Das Leben ist voller Überraschungen, und manchmal braucht es Jahre, bis eigene Vorurteile gründlich revidiert werden müssen. Diese Erfahrung bestätigte sich für mich gestern einmal wieder. Ich hatte mich zum Lunch mit einem Dozenten der London School of Economics (LSE) verabredet, und so gingen wir in das Restaurant für Angestellte der LSE. Doch bevor wir dort zu unserem eigentlichen Gesprächsthema kommen konnten, erklärte mir mein Gesprächspartner stolz, dass er es geschafft habe, mit diversen steuerlichen Tricks die Kosten seines Mitagessens auf durchschnittlich 40 Pence zu drücken. Man frage mich nun nicht mehr, wie genau das ging, denn dafür war der Sachverhalt zu kompliziert, aber es hatte irgend etwas mit der Absetzbarkeit des Arbeitsessens zu tun.
Bis dahin hatte ich geglaubt, dass verwunderliche steuerliche Konstruktionen eine Spezialität des deutschen Steuerrechts sind, dass man von ihnen anderswo jedoch weitgehend verschont bleibt. Weit gefehlt - und mein positives Vorurteil über das vermeintlich weniger komplizierte englische Steuerrecht war dahin. Doch es kam noch besser. Ich muss bei der Erläuterung der Feinheiten des britischen Steuerrechts nämlich so verblüfft geguckt haben, dass mein Gesprächspartner nun gar nicht mehr an sich halten konnte und mir die Abstrusitäten des britischen Steuerrechts einzeln erläuterte. Die Fälle sind dermaßen seltsam, dass sie schon fast wieder Unterhaltungscharakter besitzen.
Da wäre zum Beispiel die Steuererleichterung für Dienstfahrräder. Britische Angestellte können ihren Arbeitgeber dazu veranlassen, über einen teilweisen Gehaltsverzicht ein Fahrrad zu kaufen, mit dem sie dann zur Arbeit fahren können. Da das Fahrradfahren zur Arbeit gefördert werden soll, übernimmt der Staat dabei bis zu 49,8 Prozent der Anschaffungskosten. Eine Obergrenze für den Wert des Fahrrads gibt es jedoch nicht. Auch muss kein Fahrtenbuch geführt werden. Unter Ausnutzung dieses Schlupflochs könnte man also zum Beispiel auch ein Marin Quake 7.3-Fahrrad für 3.195 Pfund kaufen. Je höher dabei das zu versteuernde Einkommen, umso mehr kann man dabei sparen. Ein Angestellter mit 40.000 Pfund Bruttojahreseinkommen zahlt dann für das Fahrrad effektiv nur noch 1.604 Pfund und 30 Pence - und könnte es theoretisch bei Ebay zu einem höheren Preis verkaufen. Wer es nicht glaubt: auf www.cyclescheme.co.uk kann man es nachlesen.
Es geht aber noch eine Spur absonderlicher, und zwar bei der Besteuerung von Keksen. Kekse, so erzählte mir der LSE-Dozent, sind in Großbritannien von der Mehrwertsteuer befreit. Sie zählen nämlich zu den Grundnahrungsmitteln - ebenso wie Brot, aber auch Kuchen. Nur leider lässt sich aus dem Grundnahrungsmittel “Keks” auch ein Luxusgut machen, nämlich indem man ihn mit Schokolade überzieht. Dann wird auch bei Keksen der volle Mehrwertsteuersatz fällig. Aber die Sache wird noch komplizierter. In Mischpackungen von Keksen, in denen nur ein Teil der Kekse mit Schokolade überzogen ist, geht es um den Anteil dieser Kekse (nach Stückzahl, nicht nach Gewicht) an der Gesamtpackung. Liegt er über 50 Prozent, so ist die volle Steuer zu entrichten. Überwiegen hingegen die Nicht-Schokoladenkekse, dann ist auch die Packung steuerfrei. Dies wäre, so der Dozent, auch der Grund dafür, dass in den Großpackungen von Weihnachtskeksen immer so viele kleine, nicht schokoladenüberzogene Kekse vorhanden wären, die doch eigentlich niemand mag. Nun, wo er es sagte, ergab das plötzlich wirklich Sinn.
