Gastautor / 21.08.2013 / 21:51 / 0 / Seite ausdrucken

Panzer zerstörten die Träume vom Dritten Weg

Marko Martin

Es war die größte Militäroperation in Europa seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges: Im Morgengrauen des 21. August 1968 rollten nicht nur sowjetische Panzer durch die sommerlich stillen Straßen Prags – im ganzen Land waren auf Moskaus Befehl eine halbe Million Soldaten des Warschauer Paktes eingefallen, um Alexander Dubceks Reformversuch gewaltsam zu beenden.

In jenen dramatischen Morgenstunden, schreibt Reiner Kunze in seinem berühmten Buch “Die wunderbaren Jahre”, war ein Prager Autorenkollege – unverkennbar der libertäre Milan Kundera – durch Rufe auf der Straße wach geworden. Der Romancier, der mit seinen die Privatheit verteidigenden Büchern den Prager Frühling gleichsam mit herbei geschrieben hatte, vermutete zuerst eine seiner zahlreichen Freundinnen – mit mulmigem Gefühl, lag er doch ausnahmsweise mit seiner Ehefrau im Bett.

Diese wurde durch den Lärm ebenfalls wach und ging nach unten, um nachzuschauen. “Ich sehe, dass ich die Katastrophe nicht mehr abwenden kann, verziehe mich ins Bad. Alena kommt zurück, blass. Prag ist besetzt, auf dem Wenzelsplatz stehen sowjetische Panzer. Junge, wenn du wüsstest, was da in mir vorging: War ich froh, als es nur die Panzer waren.”

Bis zuletzt also und noch über das bittere Ende hinaus: Eine zivile, souveräne Ironie, ein tapferes Lächeln unter Tränen. In den nächsten Stunden würden sie dann in der ganzen Tschechoslowakei die Straßenschilder übermalen, um “Dubcek” darauf zu schreiben – zur Desorientierung der sowjetischen Soldaten, die verdutzt aus ihren Panzerluken schauen, umringt von protestierenden Menschen, die ihnen auf Russisch klarzumachen versuchen, dass dies hier keine Befreiung von irgendeinem “faschistischen Revanchismus” ist, sondern eine brutale Invasion.

Heute, 45 Jahre später, scheint gerade jene humane Dimension in Vergessenheit geraten – in den Orkus der Historie hinabgezogen mitsamt all den fruchtlosen Diskussionen darüber, ob ein “Sozialismus mit menschlichem Antlitz” nicht vielleicht doch eine Chance gehabt hätte.

Dazu aber hatte der tschechische Dramatiker Pavel Dostál bereits vor Jahren das Nötige gesagt: “Ein Kommunist, der zur Kenntnis nimmt, was seine Partei alles angerichtet hat, wird automatisch zum Sozialdemokraten.”

Che Guevara war die zunehmend freie Atmosphäre an der Moldau entschieden contre coeur. Auf “kapitalistischen Wege” sei das Land, zürnte er schon im Sommer 1966. Auch Rudi Dutschke argwöhnte, dass Dubceks Reformen über kurz und lang zu einer bürgerlichen Gesellschaft führen könnten.

Was inzwischen gern verdrängt wird: Die eigentliche Solidarisierung setzte erst nach dem 21. August 1968 ein und verknüpfte dann auf sympathisch antiautoritäre, aber auch recht verwaschene Weise die Ereignisse in Prag mit den Pariser Studentenprotesten und dem Vietnamkrieg.

So gewann just im Moment des offensichtlichen Scheiterns der sogenannte “Dritte Weg”, eine Art Symbiose aus Freiheit und Planwirtschaft, an intellektueller Attraktivität – wohlgemerkt bei jenen, die im Unterschied zu ihren tschechoslowakischen Kollegen nicht als politisch abgestrafte Fensterputzer arbeiten mussten oder gar im Gefängnis verschwanden.

Schließlich aber wurde selbst diese Illusion von jenen gekapert, die im August 1968 auf der Seite der Okkupanten gestanden hatten: Kaum war 1989 die Mauer gefallen, benannte sich die SED flugs in “Partei des demokratischen Sozialismus” um – quasi ein letzter Akt der Infamie gegenüber Alexander Dubcek und seinen Mitstreitern, die man einst als “Konterrevolutionäre” denunziert hatte.

“Ich denke oft an diesen Augusttag der zerstörten Hoffnungen”, raunte noch im Sommer 1998 die Schriftstellerin Christa Wolf im Gespräch mit Eduard Goldstücker, dem geistigen Initiator des Prager Frühlings – verlogen die Tatsache verschweigend, dass sie in just jenen Tagen den sowjetischen Einmarsch im “Neuen Deutschland” als “Übereinkunft” bejubelt hatte, während Kafka-Experte Goldstücker im Tatra-Gebirge untertauchen musste.

Denn das sind die wirklichen Geschichten, die dieser 21. August schrieb: Heinrich Böll, der zufällig in jenen Tagen in Prag weilt, voller Bewunderung vor dem zivilen Widerstand der Bevölkerung und die Worte eines jungen Arbeiters notierend: “Der Sozialismus ist tot, sie haben ihn nicht gerettet, sondern zerstört.”

Oder Yves Montand , der bei einem Konzert im Pariser “Olympia” die Verletzung seiner Stimmbänder bekannt geben muss: Stundenlang nämlich hatte er zuvor seine einstigen parteikommunistischen Weggefährten angeschrien, da diese vorgeschlagen hatten, die Invasion besser nicht zu kritisieren, “um dem Gegner keine Argumente zu liefern”.

Ab jetzt aber: Nie mehr derlei falsche Rücksichten, keine Illusionen mehr über den Charakter der Sowjetunion und ihres exportierten Gesellschaftsmodells. Nach jenem Sommer 1968 gab es dann in der Tat wohl keinen wirklich ernst zu nehmenden Linksintellektuellen mehr, der mit den Sowjetkommunisten verbandelt sein wollte.

Und Alexander Dubcek, der tragische Held des Prager Frühlings, den man nach dem Einmarsch nach Moskau verschleppt hatte und der danach mit tränenerstickter Stimme den geforderten Kotau erbrachte? Noch sein “Umfallen” sprach weniger gegen ihn als gegen das perfide System, gegen das er sich zuvor noch so tapfer aufgelehnt hatte.

In den Jahren nach 1968 fanden folglich auch viele der einstigen “Reformkommunisten” wie etwa der Schriftsteller Pavel Kohout den Weg zu den Bürgerrechtlern der “Charta 77”, deren Ideen schließlich im November 1989 triumphierten.

Schon aus diesem Grund war es für den liberalen Antikommunisten Václav Havel selbstverständlich, dann auch Dubcek, den gescheiterten Reformer von einst, an seiner Seite zu haben – weniger aus politischer Übereinstimmung, sondern als menschliche Geste des Respekts. Als Dubcek 1992 an den Folgen eines dubiosen Autounfalls starb, fehlte bei seiner Beerdigung nicht zufällig der konservative Václav Klaus, für den der Prager Frühling ohnehin irrelevant gewesen war.

Und so ist es bis heute geblieben: Für die Rechten eine Lächerlichkeit, für die tschechischen Kommunisten ein veritabler “Verrat”, sind es die verbliebenen liberalen Bürgerrechtler im Verbund mit einer jungen, neugierigen Generation, welche die Erinnerung aufrecht erhalten: Der 21. August 1968 als das Ende einer Illusion – und der Beginn eines Engagements, das zwei Jahrzehnte später zum Sturz der Diktatur führen sollte.

Zuerst erschienen in DIE WELT am 21.8.2013

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