Es gibt Dinge aus meiner Jugendzeit, die ich vermisse. Französisch-italienische Krimis mit Lino Ventura. Den „Star Club“ in Hamburg. Raucherreihen im Flugzeug. Vor allem vermisse ich moralische Instanzen. Früher fragte man zum Beispiel, wenn man nicht wusste, was von einer Sache zu halten war: Was sagt Heinrich Böll? Was sagt der große Mann etwa zur RAF? Besonders zu „Ulrike“, wie er sich bei Frau Meinhof, die ihren Leuten Schießerlaubnis erteilt hatte, in seinem berühmten „Spiegel“-Hirtenbrief von 1972 anfiezte. Auf der Seite von Böll konnte man nie falsch liegen. Er war unser delegiertes Gewissen. Das Über-Ich einer Generation.
Solche Instanzen gibt es nicht mehr. Keiner fragt doch heutzutage: Was sagt Grass dazu? Alle denken bloß, wenn es mal wieder kompliziert wird: hoffentlich hält der olle Quatschkopp die Klappe. Enzensberger ist nun auch ein sehr alter Mann und fällt meinungsbildnerisch meistens aus. Und sonst? Kommen Sie mir nicht mit Scholl-Latour! Der recycelt seine pulverdampfenden Schnurren von den Warlords dieser Welt, die er alle gekannt haben will. Reicht gerade noch für Beckmann.
Oder Todenhöfer, dieser Scholl für die Allerärmsten: auch er vertellt uns nimmermüde, dass er da und da hingereist sei, wo der Wüstensand rieselt. „Ich war ja dort“, so lautet sein unwiderlegbarer Kompetenzbeweis. Die Nummer hat er von Scholl gelernt. Und immer hat er, Todenhöfer, in Libyen, Ägypten oder sonst wo einen Arzt oder Studenten oder Lehrer oder vielleicht sogar mal eine Frau getroffen, die ihr Land richtig demokratisch haben möchten, fast so wie im Westen. Folklore von einem, der ordentlich Miles auf dem Tacho hat, aber nicht viel more.
Die großen Instanzen sind weg. Geblieben die Fragen. Libyen zum Beispiel. Ich für meinen Teil verstehe nicht, was da abläuft. Lagen Merkel und Westerwelle nicht doch damit richtig, die Deutschen raus zu halten? Hätte man die Stämme ihre Verteilungsprobleme nicht besser unter einander ausschießen lassen sollen? „Zivile Opfer“ hätte - und hat - es in jedem Fall gegeben, mit oder ohne Nato. Wer will sagen, wie die Rechnung am Ende aussieht? Und wen müsste die Nato denn noch angreifen, wenn man ihre Begründung für den Einsatz – Diktator misshandelt „sein Volk“ – konsequent anwendet? Die halbe Welt, oder? Warum eigentlich wurden Mugabes Schergen nie angegriffen? Warum nicht die Reitermilizen im Sudan? Warum nicht die Militärs in Burma? Warum nicht die Machthaber in Nordkorea? Warum nicht der Jemen, der Iran?
Weil es geopolitisch nicht geht, klar. In Libyen geht vielleicht was. Vor allem geht´s da um Öl. Wäre schön, wenn das mal jemand ausspräche, der etwas oberhalb der ARD- und ZDF-Talkrunden angesiedelt ist. Dann hätten wir eine unmoralische, aber ehrliche Instanz.
Für die kleinteiligen Fragen des Lebens bleibt zum Glück ein Leuchtturm: die Grünen. Wenn ich mal nicht weiß, was ich von gewissen Dingen halten soll, weil ich da nicht à jour bin – Pläne für Bahnhofsumgestaltungen, Flussvertiefungen, Verkehrsvorhaben, Industrieansiedlungen, Forschungsprojekte, Energiekonzepte, Tierschutz, soziale Weichenstellungen, Kultursubventionierung, Familienförderung, Integrationspolitik, you name it, dann höre ich mir einfach an, was die Grünen dazu sagen. Und gehe getrost davon aus, dass das Gegenteil vernünftig ist. In neun von zehn Fällen, so meine Erfahrung, landet man damit auf der richtigen Seite.
Der Claudi und ihren Leuchtturmwärtern: herzlichen Dank.