Der Wettstreit um den Vorsitz der britischen Labour-Partei ist in Australien nicht vielen ein Anliegen. Wozu sich in die internen Debatten einer Partei vertiefen, die gerade eine krachende Niederlage bei den Wahlen erlitten hat und sich auf fünf lange Jahre auf der Oppositionsbank einstellen muss?
Politisch interessierten Australiern bietet sich im eigenen Land genug Stoff zum Diskutieren. Zur Auswahl stehen derzeit ein Spesenskandal, das Endspiel um die Homo-Ehe, außerdem die kürzlich zurückgetretene Sprecherin des australischen Repräsentantenhauses und ihr nachgerade sprichwörtliches Pech sogar bei einer Tombola in ihrem Veteranenklub.
Dennoch lassen sich auch aus dem Hauen und Stechen in der Labour-Partei Großbritanniens Lehren ziehen, und zwar nicht allein für die linke Mitte im Königreich, sondern auch für sozialdemokratische Parteien in den Industriestaaten der Welt.
Zur Erinnerung, die Wahlen zum Unterhaus in Großbritannien endeten mit der Wiederwahl David Camerons zum Premierminister – genauer gesagt, mit der Ablehnung seines Gegenkandidaten, des Labour-Vorsitzenden Ed Miliband. Dieser wurde als der am weitesten links stehende Bewerber um das Amt des Premierministers seit Michael Foot beschrieben. Mister Foot war 1983 gegen Margaret Thatcher mit einem Wahlprogramm angetreten, das aufgrund seiner radikal linken und utopischen Forderungen auch als „längster Abschiedsbrief der Geschichte“ bespöttelt wurde.
Selbstgewählte Marginalisierung
Nach der Niederlage Milibands schlussfolgerten die meisten Leitartikler, dass Labour zu weit nach links abgedriftet war und sich nun wieder zur Mitte der britischen Politik hin orientieren müsse: dort, wo Wahlen gewonnen und verloren werden. In der Tat hätte Labour mindestens diese Lektion aus der Wahlniederlage beherzigen sollen. Die von Milibands linksdrehender Rhetorik verschreckten Wähler hatten Labour nämlich keine wirtschaftliche Kompetenz zugetraut. So erklärt sich das erneuerte Mandat für David Camerons Tories, obwohl seine Regierung sicher nicht die beliebteste in der britischen Geschichte ist.
Strategisch gesehen hätte Labour daher nicht lange fackeln sollen. Eine Rückkehr zur früheren Ausrichtung unter Tony Blair und (in geringerem Maße) Gordon Brown wäre angezeigt gewesen – zu einer Zeit, da Labour mit der Marktwirtschaft nicht auf Kriegsfuß stand. Um es mit den Worten des Erz-Blairianers Peter Mandelson zu sagen: Die Partei nahm es „äußerst entspannt, wenn Leute äußerst reich werden“.
Das hätte man durchaus positiv verpacken können: Aufstiegschancen für hart arbeitende Menschen und ihre Familien, die üblichen Schlagworte eben, die Politiker gerne verwenden, wenn sie im Prinzip nichts anderes sagen wollen, als dass sie mit dem Markt arbeiten wollen und nicht gegen ihn. Es wäre für Labour ein erfolgversprechendes Marketing gewesen.
Nun ist es ganz anders gekommen. Um in seiner Partei eine ordentliche Richtungsdebatte anzustoßen, hatte der Labour-Hinterbänkler (und vormals Minister unter Blair) Frank Field gemeinsam mit 34 seiner Parlamentskollegen den am weitesten links stehenden Abgeordneten für den Vorsitz nominiert. In Interviews erklärte Field, dass er eine Entscheidung in seiner Partei über den Umgang mit dem Haushaltsdefizit herbeiführen wollte, indem er die radikal linken Ansichten Corbyns zur Diskussion stellte.
Unglücklich gelaufen
Als jemand, der Field persönlich kennt, war ich über seine (nominelle) Unterstützung für Corbyn offen gestanden verblüfft, denn Frank Field ist eigentlich freien Märkten stärker verpflichtet und auch konservativer als die meisten Tory-Abgeordneten im Unterhaus. Immerhin kann ich verstehen, warum er von seiner Labour-Partei eine Richtungsentscheidung erwartete.
