Er hat uns alle ein neues Zeitgefühl gelehrt – oder besser: ein Gefühl von Zeitlosigkeit in der Politik. Allein die Dauer seines Regierens grenzte ans Unendliche. Es gibt Menschen in diesem Land, die unter seiner Kanzlerschaft die Grundschule besuchten, aufs Gymnasium wechselten, das Abitur machten, ein Studium begannen, das Studium beendeten, und als sie sich verheirateten, war Kohl noch immer Kanzler. Er war länger im Amt als Adenauer; schon deshalb ist das Thema Zeit ein Signum seiner politischen Erscheinung. Zeit war aber auch ein Merkmal seiner politischen Methode: das berühmte Aussitzen von Problemen, das Fortkommen durch Nichtstun beruhte auf einem geradezu naturgewaltigen Zutrauen in die eigene Dauerhaftigkeit sowie in die Kurzatmigkeit sämtlicher Gegner.
Kohl war ein Garant für Langeweile, er brauchte fünfmal so lang wie der schnittige Schmidt, um einen Gedanken zu formulieren, schon sein Anblick war so unerträglich, daß er einem immer länger vorkam, als er in Wirklichkeit dauerte. Aber dann, nach ein paar Jahren mit diesem zähflüssigen Provinzler erkannten wir, daß er dem Land irgendwie guttat, und zwar gerade wegen der gediegenen Zeitvernichtung, die er veranstaltete. Gesegnet ein Land, das keine anderen Sorgen hat, als einfach so dahinverwaltet zu werden. Wir lernten den ruhigen Fluß der Zeit als eine Form des Glückes in der Politik zu schätzen: keine Not, kein Krieg, keine Revolution, bloß „kollektiver Freizeitpark“, internationale Friedensarbeit und kleinere Reförmchen.
Dann aber kam ein Epochenbruch, den zu bewältigen man diesem Kohl-Koloß in seiner ganzen Unbeweglichkeit nicht zugetraut hätte. Doch er hat es wieselflink gemeistert. Er hat in der Sternstunde seines Lebens die Weltgeschichte bei den Hörnern gepackt, und keinem seiner Kritiker war es vergönnt, jemals zu zeigen, daß sie es besser gekonnt hätten. Das relativiert ihre Anwürfe nicht nur, es macht sie irrelevant. In diesem Punkt beherrscht der Dauer-Kanzler sogar die Ewigkeit.
Schließlich aber hatte auch sein reichlich unwürdiger Abgang etwas mit der Dimension der Zeit zu tun. Denn bekanntlich hielt er sein gegebenes Ehrenwort länger als es für einen agilen Agenten öffentlicher Stimmungen opportun war. Man mag über die politische, juristische und menschliche Bewertung dieses zwielichtigen Ehrenworts ruhig streiten. Angesichts der üblichen Halbwertszeit von Politikerworten im Allgemeinen, hat Kohl jedenfalls einen Rekord an Gültigkeitsdauer aufgestellt. Das bleibt beeindruckend.