So ganz glauben mochte ich meinem Gesprächspartner seine Keksgeschichten jedoch nicht und machte mich daraufhin an die Recherche. Auf einer Seite von HM Revenue & Customs, der Steuerbehörde Ihrer Majestät, bin ich fündig geworden. Dort gibt es tatsächlich eine Durchführungsverordnung (HMRC Reference: Notice 701/14), in der im schönsten Amtsdeutsch, ähm, -englisch natürlich, erklärt wird, wann Lebensmittel mit dem Steuersatz Null und wann mit dem vollen Steuersatz besteuert werden ... und das ist so schön konfus, dass ich den Lesern des Achse des Guten dies nicht vorenthalten möchte.
Die Grundbestimmung über das britische Kekswesen befindet sich in Abschnitt 3.4 der Verordnung, in dem der geneigte Leser wie folgt aufgeklärt wird:
Although most traditional bakery products, such as bread, biscuits and cakes, are zero-rated, some confectionery is standard-rated including:
* biscuits wholly or partly covered in chocolate (or some product similar in taste and appearance); and
* any item of sweetened prepared food, other than cakes and non-chocolate biscuits, which is normally eaten with the fingers.
Der Dozent hatte also Recht: Schokoladenkekse sind ein besteuerungswürdiger Luxus, und Süßzeug, das nicht mit Messer und Gabel gegessen wird, auch.
Es kommt aber noch viel besser, denn es folgt eine Gegenüberstellung von steuerfreien und besteuerten Süßwaren. Steuerfrei ist zum Beispiel “Caramel or “millionaire’s” shortcake consisting of a base of shortbread topped with a layer or caramel and (usually) chocolate or carob”, nicht jedoch “Shortbread partly or wholly chocolate-covered”. Lustig wird es auch bei Kuchendekorationen. Die Grundregel hierfür lautet: “If you sell inedible cake decorations with a cake, such as silvered horseshoes or bride and groom figures with wedding cakes, you do not have to treat your supply as a mixed supply and account for VAT on the decoration unless it is clearly a separate item in its own right. For example, a toy supplied as decoration to a child’s birthday cake which is clearly intended to be kept and played with after the cake has been eaten.” Man kann sich den Bäcker vorstellen, der einen Warnhinweis auf Torten für Kindergeburtstage ausgibt: “Die Dekorationen müssen aus Steuergründen verzehrt werden.” Schokoladenflocken dürfen übrigens steuerfrei verkauft werden, wenn sie klar gekennzeichnet sind “for use as cake decorations only: not for retail sale”.
Meine Liebslingbestimmungen aber sind zweifellos jene für Kekse. Seither weiß ich, dass ein Jaffa Cake (also der Keks mit Orangenfüllung) ein Kuchen und kein Keks und daher steuerfrei ist. Der berühmte Lebkuchenmann ist übrigens normal zu besteuern, jedenfalls, wenn er mit Schokolade dekoriert ist “unless this amounts to no more than a couple of dots for eyes”. Vergeblich habe ich jedoch nach den Regelungen für Schokoladenschaumküsse auf Waffelbasis mit Migrationshintergrund (vulgo: Negerküsse) gesucht. Angesichts der Tatsache, dass die Schokolade vom Volumen her vernachlässigbar erscheint, würde ich jedoch auf eine Steuerbefreiung tippen.
Und so ist mir also auch dieses Vorurteil jäh genommen worden. Großbritannien ist steuerlich auch nicht unkomplizierter als Deutschland. Aber schlimmer noch: Ich werde mir zukünftig keine Schachtel Kekse mehr kaufen können, ohne die Schokoladenstücke darin zu zählen. Wie sagte doch Forrest Gump: “Life’s a box of chocolates, you never know what you’re gonna get.” Eben.