Sell, sell, sell!! Buy, buy, buy!!
Die Wirtschaftszeitschrift „The Economist“ veröffentlichte im November 1997 eine Karikatur auf der Titelseite, die das Verhalten von Börsenmaklern und die Basis ihrer Informationen aufs Korn nahm: Ein Händler spricht ins Telefon: „I’ve got a stock here that could really excel.“ Ein anderer Händler lauscht und fragt: „Excel?“ Ein dritter hört anscheinend nicht genau zu und wundert sich: „Sell?“ Ein weiterer fragt drängend nach „SELL?“ Kurz darauf schreien alle hysterisch durcheinander „sell, sell, sell!! Schließlich sagt ein Händler verärgert: „This is madness. I can’t take any more. Good bye.“ Wieder lauscht jemand und fragt sich: „Bye?“ Ein weiterer fragt nach: „Buy?“ Und in Kürze brüllen alle „buy, buy, buy!!“ Man kann sich der eindringlichen Komik der Zeichnung kaum entziehen. Allein die absurd verzerrten Gesichter der ausrastenden Börsenmakler reizen zum Lachen. Es ist kaum zu beschreiben, man muss es einfach sehen.
Die Szene erinnert ein wenig an den Umgang weiter Teile der Öffentlichkeit mit Wahlumfragen. Allmählich rückt der Termin der Bundestagswahl näher, und wie immer im Wahljahr füllt sich die Presse zunehmend mit Artikeln über die Umfrageforschung, von denen nicht wenige von einer derartigen Ahnungslosigkeit geprägt sind, dass es schon wieder lustig ist. Kürzlich erschien in der „Wirtschaftswoche“ ein Artikel, in dem die Autoren in belehrendem Tonfall erläutern, dass sie die Qualität der Arbeit von Umfrageinstituten testen wollen, indem sie die vier Monate vor der Wahl veröffentlichten Umfragen mit dem Wahlergebnis vergleichen. Offenbar sind sie nicht auf den Gedanken gekommen, dass sich das politische Klima in einem Vierteljahr ändern kann.
Schön sind immer auch die verlässlich auftretenden Hinweise auf Wahlbörsen. Sicherlich wird man bald wieder lesen können, dass diese doch viel genauere Prognosen ermöglichten als die Umfragen - als würden die Teilnehmer dieser Veranstaltungen ihre Investmententscheidungen nicht auf der Grundlage der Umfragen fällen.
Ein fester Bestandteil des Spiels war jahrzehntelang auch der Wuppertaler Statistikprofessor Fritz Ulmer, der in jedem Wahljahr auftauchte und in großen Artikeln verkündete, dass Wahlumfragen generell nicht funktionieren könnten. Dann kam die Wahl, die Umfragen erwiesen sich als korrekt und Professor Ulmer verschwand wieder aus der Öffentlichkeit um vier Jahre später mit der gleichen, von den Redaktionen erneut eifrig aufgesogenen Behauptung zurückzukehren. 2009 hörte man dann überraschenderweise nichts von ihm, und auch in diesem Jahr ist er noch nicht in Erscheinung getreten. So langsam mache ich mir Sorgen. Hoffentlich ist ihm nichts passiert.
Doch alles das ist nichts verglichen mit dem Eifer, mit dem in praktisch allen Redaktionen Zufallsschwankungen von Umfragen mit scheinbar tiefsinnigen Begründungen unterfüttert werden. Repräsentativumfragen sind wie ein Fotoapparat, der sich nie ganz scharf stellen lässt. Sie geben das Meinungsbild der Gesellschaft in seinen grundlegenden Proportionen sehr verlässlich wieder, doch es bleibt aus Gründen der statistischen Logik immer eine Ungenauigkeit von etwa zwei Prozentpunkten übrig. Wenn eine Umfrage heute die CDU bei 38 Prozent sieht und nächste Woche bei 40 Prozent, bedeutet das erst einmal gar nichts. Der Unterschied kann einfach Zufall sein. Nur wenn das Ergebnis noch eine weitere Woche später bei deutlich über 40 Prozent liegt, kann man anfangen, von einer echten Veränderung der Lage zu sprechen.
Eigentlich wissen das die meisten Journalisten auch, denn viele von ihnen haben eine sozialwissenschaftliche Ausbildung genossen, und der Hinweis auf die Fehlertoleranzen von Umfragen gehört zu den viel geübten Routinen der Berichterstattung. Doch die werden dann bei der Interpretation der Daten gleich wieder vergessen. So wimmelt es im Wahljahr von Meldungen wie „Union verliert einen Punkt“, Piraten gewinnen ein Prozent, FDP" target="_blank" >http://www.welt.de/print/welt_kompakt/print_politik/article114455882/Politik-Kompakt.html">FDP verbessert sich um einen Punkt, Grüne klettern um einen Prozentpunkt. Es ist wie bei der Börsenbeichterstattung: Die Aktie eines Unternehmens verliert 0,2 Prozent, und ein Fernsehexperte weiß ganz genau, warum das so ist. Am nächsten Tag gewinnt die Aktie 0,2 Prozent, und derselbe Experte kann natürlich auch diese Veränderung sehr einleuchtend begründen. Tatsächlich ist das alles Unsinn. Es ist nichts als das tägliche Börsengeschrei: „Sell, sell, sell! Buy, buy buy!!“ Wahlumfragen sind ein äußerst nützliches Instrument. Sie helfen einem, die politische Lage zu verstehen und die Motive der Wahlentscheidung zu analysieren. Doch wer glaubt, täglich aufgeregt zufällige Messschwankungen kommentieren zu müssen, trägt nichts zur Volksbildung bei. Er füllt nur die Zeitungsseiten mit heißer Luft.
Dr. Thomas Petersen ist Projektleiter beim Institut für Demoskopie Allensbach