Alexander Grau
Der politische Liberalismus in Deutschland scheint tot zu sein. Zumindest wird er von der weit überwiegenden Zahl der Medien nicht ohne eine gewisse Häme für tot erklärt. Die These von seinem Ableben setzt allerdings voraus, dass der politische Liberalismus in Deutschland jemals wirklich lebendig war. Aber schon an diesem Punkt sind Zweifel erlaubt. Zumindest seit dem Ersten Weltkrieg spielt der Liberalismus in Deutschland als politische und gesellschaftliche Idee keine nennenswerte Rolle. Und das, obwohl – oder vielleicht auch: weil – es liberale Parteien verstanden haben, an den meisten Reichs- bzw. Bundesregierungen seit 1918 beteiligt zu sein. Der Liberalismus in Deutschland hat somit eine ausgeprägte Machttradition, die jedoch einem Mangel an liberaler Kultur gegenübersteht.
Ein Grund dafür ist sicher – frei nach Helmut Plessner – die verspätete Nationalstaatsbildung. Als das Deutsche Reich 1871 aus der Taufe gehoben wurde, war es zu spät, um es kulturell an das Projekt der Moderne anschlussfähig zu machen. So blieb Deutschland bei der Suche nach der eigenen Identität auf sich selbst verwiesen, verharrte in romantischer Nabelschau und einem trotzigen Antimodernismus, der sich vor allem in einem latenten Antikapitalismus, einem manifesten Antiliberalismus und schließlich einem offenen Antisemitismus äußerte.
Und so träumt der überwiegende Teil der deutschen Mitbürger, Umfragen zeigen das ebenso deutlich wie Wahlen, nach wie vor vom Ideal der Volksgemeinschaft. Natürlich nennt man das nicht so, sondern redet lieber von Solidarität und sozialer Gerechtigkeit. Beide Begriffe sind jedoch ein Etikettenschwindel. Gemeint ist, dass der Staat die Unwägbarkeiten des Lebens, also Herkunft, Veranlagung und Glück, ausgleicht und kompensiert. Keiner soll andere Lebensperspektiven haben, nur weil er anders ist. Mit Gerechtigkeit hat das absolut nichts zu tun, aber sehr viel mit Ängstlichkeit und Kleinmütigkeit. Doch schon diese Einsicht widerspricht der deutschen Neigung zur politischen Romantik nachhaltig.
Noch ausgeprägter als der kleinbürgerliche Hang zur nivellierten Gesellschaft ist der deutsche Unwille, zwischen privat und öffentlich zu unterscheiden, also zwischen den eigenen Wertvorstellungen und dem, was politisch durchgesetzt werden sollte. Der deutsche Wutbürger möchte seine persönlichen Vorlieben von „der Politik“ exekutiert sehen. Das Ergebnis ist ein Paternalismus, der dem einzelnen Bürger seine individuelle Lebensgestaltung diktiert – natürlich immer zum Wohle der Allgemeinheit.
Vor diesem Hintergrund erklärt sich auch des Deutschen reichlich verspätete, dafür aber umso ausgeprägtere Liebe zur Demokratie. Demokratie, wenn man sie nicht konsequent auf die Entscheidungen begrenzt, die ausschließlich die Allgemeinheit angehen, ist ein probates Mittel, Minderheiten die Ideale und Lebensvorstellungen der Mehrheit zu oktroyieren. Aus liberaler Sicht ist es daher egal, ob man von einem absoluten Monarchen, einem Diktator, einer Einheitspartei oder der Mehrheit fremdbestimmt wird. Liberale wollen politisches Handeln – auch demokratisches politisches Handeln – aus diesem Grund so weit begrenzen wie irgend möglich. Deshalb ist der Liberalismus die einzige politische Idee, die nicht die Interessen einer Klientel, Schicht, Klasse oder Gruppe durchsetzen möchte. Eine liberale Partei, die Gruppeninteressen bedient, ist keine liberale Partei.
Genau deshalb aber hat es der Liberalismus so schwer: Politik bedeutet per se Interessenvertretung. Eine Politik, die nicht für eine Klientel kämpft, sondern für Autonomie und Freiheit des Individuums, unterläuft die politischen Denkgewohnheiten. In vorauseilendem Gehorsam ordnet sich der Wähler selbst einer Klientelgruppe zu und votiert für die Partei, die die Interessen dieser Klientel am besten vertritt: also der Häuslebauer, Hartz-IV-Empfänger, Pendler, Rentner, Familienväter etc. Liberale Politik muss sich diesem Bedürfnis nach Vertretung von Klientelinteressen entziehen. Sie muss, zugespitzt formuliert, darauf verzichten, Politik im traditionellen Sinne zu machen. Wirklich liberale Politik besteht im Rückbau des Politischen.
