn es zu verhindern gilt, daß Völker über ihr Schicksal entscheiden. Bei den souveränen Entscheidungen der Schweizer über Minarette und kannte das imperialistische Gegeifere der EU und Deutschlands kein Maß. Putin gab zu, daß er eine gelenkte Demokratie betreibt. Er ist damit ehrlicher als die westliche Propaganda. Das einstimmige, einseitige und hemmungslose Eindreschen der angemaßten Deutungshoheiten auf die Menschen hat sicher viele mehr zum Nachdenken gebracht, wie unsere sogenannte Demokratie funktioniert. Und vielleicht hat Schröder auf seine seltsame Weise doch Recht gehabt. Putin ist ein lupenreiner Demokrat wie die anderen auch. Er muß nur noch an seiner Werbebotschaft und seinen Propagandamethoden arbeiten. Aber ich glaube, er macht dabei bereits Fortschritte.

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