Zum Leidwesen Fields und der Labour-Partei ist diese Strategie nach hinten losgegangen. Auf einmal liegt Corbyn im Rennen um den Labour-Vorsitz vorne. Manche Umfragen geben ihm 53 Prozent der Stimmen, mehr als 30 Prozentpunkte vor seinem schärfsten Rivalen.
Was Corbyn anbietet, lässt Miliband und Foot vergleichsweise moderat aussehen. Er will Teile der britischen Wirtschaft wieder verstaatlichen, aufgelassene Kohlebergwerke wieder in Betrieb nehmen, die staatlichen Ausgaben erhöhen und engere Bindungen zu Russland eingehen. Kurz gesagt, ein wiedergeborener Sozialismus, der die Herzen eingefleischter Labour-Aktivisten und Gewerkschafter erwärmt, aber alle anderen abschrecken wird.
Dieses Problem hat übrigens nicht nur Corbyn, sondern haben ebenso auch viele andere linke Parteien weltweit. Sozialdemokratische Parteien haben nicht nur vieles von dem erreicht, das sie sich auf die Fahnen geschrieben hatten: Arbeitnehmerrechte, Gleichberechtigung der Frau und ein soziales Sicherheitsnetz. Die Kernforderungen der Mitte-Links-Parteien vor einem Jahrhundert sind allesamt Realität geworden. Mehr noch, ihre traditionellen Positionen sind mittlerweile von den Mitte-Rechts-Parteien in den eigenen Bestand übernommen worden.
Quo vadis, Sozialdemokratie?
Von hier an wird es aber für viele Sozialdemokraten schwierig. Wohin wollen sie nach so vielen historischen Erfolgen? Geben sie sich mit verwelktem Lorbeer zufrieden und orientieren sich zur politischen Mitte hin? Solch eine Strategie kann Wahlerfolge zeitigen, wie bei Tony Blair (1997), Gerhard Schröder (1998) und sogar bei dem selbsternannten „fiskalischem Konservativen“ Kevin Rudd (2007).
Die Herzen der Labour-Wähler erreicht man aber mit solch einer mittigen Positionierung nicht. Das macht sich Jeremy Corbyn zunutze. Er verspricht das Gegenteil von allem, das seine Partei bei breiteren Schichten hätte wählbar machen können. Stattdessen achtet er darauf, Labour von den Gegnern klar unterscheidbar zu machen. So bedient er gefühlige Genossen, deren Herz links schlägt und die daher auch lieber links als vernünftig sein wollen.
Falls Corbyn tatsächlich der neue Parteivorsitzende von Labour wird, braucht seine Partei sich gar keine Hoffnung machen, die nächsten Unterhauswahlen 2020 gewinnen zu können. Für Labour stünde eine Zerreißprobe an. Viele wichtige Parteispender haben bereits erklärt, eine von Corbyn geführte Partei nicht mehr unterstützen zu wollen. So stellt sich die Frage, warum Labour einen solchen Kandidaten überhaupt in die engere Wahl zieht.
Der Grund ist, dass die linke Mitte nicht nur in Großbritannien verzweifelt ein neues erzählerisches Rahmenwerk – ein neues Narrativ – sucht, um wieder Wahlen gewinnen zu können. Die alten sozialistischen Narrative appellieren an die Nostalgie der Traditionalisten, aber sie ziehen keine neuen Wähler an. Mit zentristischen Narrativen dagegen gewinnt man nicht die Herzen der eingefleischten Mitglieder und Unterstützer. Sie klingen auch kaum anders als die Narrative der Konkurrenz von Mitte rechts.
Linke Parteien brauchen ein eigenes, mehrheitsfähiges Narrativ, das den Markt nicht verdammt und trotzdem fortschrittlich klingt. Darin würde der Freiheit des Einzelnen Vorrang vor der Macht des Staates gegeben.
Jeremy Corbyn ist dafür völlig ungeeignet. Er dient als Anschauungsbeispiel dafür, wie die linke Mitte mangels neuer Ideen Zuflucht in der Vergangenheit sucht. Das wird nicht funktionieren – weder in Großbritannien noch irgendwo sonst.
Dr. Oliver Marc Hartwich ist Executive Director der The New Zealand Initiative.
‘The problem with the centre left’ erschien zuerst in Business Spectator (Melbourne), 13. August 2015. Übersetzung aus dem Englischen von Eugene Seidel (Frankfurt am Main).