Ziel solcher liberaler Intervention muss es sein, die fatale Eigendynamik repräsentativer Demokratien zu durchbrechen. Diese besteht in einem sich wechselseitig verstärkenden Prozess zwischen dem Wunsch der politischen Klasse zu „gestalten“ – mithin Geld auszugeben, zu regeln und zu reglementieren – und der Bereitschaft der Bevölkerung, die politische Klasse gewähren zu lassen, solang handfeste Vorteile für die eigene Interessengruppe dabei herausspringen. Die Logik dieses Paktes führt nicht nur in eine immer weiter reglementierte Gesellschaft, sondern fast zwangsläufig in die Staatsschuldenkrise, deren Eskalation wir seit einigen Jahren verfolgen dürfen.
Daraus folgt für die FDP: Eine liberale Partei muss glaubhaft jedem Klientelismus entsagen. Das ist für eine Partei besonders schmerzhaft, die traditionell von Ärzten, Apothekern und Rechtsanwälten gewählt wird, mithin von Berufsgruppen, die sich mittels eines absurden Regelungsgeflechts gegen jede Form von Markt abgeschottet haben. Wenn der Liberalismus in Deutschland jedoch überleben will, muss er sich kompromisslos von dem Eindruck frei machen, Lobbyarbeit für Interessenkartelle Besserverdienender zu machen. Leistungsträger, die wirklich Leistungsträger sind und nicht einfach nur Leute, die viel Geld verdienen – das eine hat mit dem anderen nicht immer was zu tun –, brauchen keine Lobby.
Vor allem aber muss sich eine liberale Partei glaubhaft und entschlossen gegen jede Form des Eingriffs des Staates in die Lebensgestaltung der Bürger wehren. Um etwa das Betreuungsgeld zu verhindern – auch wenn es sich um einen kleinen Etatposten handelt – lohnt es sich, Koalitionen in Frage zu stellen, weil es für eine Form von Staatsdenken steht, das mit Liberalismus nicht im Ansatz vereinbar ist. Zu Ende gedacht, ist das Betreuungsgeld der Einstieg in den Ausbau des ohnehin überbordenden Sozialstaates in einen Wellnessstaat, in dem die öffentliche Hand nicht nur die Risiken des Lebens abfedert, sondern darüber hinaus für Entscheidungsmöglichkeiten, Selbstverwirklichung und ein Rundum-Sorglos-Paket sorgt.
Liberalismus bedeutet, den Menschen Verantwortung für ihr Leben zurückzugeben – auch wenn dies unpopulär sein sollte. So ist nicht der Staat für Kinder verantwortlich, sondern die Eltern. Weder hat der Staat vorzuschreiben, wie Eltern ihre Kinder betreuen sollen noch eine spezielle Form der Betreuung zu sanktionieren oder zu belohnen. Kinder zu Berechnungsgrößen in Planspielen für zukünftige Sozialsysteme zu machen, ist mit einem liberalen Menschenbild ohnehin unvereinbar. Auch für die Ausübung seines Berufes ist jeder selbst verantwortlich. Schließlich arbeitet jeder für sich, für seinen Lebensunterhalt, für seinen Wohlstand und vielleicht sogar, weil es ihn mit Sinn erfüllt. Weshalb der Staat etwa die Anfahrt zur Arbeit subventionieren sollte, ist schleierhaft. Die Vereinbarkeit von Job und Häuschen im Grünen ist Privatsache und das Problem jedes Einzelnen. Dass der Vorsitzende einer liberalen Partei allen Ernstes vorschlägt, die Pendlerpauschale zu erhöhen, statt sie abzuschaffen, erklärt mehr über die Krise der FDP als jede tiefsinnige Politanalyse.
Liberalismus bedeutet Individualismus und Autonomie. Beides ist in der Demokratie, zumal in der modernen Mediendemokratie, gefährdet. Insbesondere die Piraten, obwohl sie erst dabei sind, sich programmatisch zu sortieren, repräsentieren einen Neokollektivismus, der mit der schnoddrigen Pose des Technikavantgardisten Privatsphäre, geistiges Eigentum und Autonomie als spießige Relikte einer untergehenden Epoche zu diskreditieren sucht. Die Piraten sind somit keine Konkurrenz zur FDP, sondern erweitern den Block linker Parteien um ein viertes Mitglied. In der Tradition von John Stuart Mill und Alexis de Tocqueville ist es die Aufgabe der FDP, Individualismus, Autonomie und Privatsphäre sowohl gegen die Übergriffe eines sich als Schwarmintelligenz gebärdenden Kollektivismus als auch gegen die Datensammelwut von Google, Facebook und Co. zu verteidigen.
Liberalismus ist so notwendig wie selten zuvor. Die FDP wird überleben, wenn sie keine Kompromisse macht und konsequent an liberalen Grundlinien festhält, also an einer Politik ohne Quoten, Vergünstigungen, Reglementierungen und anderen Steuerungsversuchen. Und das wird gelingen, wenn die FDP sich wieder auf das besinnt, was im Zentrum liberalen Denkens steht: kein Wirtschaftssystem, keine Gruppe, keine Clique, kein Interessenverband und keine Schicht, sondern: das Individuum.
Zuerst erschienen auf CICERO Online